Es ist wie verhext. Bis hoch zum UNO-Generalsekretär ermahnt man die Libanesen im Mai 2008, nicht wieder einen Bürgerkrieg à la 1975-1990 zu beginnen. Und doch verausgaben sich fast alle Mächtigen der Erde einmal mehr viel zu überstürzt für einen Schauplatz, auf dem das große Töten dann doch wieder ausbleibt. Gewiss, wer würde nicht Klage führen über fast achtzig Opfer in sieben Tagen in und um Beirut? Aber im Bürgerkrieg gab es monatlich 1000 Gefallene und das über fünfzehn Jahre hinweg. Um sich die ungeheure Wucht der 150.000 Toten von damals zu verdeutlichen, muss man sie auf die Einwohnerzahl Deutschlands übertragen. Etwa 4,3 Millionen Särge zusätzlich hätte man hier zwischen 1975-1990 benötigt. Warum erwartet, ja beschwört die Weltgemeinschaft immer wieder ein massives Morden in der Levante?…
Denn schon nach dem Attentat auf den Wiederaufbau-Premier Hariri im Februar 2005 sollte es losgehen, dann im April 2005 nach dem Abzug der Syrer, danach im Sommer 2006 nach Irans Hisbollahkrieg gegen Israel oder im November 2006 nach der Ermordung des Industrieministers Pierre Gemayel und schließlich im Mai 2007 nach den Kämpfen der Armee gegen Al Qaida und Palästinenser in Nahr el Bared bei Tripoli.
Weil all diese Gewaltakte zwischen Angehörigen rivalisierender Bekenntnisse ablaufen, sehen sich immer wieder diejenigen Experten im Recht, die den Libanon als Raum endemischer Religionskriege einordnen, der 2005 oder 2008 genau so explodieren könne wie 1975. Das wirkt oberflächlich einleuchtend. Denn die Muslime teilen sich in Schiiten, Sunniten, Drusen, Alewiten, und Ismaeliten, während die Christen mit Maroniten, Melkiten, Syrern, römischen Katholiken und zwei armenischen Richtungen noch zerrissener ausschauen. Doch all diese Glaubensrichtungen gibt es vor dem Töten, während des Tötens und auch nach dem „Abkommen nur nationalen Versöhnung“ von 1989. Für andere Ärgernisse wie Einkommensdifferenzen, Korruption und Zugänge zur Macht gilt dasselbe. Auch diese Anlässe für Streit existieren vor, während und nach den Massakern.
Gibt es einen Faktor, der vor dem Bürgerkrieg wirkt, seitdem aber schwindet und für das Austragen von Waffengängen einschlägig ist? Durchaus! Die Zwanzigjährigen, die 1975 in die Kämpfe eingreifen, werden 1955 geboren, als die Frauen im Libanon sechs Kinder aufziehen. Die 1985 Nachrückenden kommen aus dem Jahr 1965, in dem die Libanesinnen fast sieben Kinder haben. Aber im Jahre 2005, als erstmals ein neuer Bürgerkrieg ausbrechen soll, hätten die 1985 Geborenen antreten müssen. In diesem Jahr jedoch gibt es pro Libanesin nur noch drei bis vier Kinder, also statistisch weniger als zwei Söhne. Im Jahre 2008 gelingt den Libanesinnen mit 1,87 Kindern pro Frauenleben nicht einmal mehr die Nettoreproduktion von 2,1. Statistisch haben die Familien weniger als einen Sohn. Das Durchschnittsalter des Landes liegt bei 29 Jahren und nicht mehr bei hitzigen 15 oder 16 wie 1975 und 1985.
Während des Bürgerkrieges kämpft ein Land, das über 35 Prozent seiner männlichen Einwohner im kritischen Alter von 15 bis 29 Jahren hat und in dem um eine Position drei junge Männer konkurrieren. Bei so geringen Aussichten wird der gewaltsame Aufstieg und selbst ein Heldentod zur Option, für die man jede ansonsten zivil debattierte Ungerechtigkeit begierig als Rechtfertigung fürs Losschlagen aufgreift. Immer wieder drängen zweite, dritte und vierte Wellen nach, die den vorderen Linien Druck machen, nur ja nicht feige zu sein und endlich anzugreifen. Heute jedoch schießen kleine Verbände, hinter denen kaum noch jemand nachrückt, wenn die Armee zum Gegenangriff übergehen sollte. Dankbar akzeptieren diese Petrodollar-Djangos den Abzugsbefehl als Vorwand für das Retten ihrer Haut. Die Experten schließen daraus, dass „diesmal“ die regulären Truppen stark genug seien, um Schlimmeres zu verhindern. In Wirklichkeit mag die Armee kaum stärker sein als 1975. Aber die nach Hunderttausenden zählenden paramilitärischen Truppen, gegen die sie keine Chance hatte und auch jetzt nicht hätte, werden im Libanon überhaupt nicht mehr geboren. Vereinzelte Anschläge werden auch in Zukunft erfolgen und selbst die Macht könnte neu verteilt werden. Aber der immer wieder prophezeite umfassende Blutrausch fällt wegen Personalmangels aus.