Der Fall Gil Ofarim hat einen zentralen Aspekt, über den keiner mehr reden mag. Er erzählt von leichtfertiger Vorverurteilung der betroffenen Hotelmitarbeiter und Gäste durch Medien, Politik und talkende Klasse. Wenn etwas politisch in den Kram passt, gibt es in diesem Land kein Halten und keine Unschuldsvermutung mehr. Erinnerungen an eine Pressehatz.
Anfang Oktober 2021 hatte der Popsänger Gil Ofarim gerade ein Video ins Netz gestellt, in dem er sich selbst präsentierte. Man sah ihn, wie er vor dem Grand-Westin-Hotel in Leipzig abends auf dem Bürgersteig saß und mit Tränen in den Augen erzählte, dass er soeben in dem Haus in der Schlange beim Empfang abgewiesen worden sei. Mit den Worten, er solle erst mal sein Halskettchen mit dem Davidstern abnehmen, dann werde man ihn einchecken, vorher nicht. Das Video ging viral durchs Netz, Millionen haben es gesehen, auch im Fernsehen. Der beschuldigte Hotelmitarbeiter bestritt die Darstellung heftig, das Hotel versprach Aufklärung. Es stand Aussage gegen Aussage. Jetzt, zwei Jahre später, am Dienstag, 28. November, gestand Ofarim im Zuge eines Gerichtsverfahrens ein, dass er sich seine schweren Anschuldigungen einfach ausgedacht hatte.
Vor zwei Jahren weiß außer den unmittelbar Beteiligten keiner, was tatsächlich in der Hotel-Lounge geschehen war. Doch in der Öffentlichkeit ist sofort der Teufel los. Keiner, der sich da äußerte, will die Klärung des Falles abwarten. Das Hotel und der Manager am Pult werden in den folgenden Tagen mit einem beispiellosen Shitstorm überzogen. Presse, Funk und Fernsehen greifen den Fall prominent auf. Die Politik in Bund und Land ebenso.
Justizministerin Katja Meier zieht bei Twitter mal eben über eines der großen Hotels in der größten Stadt des von ihr regierten Bundeslandes her: „Dieser offene #Antisemitismus im Hotel #Westin in #Leipzig ist unsäglich und unerträglich. Das muss Konsequenzen haben.“ Ihr Kollege Wirtschaftsminister Martin Dulig, dessen Aufgabe sein sollte, Schaden von den Unternehmen des Landes – auch von Hotels – abzuwenden, berichtet von seiner Wut über das Geschehene, und ist sich sicher, dass er für die übergroße Mehrheit der Menschen in Sachsen spreche, wenn er sich stellvertretend für die antisemitische Demütigung entschuldige.
„Leipzig ist kein Einzelfall“
Bundesaußenminister Heiko Maas schreibt: „Leipzig ist kein Einzelfall.“ Die Süddeutsche Zeitung berichtet von der „Entsetzlichkeit der Geschehnisse im Leipziger Westin-Hotel“, die niemand überraschen dürften. Der Spiegel: „Alles sieht nach einer antisemitischen Alltagspöbelei aus.“ Für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist es ein „unfassbarer Fall vom Antisemitismus. Eine rasche Antwort des Hotels ist überfällig. Aus unserer Sicht kann das nicht folgenlos bleiben“.
Dass das Hotel seinen Mitarbeiter sofort vom Counter abgezogen und eine rasche Aufklärung des Falles angekündigt hatte, wird als Antwort nicht akzeptiert. Am Abend des folgenden Tages kommt es zu einer Demonstration mit vielen hundert Teilnehmern, die auch vor das Hotel zieht. Das Hotel berichtet von zahlreichen Stornierungen gebuchter Zimmer. International prominente regelmäßige Gäste veröffentlichen ihre Protest-Botschaften an das Grand Westin. Der Pianist Igor Levit schreibt: „Shame on you.“ Ein immenser Schaden für das Renommee des Hotels deutet sich an.
Die Forderung nach Ermittlungen darüber, was geschehen ist, wird bei den vielen, die sich äußern, nicht mehr als Hilfe zur Entscheidungsfindung für etwaige Konsequenzen gestellt, sondern nur noch als Floskel eingebaut. Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas, sagt: „Wir fordern eine lückenlose Aufklärung und [herv. ulk] personelle Konsequenzen.“ Die Anschuldigungen an das Hotel reichen einigen nicht. Beschuldigt werden pauschal auch die anderen Gäste des Hauses, wenn die Mitteldeutsche Zeitung laut klagt, „dass niemand eingegriffen hat, als ein Hotel-Mitarbeiter Gil Ofarim aufgefordert hat, den Davidstern abzulegen. Dass alle Umstehenden es in diesem Moment offensichtlich für selbstverständlich gehalten haben, im Deutschland des Jahres 2021 einen Juden diskriminieren zu können. Eine Entschuldigung des Hotels und personelle Konsequenzen sind deshalb das Mindeste, was nun folgen muss“. Einen Tag später fühlt sich dieselbe Zeitung veranlasst, noch was draufzusetzen, irgendwie, irgendwas: „Nicht weniger erschreckend als der Vorfall an sich ist aber, dass er sich überhaupt zutragen konnte.“
Der seit langem größten Rohrkrepierer
Bemerkenswert in all dieser Pressehatz ist ein Beitrag im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, der am 6. Oktober als Aufmacher-Artikel unter der Balken-Überschrift: „Grand Hotel Abgrund“ erscheint. Darin kommt der Historiker und Holocaust-Forscher Frank Bajohr sehr ausführlich zu Wort, mit Vergleichen zwischen den Geschehnissen im Grand Westin und denen in Hotels am Vorabend von 1933, die damit geworben hatten, dass sie „judenfrei“ seien. Er gesteht den Mitarbeitern des Leipziger Hotels sogar zu, dass sie vielleicht gar keine glühenden Antisemiten seien müssen, sondern sich unter Umständen „bestenfalls (und wirklich nur bestenfalls)“ schlicht so dachten „wie ihre Kolleginnen und Kollegen damals – und so fassten sie ein jüdisches Symbol als potenzielle Provokation für sich und ihre Gäste auf. ‚Deutschland 2021‘.“
Da wird einem der größten Leipziger Hotels nebenbei unterstellt, es wolle („bestenfalls“) seinen Gästen keine Juden auf den Fluren und im Frühstücksraum zumuten. Weil es dem bestenfalls verzogenen Sohn des israelischen Star-Sängers Abi Ofarim in der Schlange beim Hotel-Eincheck zu langweilig wurde? Oder weil er sich in seiner vermeintlichen Prominenz nicht wahrgenommen gefühlt fand?
Auch mit dem angeblich abgewiesenen Sänger sprach der SZ-Autor noch mal für den Beitrag und zitiert ihn: „Ofarim hat vor allem eine Bitte: ‚Dass jetzt etwas passiert, dass der Wahnsinn nicht umsonst war und die Aufregung nicht einfach wieder verpufft.‘ Er habe Glück, dass er so eine Reichweite habe. ‚Andere haben die nicht und gehen unter. So kann das nicht weitergehen.‘“ Hier will sich Ofarim, angeblich prominent, im Kampf gegen den Antisemitismus in die erste Reihe einordnen – und löst damit den seit langem größten Rohrkrepierer aus. In einem der derzeit wichtigsten zu bearbeitenden gesellschaftlichen Felder. Sehenden Auges? Dummheit, Narzissmus, Eitelkeit eines Möchtegern-Stars?
Ist jetzt also alles gut?
Eines kann man dem Popmusiker nicht vorwerfen: Als er Anfang Oktober 2021 beim Einchecken sein Lügengebäude hochzog, da konnte er beim besten Willen nicht ahnen, in was für eine eskalierte Stimmung in Sachen Antisemitismus zwei Jahre später die Aufklärung seines „Falles“ hineinplatzen würde, wie sie heute herrscht, da sich seit Wochen antisemitistische Kundgebungen in Europa und auch in Deutschland häufen wie nie zuvor. Doch jetzt ist es nun mal so, damit muss er leben. Umso schwerer wiegen deshalb dieser Tage die Vorwürfe, er erweise dem Kampf gegen den Antisemitismus einen „Bärendienst“, wie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, schon befürchtete, als sich diese Wendung von Ofarims Geschichte im vergangenen Jahr abzeichnete.
Der Richter stellte nach Ofarims Geständnis das Verfahren gegen eine Geldbuße von 10.000 Euro ein und sagte: „Die Chance auf einen befreiten Neustart ist sein Gewinn.“ Ofarim entschuldigte sich bei dem Manager jenes renommierten Hotels, den er mit jenem ungeheuren Vorwurf überzogen hatte, er habe einen Juden nicht einchecken wollen und dessen Job er dadurch ohne Grund willentlich gefährdet hatte (tatsächlich hat der Mann von sich aus die Arbeitsstelle verlassen). Ist jetzt also alles gut?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Allerdings gäbe es, wie geschildert, eine ganze Menge weiterer Menschen, bei denen Ofarim allen Anlass hätte, um Entschuldigung zu bitten. Und zwar auch deshalb, weil diese sich jetzt wiederum bei anderen entschuldigen müssten, nachdem sie sich Ofarims Anschuldigungen unbesehen zu eigen gemacht hatten und dann auch über das Hotel, seinen Manager und seine Gäste lautstark und voller Inbrunst hergezogen sind. Und zwar ohne nur die erste weitergehende Faktenlage oder gar Ermittlungen zu dem Fall abzuwarten. Einige Protagonisten aus Politik und Journalismus, so ist jedenfalls zu hoffen, haben ihre Lehren aus der Causa Ofarim gezogen.
Der Vorfall und sein Ausgang sind ein Lehrstück darüber, wie man tunlichst nicht mit unbewiesenen Vorwürfen Einzelner umgehen sollte, deren tatsächlichen Wahrheitsgehalt nur derjenige, der sie geäußert hat, und der Adressat kennen. Dies betrifft nicht nur den Antisemitismus, auch Vorwürfe im Bereich des Rassismus. Oder auch des Sexismus, Kachelmann lässt grüßen.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.