Jesko Matthes / 16.08.2017 / 11:15 / Foto: Duch.seb / 1 / Seite ausdrucken

Politik – ein Kinderkarussell?

Von Jesko Matthes.

Ich erkenne, dass ich schon sehr früh politisiert war. Wir lebten in West-Berlin, und als ich geboren wurde, da stand die Mauer gerade knappe viereinhalb Jahre.

Mein Vater musste ab da noch gute fünf Jahre von Tempelhof aus mit dem Flugzeug nach Hannover oder Hamburg fliegen, wenn es in Urlaub ging; Mutter und ich saßen derweil im VW-Käfer auf der Transitstrecke. Auf die Frage, warum Papi nicht mit im Auto führe, antwortete Mutter: Er ist politischer Flüchtling. Das heißt, in dem anderen Deutschland, durch das wir fahren, verhaftet ihn die Polizei. - Die Polizei ist böse auf Papi? - Ja, aber nur hier, nicht bei uns. Papi ist auch böse auf die Polizei hier. Er hat wegen seiner Meinung im Gefängnis gesessen, also, wegen dem, was er gedacht und gesagt hat. Aber nur eine Nacht. Am nächsten Tag ist er weggelaufen, zu uns. - Dauert es darum so lange an der Grenze, und lachen die Polizisten darum nie? - Ich glaube schon. Aber es gab doch welche, die lachen konnten, und mancher wünschte uns eine gute Fahrt. Aha, heute also Entspannungspolitik, kommentierte Mutter.

Vater sah gern Fernsehen der DDR. Er liebte „Mit Lutz und Liebe“ und „Willy Schwabes Rumpelkammer“, und amüsiert stellte er fest, dass man UFA-Filme und Sexstreifchen eher dort zu sehen bekam als im Westen. Aus Jux sah er gern „Der Schwarze Kanal“, und als Krimi-Fan war ihm auch von Zeit zu Zeit der „Polizeiruf 110“ recht. Die Sportkommentare des Heinz-Florian Oertel liebte er ebenfalls, nur zum eingeblendeten Kürzel „GDR“ sagte er immer ironisch „Großdeutsches Reich“. Allfällige Verwechslungen von Fahnen oder Nationalhymnen amüsierten ihn.

Mutter bevorzugte an den Weihnachtsfeiertagen das „Weihnachtsoratorium“ Johann Sebastian Bachs, mit Theo Adam und Peter Schreier - während im „Westfernsehen“ schwachsinnige Unterhaltungsfilme liefen.

1983 sahen wir Luther hüben und drüben, und 1986 Friedrich den Großen, eher drüben als hüben. So konnte ich weder der Politik noch der Historie noch den seltsamen Besonderheiten ihrer medialen Gestaltung entfliehen, und selbst einem Kleinkind konnte bereits die Steifigkeit Angelika Unterlaufs beim Herunterrasseln der Titel Erich Honeckers auffallen, während im ZDF Gerhard Klarner geradezu lässig über Helmut Kohl knarzte, und wie auch Angelika sich später etwas lockerte, während das ZDF steifer wurde.

Verflixt, werde ich sentimental?

Ende 1989 (nun schon ein junger Erwachsener) schrieb ich an die ARD, weil sie völlig kommentarlos eine Stasi-Akte mit dem Namen „Eckard Groppler“ eingeblendet hatte, es war in „Monitor“ mit Klaus Bednarz. Ich wusste, dass es sich bei Groppler um den Fahrer des Karl-Heinz Beckurts handelte. Der Siemens-Manager und sein Fahrer Karl Heinz Beckurts wurde 1986 durch einen Bombenanschlag ermordet. Zu dem Anschlag bekannte sich ein „Kommando Mara Cagol“ der RAF. Auf eine Antwort auf meine Nachfrage bei der ARD warte ich bis heute vergebens, also schickte ich damals dem Generalbundesanwalt eine Kopie meines Schreibens und erhielt eine Eingangsbestätigung. Sehr viel mehr weiß ich bis heute nicht.

Doch ich will auf etwas ganz anderes hinaus. Eine Glückwunschkarte zur Wahl eines Politikers verschickte ich nie (einer meiner konservativen Freunde, Jugendreporter des RIAS-Berlin, gratulierte Margret Thatcher zu ihrer Wahl).

Kinder werden früh politisch geprägt, wenn das Umfeld politisch geprägt ist – sonst vielleicht nicht. Aber auch dafür habe ich keinen Beweis. Ein schönes Beispiel für das politische Denken von Kindern fand ich dagegen hier. Es geht um die Wahl Alexander van der Bellens zum österreichischen Bundespräsidenten. Nur auf den ersten Blick ist das eine Glückwunschtirade. Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt die Sorge der Eltern, sogar ihre Versuchung, Norbert Hofer zu wählen, und die Sorge der Kinder um eine friedliche Zukunft in ihrem eigenen Land, das sie lieben, etwa wie in Bert Brechts Kinderhymne.

Aber: Kritische Fragen zu Herkunft, politischen Zielen und den geldwerten Vorteilen des Präsidentenseins sind auch schon dabei. Und hohe Erwartungen. Wohlgemerkt, die Schreibenden sind Drittklässler, also etwa neun Jahre alt. Manches haben sie bei ihren Eltern aufgeschnappt, wie ich damals, anderes entspringt der schieren, ungezähmten Lust, die Welt zu begreifen, wie sie für Erwachsene ist. Dass diese Welt bedroht ist, scheint den Kindern völlig klar.

dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, bis es untergeht …

Verflixt, werde ich sentimental? Ich finde, dieses Land sollte nie untergehen. Denn die Fragen, die ich immer noch stelle, bleiben unbeantwortet, und die „Lösungen“, die mir Politiker bieten, sind mir zu - erwachsen. Wie man „erwachsen“ mit Politik umgeht, das konnte ich bei Angelika Unterlauf sehen: Man hört auf zu fragen - und betet die Titel der Führung daher: Und dann und wann ein weißer Elefant.

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.

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Winfried Sautter / 16.08.2017

Früh politisiert worden bin ich (* 1962) auch, aber völlig anders. Meine Eltern waren beide soziale Aufsteiger, bekennende Katholiken aus der süddeutschen schwäbischen / mittelfränkischen Diaspora, Akademiker der ersten Generation, Nouveau Arrivees in der bundesdeutschen Gesellschaft. Mein Vater war am Ende seiner Berufskarriere hochrangiger Sanitätsoffizier, und er war sich stets bewusst, dass er dies weder im Kaiserreich, noch im Dritten Reich, noch in der DDR hätte werden können. Die Loyalität galt der Bundesrepublik, dem “Westen”; mein Elternhaus stand zuletzt im Rheinischen und war mein Zuhause. Die DDR kam nicht vor bei uns, weder positiv noch negativ. So weit weg wie Nordkorea. Meinen ersten Kontakt mit ihr hatte ich während meiner Bundeswehrzeit als Horchfunker bei der ELOKA; Russisch konnte ich, an das Staatssächsisch der ostdeutschen Waffenbrüder musste ich mich erst gewöhnen. Die Wiedervereinigung war mir als Zögling der Bonner Republik kein Herzensanliegen, aber ich hatte auch nie Vorurteile gegen Ossis und Dunkeldeutsche. Und nun zu den prägenden Früherlebnissen aus dem Weltgeschehen: Sechstagekrieg, Vietnam, Biafra. Der Ölschock 1973 hat unsere Welt dann endgültig ins Dämmerlicht gerückt. Wenigstens gab es damals noch die Augsburger Puppenkiste.

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