Vera Lengsfeld / 07.01.2013 / 10:30 / 0 / Seite ausdrucken

Wie wird man Schwabenhasser?

Wolfgang Thierse macht immer mal wieder Schlagzeilen. Aber je länger seine Politikerkarriere dauert, desto weniger ist von politischen Erfolgen des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages die Rede, sondern von merkwürdig anmutenden Grenzüberschreitungen. Mal lässt er sich von Polizisten wegtragen, weil er glaubt, sein Engagement gegen den Rechtsextremismus mit illegalen Sitzblockaden gegen genehmigte Demonstrationen bewiesen zu müssen. Oder er mischt sich in die Debatte um den Wochenmarkt vor seiner Haustür ein, der ein Magnet für Berliner aller Couleur und Touristen ist, einigen Anwohnern des Kollwitzplatzes, zu denen Thierse seit vierzig Jahren gehört, aber ein Dorn im Auge.  Und jetzt schürt er Ressentiments gegen die Neubürger im Prenzlauer Berg. Immer vergreift er sich dabei im Ton. Etwa, wenn er der sächsischen Polizei vorwirft, dass sie ihre verfassungsmäßige Pflicht tut und die Versammlungsfreiheit garantiert. Es ist nicht nur grenzwertig, es ist ungehörig, wenn man als Bundestagsvizepräsident demonstrativ die Gesetze missachtet und sich gegen die Polizei stellt. Es ist unangemessen, Öl ins Feuer eines kleingeistigen Hasses selbsternannter „Alteingesessener“ gegen Neubürger zu gießen, eben weil dieser Haß schon zu Brandanschlägen auf Kinderwagen, Autos und Restaurants geführt hat. Es ist ein Regelbruch, wenn der Vizepräsident des Bundestages mit seinem Briefkopf auf die Behörde seines Wohnbezirks Druck ausübt, um den Wochenmarkt vor seinem Balkon zu verschieben.
Wer ist dieser Thierse, der in seinen finalen Politikerjahren zwischen Anmaßung und Maßlosigkeit schwankt, oft bis zur Peinlichkeit?
In der DDR hat Thierse eine stille Akademikerkarriere verfolgt, die eine kurze Unterbrechung erlitt, als er sich achtbar weigerte, eine staatlich geforderte Distanzierung vom ausgewiesenen Liedermacher Biermann zu unterzeichnen. In der Herbstrevolution trat er erst dem Neuen Forum, später der SPD bei. Für die SPD zog er in die erste frei gewählte Volkskammer ein. Nach dem Sturz von Parteichef Ibrahim Böhme übernahm Thierse den Parteivorsitz und nach dem Rücktritt von Richard Schröder auch die Volkskammerfraktion. Er zog in den Deutschen Bundestag ein, wo er bis heute Abgeordneter ist. Thierse mir seinem Rauschebart wurde als Bürgerrechtler wahrgenommen, was er nicht war. Seine den Bürgerrechtlern fremde Geschmeidigkeit förderte Thierses Karriere, die in seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten gipfelte. Aber sein eigentliches Glanzstück hing mit keiner seiner Funktionen zusammen, sondern war eine Initiative des Abgeordneten Thierse mit dem Titel „Vollendung der Deutschen Einheit“, mit der er sich an die Spitze einer fraktionsübergreifenden Antrags für Berlin als Regierungssitz stellte und siegte. An diesen Triumph hat er nie wieder anknüpfen können. Er verlor seinen Direktwahlkreis trotz bundesweiter Prominenz in einem für die SPD günstigen Umfeld mehrmals an Kandidaten der PDS: Stephan Heym (1994), Petra Pau (2002)und zum Schluss gegen den unbekannten Stefan Liebig. Wenn er nicht von selbst zurückgezogen hätte, wäre er sicherlich nicht mehr als Bundestagskandidat aufgestellt worden.
Vor diesem Hintergrund wirken die Äußerungen und Aktivitäten von Thierse wie die frustrierten Versuche, den eigenen Abstieg mit untauglichen Mitteln aufzuhalten. Er war immer der Vorzeigeossi der SPD, der es nicht geschafft hat, seinen ostdeutschen Landsleuten wirkliche Geltung zu verschaffen. Eher hat er Vorurteile gegen die „Jammerossis“ verstärkt, denen er manchmal seine Stimme verlieh.
Auf seiner Bundestagswebsite lässt Thierse betonen, dass er unentwegt im Wahlkreis unterwegs sei. Aber für die Belange seines Bezirks hat er sich nie wirklich konstruktiv eingesetzt. Er schien aber immer zur Stelle zu sein, wenn es etwas zu verhindern, zu monieren, zu beklagen gab, Veränderungen nicht zugelassen werden sollten.
Thierse blickt seit vierzig Jahren von seinem Balkon auf den Kollwitzplatz wie auf einen beschränkten Horizont. Nur so ist zu erklären, wie er das verwahrloste Berlin zum unveränderlichen Ideal erheben kann und sich äußeren Einflüssen verschließt. Thierses Ausfälligkeiten gegen Schwaben wären lächerlich, wenn sie nicht einen Geist der neuen Spießbürgerlichkeit ausmachten, der sich vom Kollwitzplatz über Berlin und darüber hinaus ausbreitet. Es ist der Geist des Beharrens gegen Weiterentwicklung, der Geist der Abgrenzung gegen das Andere, das als bedrohlich fremd empfunden wird. Wenn sich Thierses Äußerungen nicht gegen Schwaben, sondern gegen andere Gruppen richteten, die ebenfalls nicht Schrippen, sondern das Gebäck der fernen Heimat bevorzugen, würde man nicht nur den Kopf schütteln, sondern wäre mit Recht beunruhigt.
Thierse hat sich für die Vollendung der Deutschen Einheit stark gemacht, aber er selbst scheint nie richtig angekommen zu sein. Daher sein Fremdeln mit den Rechtsstaatsprinzipien und der offenen Gesellschaft, die sich frei entfaltet, unabhängig davon, ob jeder jede Entwicklung goutiert. Er läuft   Gefahr, zur tragischen Figur zu werden.
Erschienen in der BZ am Sonntag

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