Von Rainer Grell.
Die demokratischen Parteien CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke mögen sehr verschieden sein in Programmatik und Zielsetzung. In einem Punkt sind sie sich alle einig: Mit den Schmuddelkindern von der AfD spielen wir nicht. Das hat Mutti uns verboten. Da könnten unsere weißen Demokraten-Westen braune Flecken bekommen. So etepetete waren die etablierten Parteien nicht immer.
So haben CDU/CSU und SPD (wenn auch mit Gegenstimmen) einen ehemaligen Nazi (NSDAP-Mitglied seit 1933) zum Bundeskanzler gekürt. Da hat ein Kommentator der Nürnberger Rassegesetze als Chef des Bundeskanzleramtes fungiert, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied wurde Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, und ein „furchtbarer Jurist“ (Rolf Hochhuth) nahm auch nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident noch viermal (1979, 1994, 1999 und 2004) als Mitglied der Bundesversammlung an der Wahl des Bundespräsidenten teil. Diese Aufzählung ließe sich noch eine Weile fortsetzen, aber auch so ist klar: Berührungsängste hatten die „bürgerlichen“ Parteien nicht. Die Grünen und die Linke sind hier nur deshalb fein raus, weil sie erst auf der politischen Bühne der Bundesrepublik erschienen, als die Altnazis schon in Rente waren. Umso mehr legen sie sich gegen die tatsächlichen und angeblichen Neonazis ins Zeug. Denn: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen“ (Johannes Gross).
Dabei scheuen sie auch nicht vor krasser Wahrheitsverdrehung zurück, wenn die Tatsachen nicht schlagkräftig genug erscheinen. Zwar wissen wir von Jean-François Revel: „Die allererste aller Kräfte, die die Welt regieren, ist die Lüge.“ Aber wenn diese einem so unmittelbar im politischen Alltag begegnet, ist man doch überrascht. Da gibt die promovierte Chemikerin und als solche 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz für ihre Beteiligung an der Entwicklung eines neuartigen Kunststoffs ausgezeichnete Bundesvorsitzende der AfD dem Mannheimer Morgen ein Interview, dessen hier interessierende Passagen lauten:
Was passiert, wenn ein Flüchtling über den [Grenz-]Zaun klettert?
Petry: Dann muss die Polizei den Flüchtling daran hindern, dass er deutschen Boden betritt.
Und wenn er es trotzdem tut?
Petry: Sie wollen mich schon wieder in eine bestimmte Richtung treiben.
Noch mal: Wie soll ein Grenzpolizist in diesem Fall reagieren?
Petry: Er muss den illegalen Grenzübertritt verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.
Es gibt in Deutschland ein Gesetz, das einen Schießbefehl an den Grenzen enthält?
Petry: Ich habe das Wort Schießbefehl nicht benutzt. Kein Polizist will auf einen Flüchtling schießen. Ich will das auch nicht. Aber zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt. Entscheidend ist, dass wir es so weit nicht kommen lassen und über Abkommen mit Österreich und Kontrollen an EU-Außengrenzen den Flüchtlingszustrom bremsen.
Frau Petry beruft sich also auf ein Gesetz. Welches sagt sie nicht, und die beiden Interviewer fragen auch nicht danach. Stattdessen halten sie ihr in bester „investigativer“ Manier den durch die SED kontaminierten „Schießbefehl“ an der deutsch-deutschen Grenze vor. Petry hat diesen Begriff nicht benutzt und betont, dass sie nicht will, dass Polizisten auf Flüchtlinge schießen, dass das Gesetz dies aber zuließe.
Diese Rechtsauffassung ist „irrig“, wie Juristen in einem solchen Fall sagen. § 11 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) behandelt eine andere Fallgestaltung und § 12 Abs. 3 schließt den Schusswaffengebrauch bei Personen im Kindesalter ausdrücklich aus. Das jemand ein Gesetz falsch auslegt, passiert in unserem Rechtsstaat ständig, wie man in unzähligen Berufungs- und Revisions-Urteilen nachlesen kann. Aber noch niemand ist deshalb auf die Idee gekommen, den Instanzen, deren Urteile aufgehoben wurden, zu unterstellen, sie wollten „den Rechtsstaat aushebeln“ - wie der stellvertretende Bundesvorsitzenderder Gewerkschaft der Polizei Petry und ihrer Parteifreundin Beatrix von Storch vorwarf.
Und jetzt stürzen sich Politiker jeder Couleur auf die Sünderin und praktizieren den „Aufstand der Anständigen“ (Gerhard Schröder): Mit „ihrer Forderung nach dem Schießbefehl“ habe sie sich „endgültig vom Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ entfernt. „Eine solche Person ist nicht würdig, Trägerin einer Verdienstauszeichnung unseres Staates zu sein“, betonte der Generalsekretär der Berliner CDU. Der Berliner SPD-Bundestags-Abgeordnete Swen Schulz sieht das genauso: „Für meine Begriffe hat sich Frau Petry durch ihre menschenverachtende Äußerung disqualifiziert, solch eine Würde zu tragen!“ (wegen dieser Würde verweise ich auf meine Ausführungen „Orden, Orden, Orden“: http://tinyurl.com/grell-orden).
„Der letzte deutsche Politiker, der auf Flüchtlinge schießen ließ, war Erich Honecker. Frauke Petry hat sich politisch vollends verirrt“, sagte Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann, vormals Richter am Verwaltungsgericht. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt erklärte in einer Mitteilung: „Frauke Petry offenbart die hässliche Fratze der AfD.“ Es zeige sich, dass die AfD eine zutiefst rassistische, diskriminierende und menschenverachtende Partei sei. „Hohe Stacheldrahtzäune an den Grenzen und Grenzpolizisten, die auf Flüchtlinge schießen, gehören nicht zu einem freien, demokratischen und rechtsstaatlichen Deutschland.“ Wer es nicht wissen sollte: Göring-Eckardt engagiert sich in der evangelischen Kirche.
Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Jan Korte, nannte die Aussagen der AfD-Vorsitzenden „inhuman, verroht und antidemokratisch“. Sie legten den Schluss nahe, „dass sich Frauke Petry in Nordkorea sicherlich sehr wohl fühlen würde.“ Die FAZ kommentierte die Petry-Äußerung so: „Bisher haben aber nur führende AfD-Politiker gefordert, Flüchtlinge nach dem Vorbild der DDR zu erschießen.“
Als dagegen der CDU-Ministerpräsident von Sachsen angesichts eines Brandanschlags auf ein als Flüchtlingsunterkunft vorgesehenes Gebäude in Bautzen urteilte: „Das sind keine Menschen, die so was tun. Das sind Verbrecher. Widerlich und abscheulich ist das“, da blieb der „Aufstand der Anständigen“ aus. Kein Aufschrei in den Medien. Focus brachte die Schlagzeile „Tillich schockiert über rechte Gewalt in Sachsen: ‚Das sind keine Menschen‘“. Lediglich Ulrich Clauss fragte in der „Welt“: „Was sind sie dann? Und was soll aus dieser Unterscheidung folgen?“ Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was wohl passiert wäre, wenn eine solche Äußerung von einem AfD-Mitglied gekommen wäre.
Man wirft den Parteien bei Wahlen ja immer wieder vor, dass sie hinterher etwas anderes machen, als sie vorher versprochen haben. Dieser Vorwurf ist bezüglich einer Regierungsbeteiligung der AfD nicht zu erwarten. Vor den drei Landtagswahlen am 13. März haben alle eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen und gleichzeitig betont, dass selbstverständlich alle demokratischen Parteien grundsätzlich koalitionsfähig seien. Die AfD ist demnach keine demokratische Partei und ist in Sachsen-Anhalt vermutlich nur deshalb von 24,2 Prozent gewählt worden, weil man diese Leute vorher nicht richtig aufgeklärt hat.
Bei der Partei dagegen, die derjenigen nachgefolgt ist, die für den Schießbefehl an Mauer und Stacheldraht tatsächlich verantwortlich war - infolge dessen 270 Menschen getötet wurden laut Zählung der Berliner Staatsanwaltschaft, die ausschließlich die Todesfälle erfasst, die nachweislich auf einen Gewaltakt der Grenzsicherungskräfte der SBZ/DDR zurückgeführt werden können, Stand: 9. Juni 2000 - bestehen solche Koalitions-Hemmungen nicht. Sie ist in allen Parlamenten der Länder der früheren DDR sowie in Hamburg, Bremen, Hessen sowie im Saarland vertreten, stellt in Thüringen den Ministerpräsidenten in einer rot-rot-grünen Koalition und koaliert in Brandenburg mit der SPD. Ebenfalls mit der SPD hat sie eine Zeitlang in Mecklenburg-Vorpommern (dort von 1998 bis 2007/2008 noch als PDS) und Berlin (von 2002 bis 2011, bis zur Umbenennung 2007 ebenfalls noch als PDS) die Regierung gebildet.
Dabei hatte Kurt Schumacher seinen Genossen doch hinterlassen: „Kommunisten sind rotlackierte Faschisten.“