Vera Lengsfeld / 11.10.2010 / 16:59 / 0 / Seite ausdrucken

Stuttgart 21-Politik vor dem Kollaps

Seit Wochen halten die Massendemonstrationen von Stuttgart die Medien und die Öffentlichkeit auf Trab. Kaum zu glauben, dass der Bau eines Bahnhofs, der jahrelang niemanden interessiert hat, die Leute so in Wallung bringt. Wo war das Stuttgarter Bürgertum, das jetzt Fähnchen schwenkend tränenden Auges für ein paar Bäume und gegen die grundlegende Verbesserung der Lebensverhältnisse in seiner Stadt kämpft in den letzten 17 Jahren, als das Projekt vorgestellt, beschlossen, genehmigt und gerichtsfest gemacht wurde?
Langsam begreifen selbst unsere Mainstream- Medien, die durch ihre Berichterstattung erheblich zur Eskalation der Situation beigetragen haben, daß es um mehr geht, als ein ungeliebtes Modernisierungsprojekt.
In Stuttgart kommt das zerrüttete Verhältnis von Bürgern zur Politik zum Ausbruch.
Die Politik erhält plötzlich, aber für Beobachter nicht unerwartet, die Quittung für jahrelanges feiges Wegducken vor den Problemen, für Macht-Opportunismus und immer hemmungslosere Klientel-Bedienung. Erst hat die politische Klasse vergessen, dass sie dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Wie Stuttgart zeigt, sind ihr die Bürger auf diesem Weg gefolgt. Am deutlichsten dokumentiert sich das in dem Ruf der Demonstranten: “Wer will schon nach Ulm?“ „Wer will schon nach Bratislava?“
Europa ist zwar geeint, aber es soll sich nach Willen der Stuttgarter Provinzler nicht näher kommen.
Dass den Ulmer Berufspendlern jeden Tag 40 Minuten Fahrtzeit erspart blieben, ist den Stuttgartern keine Überlegung wert.
Erstaunlicherweise profitieren die Grünen von den Protesten, obwohl sie jahrzehntelang gepredigt haben, möglichst viel Verkehr auf die Schiene zu verlegen und mit ihrer Gegnerschaft zum von ihnen mitbeschlossenen Projekt Stuttgart 21 das genaue Gegenteil betreiben.
Erstaunlich auch, wie grüne und sozialdemokratische Politiker die rechtsstaatlichen Prinzipien, die zu schützen sie gewählt sind, über Bord zu werfen bereit sind, um eines vermeintlichen Wahl-Vorteils willen. Ob die Rechnung aufgehen wird, ist keineswegs sicher, wie die gescheiterte Wahl eines grünen Oberbürgermeisters in Landshut beweist. Sicher ist dagegen die Erosion der Rechtsstaatlichkeit, die von so einer Politik verursacht wird.
Noch bedenklicher ist, wie die Stuttgarter Proteste Allmachtsfantasien und totalitäre Verhaltensmuster fördern.
So lässt der Chef der „Parkschützer“ von Herrmann die Medien unverblümt wissen,  er .  könne größere Demonstranten- Gruppen dahin lenken, wo er sie brauche. Er führt, die anderen folgen. Ist das die „neue Protestkultur“?
Auch bei der Beschreibung seiner Ziele lässt von Herrmann keinen Zweifel: er will den totalen Sieg, keinen Kompromiss, mit dem anschließend alle leben können.
Die Politiker, wie Ministerpräsident Mappus, die versuchen, die rechtsstaatlichen Prinzipien zu verteidigen, agieren ungeschickt bis unbedarft. Anders ist die Benennung von Attack- Mitglied Geißler als Vermittler nicht zu nennen.
Dass Geißler keinesfalls ein Kompromiss für das Projekt, sondern eine Rolle als Heilsbringer für die Stuttgart 21-Gegner im Sinn hat, beweisen seine unabgesprochenen Alleingänge, um einen Baustopp zu erzwingen. Mappus scheint von allen guten Beratern verlassen zu sein.
Für den Ernst der Lage spricht der dramatische Appell der Gewerkschaft der Polizei, die beklagt, dass die Politik ihre Fehlentscheidungen auf dem Rücken der Polizisten austrägt. Eine solch offene Zerrüttung des Verhältnisses von Politik und Polizei dürfte einmalig sein in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands sein.
Am Ende wird das Scherbengericht, das vor unser aller Augen angerichtet wird, niemand gewollt haben. Wir können nur hoffen , dass es dann nicht zu spät ist.

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