Emma Finkelstein / 05.08.2012 / 11:32 / 0 / Seite ausdrucken

Nachts kommen die Vampire

Unsere Südosteuropa-Beauftragte ist zur Zeit in Rumänien unterwegs. Wir bringen ihre Berichte in loser Folge. Das hier dient der Einstimmung.

Einen Direktflug Berlin-Bukarest gibt es Anfang Juli 2012 nicht. Folglich stehe ich jetzt am Hauptbahnhof und warte. 10.45Uhr. Kein Zug. Dafür hunderte Reisende in Absprungstellung – die Platzreservierungen wurden für heute aufgehoben, ebenso der Halt am Südkreuz. Gegen 11 Uhr fährt klappernd und mit heruntergelassenen Fenstern ein tschechisches Modell Typ Sozialismus ein. Ich springe auf den ersten freien Platz und lande in einem Abteil für Mütter mit Kindern. Außer mir drei Engländer und zwei Belgierinnen, alle gerade mit der Schule fertig und ohne Baby an Bord.

Die Engländer wuchten meinen Koffer auf ihre Rucksäcke, während auf dem Gang aufgeregte Japaner, mit ihre Platzreservierungen fuchtelnd, entlang hasten. Nach einer halben Stunde und diversen Durchsagen kann ich einen Toilettengang wagen. Zum Glück fehlt das in deutschen Zugtoiletten übliche Hinweisschild, man möge diesen Raum so verlassen, wie man ihn vorfinden möchte. Eine unmögliche Aufgabenstellung, denn wo sollte der Reisende so schnell ausreichend Duftlampen, Blühpflanzen und Landschaftsfotografien herbekommen, um der Aufforderung nachzukommen?

Stattdessen hängt hier ein Hinweis „Voda“ mit Pfeil nach unten. Um sich die Hände waschen zu können, muss man einen Pumphebel ein paar Mal auf und absenken. Ich pumpe und siehe: Diese überlieferte Technik unser Großvatergeneration funktioniert einwandfrei. Der Zug indes trödelt. Die sanft am Fenster vorbei streichenden Bäume lassen sich bequem zählen, von einer Überforderung der Augen durch Geschwindigkeit bleiben die Reisenden verschont. Bis Dresden haben wir schon eine Stunde Verspätung. Radum, radum, klingt jede Bewegung der Räder durch die geöffneten Fenster; zumachen geht nicht, da hier drinnen mindestens 30 Grad herrschen und es zu Bauzeiten des Zuges noch keine Klimaanlagen gab.

In Prag müssen wir außerplanmäßig aussteigen. Auf dem Gleis gegenüber steht ein ungarischer Zug bereit, ausgestattet mit Klimaanlage und einem dauerknutschenden tschechischen Pärchen, dem gegenüber ich Platz finde. Er trägt ein Dutzend beschlagener Silberarmbänder, einen dicken Totenkopf um den Hals und normaler Weise vermutlich Hanteln. Zumindest lassen die Schultern unter dem geschorenen Kopf darauf schließen. Zwischendurch flüstert Mister Wandschrank seiner Liebsten offenbar immer wieder irgendetwas Aufregendes ins Ohr, sie antwortet lächelnd und klimpert dabei mit den Wimpern. Ich greife zu einem Buch und versuche, mir die Illusion von Privatsphäre zu schaffen.

Ein paar Stunden später sind wir in Bratislava. Der Zug leert sich, im Großraumwagen sind wir plötzlich nur noch zu dritt und nach insgesamt zwölfeinhalb Stunden fast pünktlich in Budapest.

Ein Zug soll kommen, gen Bukarest, allerdings auch mit Verspätung. Neben mir steht eine Gruppe tschechischer Jungs mit Rucksäcken. Jan kommt auf mich zu, bietet mir einen Schluck Bier und eine Mitfahrgelegenheit an. Die Jungs wollen in den Karpaten wandern. Einer ihrer Kumpane ist kurzfristig krank geworden, so haben sie acht Tickets für sieben Leute – ich könne sofort einsteigen und hätte das Vergnügen, sieben Tage lang durch die Natur zu laufen und zu zelten. Schon nach zwölf Stunden Zugfahrt, finde ich Zivilisation jedoch verlockend, jetzt fährt sie ein und bietet mir einen Schlafwagenplatz mit Waschbecken, Dusche und Schränkchen. Jan trägt mein Gepäck hinein und verabschiedet sich Richtung Sitzwaggons.

Ich falle auf die Pritsche und werde erst vom rumänischen Grenzpolizisten geweckt, der um 3.30 Uhr die Tür fast einschlägt, sich aber weigert, mir als Entschädigung zumindest einen Erinnerungs-Stempel in den Pass zu drücken.

Um 10.15 rolle ich nach zweiundzwanzigeinhalb Stunden pünktlich in Sighisoara ein. Am Bahnsteig wartet Frieder Schuller, ein Deutsch-Rumäne, der in den 70er Jahren auf Grund der Fürsprache eines Dichters, der heute nur noch mit letzter Tinte schreibt, aus dem Land gelangen konnte. „Ich habe für Günther Grass bei seinem Rumänienbesuch übersetzt. Als ich dann hier Probleme bekam, schrieb ich ihm einen Brief, ob er mir helfen könne, in die Bundesrepublik zu kommen.“ Grass wandte sich an Genscher, dieser an die Deutsche Botschaft in Bukarest. Und Frieder konnte ausreisen. Der Dramaturg, Dichter und Regisseur fährt mich jetzt mit seinem Dacia an einem Weltkulturerbe nach dem nächsten vorbei. Darunter zahllose Kirchen samt riesiger Pfarrhäuser. Schließlich war Transsilvanien früher direkt dem Königshaus unterstellt, einen Adel gab es nicht. Wenn aber etwa die benachbarten Ungarn einen der Ihren auf Reisen schickten, mussten die Rumänen mit irgendetwas halbwegs Ebenbürtigem auftrumpfen. Natürlich trugen die Pastoren deshalb auch nicht nur einen einfachen schwarzen Umhang samt kleiner weißer Kragenecke. Stattdessen gab es bestickte Talare mit prunkvollen Ornaten und Pelzumhängen.

Frieder ist Sohn eines evangelischen Pastors und wurde 1942 in Katzenburg (Rumänisch Cata) geboren. Zwar musste die Familie schon zwei Jahre nach seiner Geburt vor der anrückenden sowjetischen Armee Richtung Österreich fliehen und kam später in ein anderes Dorf, etwa 50 Kilometer entfernt, zurück. Das 300 Jahre alte Haus, in dem sein Vater Predigten gegen die Nazis schrieb, hatte es dem groß gewachsenen Mann mit den tiefdunklen Augen jedoch angetan. „Mein Vater wurde mehrfach verhaftet, bestand aber weiter darauf, der Mensch solle Gott und keinem anderen Führer dienen. Das hat mich sehr beeindruckt und geprägt, so dass ich das Haus, in dem sich alles abspielte, gleich nach der Revolution mietete und renovierte.“

An der Seite des großen Pfarrgartens liegt ein kleines Einliegerhäusschen mit eigener Küche und Bad. Hier dürfen sich die Gewinner des „Rumänischen Dorfschreiberpreises“ ein Jahr ausbreiten.  Der derzeitige Schreiber ist gerade in Deutschland, ich darf ihn vertreten. 15 Minuten und eine Dusche später sitze ich vor einem Teller voll der legendären rumänischen Tomaten. „Vor zehn Jahren noch galt in Rumänien alles als besonders gut, das aus dem Ausland kam. Inzwischen haben sie aber verstanden, dass es hierzulande sehr wohl auch Dinge gibt, die besser sind als anderswo und schreiben auf den Märkten schon stolz an die Waren, wenn diese aus dem Inland sind.“

Neben den Tomaten steht Bauernbrot und eine Stampfmischung aus gerösteten Auberginen und Zwiebeln. Und natürlich das Grundnahrungsmittel: Schafskäse in drei Varianten von leicht über salzig bis zu heftig gereift. Zufriedenheit!

Bei fünfunddreißig Grad bietet sich anschließend eine ausgedehnte Siesta an – und eine Wanderung. Hügelig zieht sich die Wiese hinter dem Haus empor, ich stapfe durch ein Paradies für jede Kräuterhexe. Hier ist seit Jahren nicht mehr gemäht oder gar gezogen worden, es blüht in allen Farben, halmt und distelt vor sich hin. Mittendrin eine Gruppe Pferde mit fünf Fohlen, kein Zaun weit und breit, dafür ein Roma, der Acht gibt, dass sich die Tiere nicht zu weit in Richtung Wald verabschieden. Ich finde einen Trampelpfad in das Dickicht hinein und höre es kaum fünf Minuten später auffällig rascheln.

Etwa 20.000 Bären leben in Rumänien. Da sie keine Fleischfresser sind, greifen sie Menschen eigentlich nicht an – es sei denn, sie tun es doch. Zum Beispiel weil sie sich erschreckt oder bedroht fühlen. Ich scheine zum Glück nicht bedrohlich zu wirken, die Schritte entfernen sich und mehr als ein Schatten ist nicht zu sehen. Eine halbe Stunde später verlässt der Pfad den Wald wieder. Ein paar Schritte weiter ein kleiner, abgezäunter Pfuhl, davor eine Schar Hühner samt rot bekammtem Gockel. Die Herde läuft schreiend vor mir davon und genau auf eine im Schatten liegende Sau zu, die sich laut grunzend aufwirft und eine ganze Horde gerade noch saugender Ferkel von sich fliegen lässt. Mehr schreiend als grunzend baut sich das Tier in zehn Meter Entfernung vor mir auf und lässt seine Nase wild zucken. Ein Umweg ist jetzt keine schlechte Idee, durch allerhand Gestrüpp geht es hinauf auf den nächsten Berg. Aussicht auf Himmel, Felder und noch mehr Himmel. Ganz unten liegt einsam das Dorf. Ansonsten schlicht Gegend. Und Ruhe.

Am Pfarrhaus angekommen gibt es Palukes, eine Art Polenta, mit rumänischem Weißwein. Mit etwas Glück kann der auch gut schmecken. Das Etikett sagt nichts über das Podukt aus. „Man kann drei gleiche Flaschen kaufen, die alle verschieden schmecken,“ sagt Frieder. Der Maisbrei und Wein entfalten ihre Wirkung, ich falle zufrieden ins Bett.

Da kommt mir der Dalai Lama in den Sinn: „Wer glaubt, einer allein sei zu schwach, irgendetwas auszurichten, hat noch nie allein mit einer Mücke eine Nacht im Hotelzimmer verbracht.“ Nun, von „einer allein“ kann hier in Transsilvaniens Herz nicht die Rede sein, und sich selbst zu schlagen muss keinen religiösen Ursprung haben. Nach zwanzig Ohrfeigen wickele ich mir ein T-Shirt um den Kopf. Und falle in Tiefschlaf, während draußen alle Hunde Transsilvaniens die Nacht anbellen.


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