Eine liberale Partei, die diesen Namen verdient, würde zurzeit dringend gebraucht. Und sie hätte eine Menge zu sagen. Beispielsweise, dass Staaten, die mehr ausgeben als sie einnehmen, irgendwann bankrott gehen. Und dass die Ursache dafür nicht in der Marktwirtschaft zu suchen ist, sondern in ihrem Gegenteil: Einer moralisch begründeten Klientelpolitik, die glaubt, den Markt außer Kraft setzen zu können. Diese Botschaft würde womöglich keinen allgemeinen Beifall finden, aber doch eine Gruppe ansprechen, die groß genug ist, um im Bundestag vertreten zu sein. In Abwandlung eines berühmten Zitats: Man kann es einigen Leuten für einige Zeit recht machen, aber nicht allen für alle Zeit. Also mach einfach, was du selbst für richtig hältst. Letzteres würde sich für die FDP empfehlen, die am heutigen Tage ihr Dreikönigs-Treffen abhält. Doch bedauerlicherweise hat sich die Partei für den Versuch entschieden, es allen immer recht machen zu wollen.
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger schlug dafür Anfang der Woche in einem Interview mit dieser Zeitung das Wort „ganzheitlicher Liberalismus“ vor. Es scheint fast als habe die Partei zu Silvester Bullshit-Bingo gespielt, das Spiel bei dem man Leerformeln finden muss: Entschleunigter Liberalismus? Partizipativer Liberalismus? Vegetarischer Liberalismus? Behindertengerechter Liberalismus? Alles in die Lostrommel einmal umrühren und dann Bingo! „Ganzheitlicher Liberalismus“! Das ist es!
Das klingt wie aus einem Workshop für alternative Medizin. Aus dem eher nüchternen Liberalismus wird ein gefühlssatter Kolossalbegriff, den man auch im grünen Salon ungefährdet aussprechen darf. Warum nicht gleich „holistischer“ Liberalismus? Das meint das gleiche hat aber noch mehr Alternativschick. In der gleichnamigen Medizin finden laut einschlägiger Literatur unter anderem folgende Kriterien Berücksichtigung: Die Einheit von Körper, Seele und Geist, Ideale und Wertvorstellungen des Patienten, seine Lebensweise die soziale Umwelt, die natürliche Umwelt die künstliche Umwelt und oben drauf noch eine Prise Übersinnliches. Das ist alles wunderbar, nur sind die Grünen auf diesem Gebiet echt besser. Der FDP geht es bei ihrer Neu-Positionierung wie dem Oberammergauer Herrgottschnitzer, dessen Geschichte wir – wie treue Leser wissen – gern zitieren: Ein Kunde bat ihn immer wieder, dem Jesus noch mehr Schmerz zu verleihen. Der Künstler schnitzt und schnitzt und sagt dann plötzlich: „Verdammt, jetzt grinst er.“
Erschienen in DIE WELT am 06.01.2012