Seit dem 21. September 2022 zapft die Regierung das Knochenmark des eigenen Volkes an. Ein Effekt der russischen Teilmobilmachung ist, dass sich nun viele Russen klar vor die Frage gestellt sehen, ob sie sich für Putin opfern lassen wollen.
Mit sofortiger Wirkung hat Wladimir Putin die Teilmobilmachung der russischen Reserve angeordnet. In den kommenden Wochen sollen 300.000 zusätzliche Soldaten in der Ukraine kämpfen. Die Maßnahme ist nicht nur ein Akt der Verzweiflung, sondern könnte auch das Ende der Ära Putin einläuten.
Schon jetzt ist der 21. September 2022 ohne Zweifel ein schicksalhaftes Datum. Nur zweimal in seiner Geschichte hatte Russland bislang eine Mobilmachung erlassen: nämlich am 27. Juli 1914 und am 22. Juni 1941. Beide Male hatte dies eruptive Folgen. Während Nikolai II. im ersten Fall das Zarenreich in den Weltkrieg führte und damit der Monarchie ein jähes Ende bescherte, ebnete Stalin der Sowjetunion mit seinem Ruf zu den Waffen den Weg zu einer militärischen Supermacht. Dass die dritte Mobilmachung Russlands ähnlich einschneidende Folgen haben könnte, ist keinesfalls ausgeschlossen. Nicht nur hat sie das Potenzial, die Binnenkohäsion der russischen Gesellschaft zu zerstören, sondern könnte die Regierung auch in einer Weise delegitimieren, die kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Im Kreml ist man sich der Brisanz einer Teilmobilmachung wohl bewusst. Aus diesem Grund wandte sich Präsident Putin am 21. September 2022 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung, um seine Entscheidung zu begründen. Dabei vermittelte er abermals einen Eindruck davon, wie er den Krieg in der Ukraine, dessen Hintergründe sowie die involvierten Akteure wahrnimmt. Im Ergebnis steht das Zeugnis einer von Argwohn, Aggressivität und Feindseligkeit geprägten Weltsicht. Bevor es im Folgenden um die Auswirkungen der Teilmobilmachung geht, soll zunächst ein näherer Blick auf Putins Rede geworfen werden.
Putin beginnt seine Ansprache mit einer direkten Hinwendung zur Bevölkerung. Während er sein Publikum als „alle Bürger unseres Landes, ganz gleich welcher Generation, welchen Alters und welcher Nationalität“ anspricht und es als „das Volk unserer großen Heimat“ lobt, welches „das große historische Russland vereint“, bezeichnet er die Bewohner der Volksrepubliken des Donbass und weiterer „von den Neonazis befreiter Gebiete“ als „Brüder und Schwestern“. Diese Diktion ist ungewöhnlich für den ansonsten so kühlen Putin, der seit dem durchschlagenden Erfolg der Ukrainer in der Region Charkiw mit dem Rücken zur Wand steht.
Verbale Umarmung des Volkes
Das Pathos seiner Worte erinnert ein wenig an Stalins berühmte Radioansprache vom 3. Juli 1941. Damals hatte sich der Diktator erstmals seit Kriegsbeginn an die Bürger gewandt, um sie auf den bevorstehenden Kampf gegen Deutschland einzuschwören. Niemals zuvor hatte Stalin jene Menschen der Sowjetunion, gegen die er zuvor jahrelang beispiellose Wellen des Terrors entfesselt hatte, als Brüder und Schwestern bezeichnet – und bis zu seinem Tod auch nichts dergleichen empfunden. Trotzdem ging sein Kalkül auf. Die Menschen folgten seinem Ruf zum Großen Vaterländischen Krieg und leisteten Widerstand. Indem sich nun auch Wladimir Putin in dieser Weise mit der Bevölkerung fraternisiert, will er kommunizieren, dass nicht politische oder gar ideologische Ziele, sondern die Liebe zum russischen Volk die Triebfeder seines Handelns ist.
Im Anschluss an die verbale Umarmung seiner Zuschauer stellt Putin klar, worum es in den folgenden 15 Minuten gehen soll: um den Schutz der Souveränität, der Sicherheit und der territorialen Einheit Russlands; um den Willen der Russen, ihre Zukunft selbst zu bestimmen; und um die aggressive Politik der westlichen Eliten, die versuchten, ihre Herrschaft zu bewahren und nichts unversucht ließen, um anderen Völkern ihren Willen und ihre Pseudowerte aufzuzwingen. Nach 1:42 Minuten Redezeit bringt Putin schließlich die Essenz seiner Gedanken auf den Punkt: „Das Ziel dieses Westens ist es, unser Land zu schwächen, es zu zerteilen und schließlich zu vernichten!“
Vieles von dem, was russische Spitzenpolitiker in den verflossenen Monaten öffentlich verlautbart haben, lässt sich als Provokation oder Propaganda abtun. Den soeben zitierten Satz Wladimir Putins sollte man hingegen ernst nehmen. Dass der russische Präsident nämlich davon überzeugt ist, die NATO trachte danach, Russland zu zerstören, kann nur bedeuten, dass er letztlich alles tun wird, um das zu verhindern. So nimmt nicht wunder, dass er eben dies zum Ende seiner Ansprache auch klar zum Ausdruck bringen wird.
Wie sehr Putins Denken in historischen Überlegungen verhaftet ist, zeigt sein Vorwurf, der Westen habe bereits 1991 die Sowjetunion zerteilt und treibe nun dasselbe Spiel mit der Russischen Föderation. Jene solle in eine Vielzahl verfeindeter Regionen zerfallen und im Strudel innerer Unruhen versinken. Zur Verwirklichung dieses Plans habe der Westen bereits den islamistischen Terrorismus im Nordkaukasus unterstützt, Militärsysteme bis an die russischen Grenzen herangeschoben, und mit seinen Waffen die totale Russophobie sowie jahrzehntelang Hass auf Russland geschürt.
Putins Kampf gegen seine Dämonen
In der Optik Putins ist die Russische Föderation ein Staat, der mit seinen Nachbarn in Frieden und Eintracht leben und seinen Bürgern Wohlstand, Sicherheit und Freiheit angedeihen lassen möchte. Dass dies bislang nicht gelungen ist, ist für Putin einzig und allein die Folge westlicher Agitation. Gleiches gilt für die Tatsache, dass es die Russische Föderation überhaupt gibt. So sei der Zerfall der Sowjetunion 1991 von außen herbeigeführt worden. Diese Bedrohung ist aus seiner Sicht nie verschwunden, sondern habe sich nach dem Ende des Kalten Krieges lediglich in der NATO manifestiert, die Moskau seither systematisch bedränge, um es schließlich militärisch zu besiegen. Russland könne diesem Würgegriff nur entkommen, indem es die zu einem „Anti-Russland“ aufgebaute Ukraine als Staat zerschlage und somit endgültig aus dem Einflussbereich des Westens herauslöse. Der Krieg gegen Kiew ist demnach kein Überfall, sondern ein legitimer Akt der Selbstverteidigung, der zugleich auch auf humanitäre Hilfe für die ukrainischen Bevölkerung abzielt.
Für alle, die geneigt sind, dieses Gaukelbild zu glauben, habe ich eine ernüchternde Nachricht. Putin geht es nicht im Geringsten um das Wohl der Russen, sondern ausschließlich um den Kampf gegen seine Dämonen. Dieses innere Ringen kreist um den Schmerz über den Zerfall der Sowjetunion, den Putin niemals verwunden hat. Bis heute empfindet er ihn als unerträgliche Schmach. Der unbedingte Wille, diese Demütigung auszutilgen, bedingt seine historische Mission: die Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs, wobei sämtliche slawischen Siedlungsgebiete mit dem russischen Mutterland vereint werden sollen. Dabei darf es weder einen souveränen ukrainischen noch einen unabhängigen weißrussischen Staat geben. Alle Bürger dieser Entitäten, die sich nicht naturgemäß als Teil des russischen Volkes betrachten, sind entweder gehirngewaschen, geisteskrank oder bösartig.
Es ist nicht verwunderlich, dass Putin auch weiterhin an der Erzählung festhält, die Ukraine sei 2014 von Neonazis gekapert worden, die daraufhin im Donbass einen Völkermord ins Werk gesetzt hätten. Das ist ein alter Schuh, der an dieser Stelle kein weiteres Mal aufgeschnürt werden soll. Viel erhellender ist hingegen, dass Putin Kiew vorwirft, nach Atomwaffen zu streben, sich Verhandlungen zu verweigern, und ferner die Angriffe des ukrainischen Militärs auf Ziele im Donbass und der Krim kritisiert. Das wiederum wirft die Frage auf, worin aus Sicht der Ukraine der Sinn von Verhandlungen mit einem Feind bestehen soll, der die eigene Beseitigung zu seinem Primärziel erklärt hat.
Putin hat es nicht nötig, diese Widersprüche aufzulösen. Für ihn kommt es lediglich darauf an, Russland nach Innen als gutwilligen Akteur darzustellen, dessen ausgestreckte Hand permanent ausgeschlagen wird. Dass diese Darstellung an der Realität vorbeizieht, ist bedeutungslos, obwohl in Russland immer weniger Menschen bereit sein dürften, diese Pille zu schlucken.
Pathologischer Eskapismus
Dass der russische Präsident unter großem Druck steht und meint, seine verhängnisvolle Politik öffentlich rechtfertigen zu müssen, zeigt folgender Satz: „In diesem Zusammenhang war die Entscheidung zu einer vollumfänglichen Militäroperation absolut notwendig und unvermeidlich! Ihr Primärziel – die Befreiung der Territorien des Donbass – bleibt bestehen. Die Volksrepublik von Lugansk ist schon fast vollständig von den Neonazis befreit. Die Kämpfe in der Volksrepublik von Donezk gehen weiter. Das Kiewer Okkupationsregime hat hier in den letzten acht Jahren umfangreiche Verteidigungslinien errichtet. Ihre Erstürmung würde zu schweren Verlusten führen. Aus diesem Grund operieren unsere Einheiten und die Formationen der Republiken des Donbass wohlüberlegt und besonnen; Schritt für Schritt befreien sie die Donezker Erde und säubern Städte wie Dörfer von den Neonazis […] Wie Sie wissen, nehmen an der Spezialoperationen Berufssoldaten teil, die ihren Dienst vertragsgemäß versehen. Seite an Seite kämpfen Freiwilligenverbände mit ihnen. Das sind Menschen verschiedener Nationalitäten und Altersgruppen – wahrhafte Patrioten, die dem Ruf ihres Herzens zum Schutze Russlands und des Donbass gefolgt sind.“
Die hier von Putin vermittelte Darstellung der Realität ist bemerkenswert. Während das russische Militär in der Ukraine gerade die schwerste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, keine operativen Reserven mehr ins Feld zu führen in der Lage ist und seine Aktionen immer häufiger mit antiquierten Waffen aus den 1960er Jahren vorträgt, hat Wladimir Putin seinen Zuschauern nicht mehr zu bieten als eine vor Pathos triefende Märchenstunde. Dass der russische Präsident ernsthaft glaubt, der eigenen Bevölkerung nach sechs Monaten desolater Perfomance in einem dilettantisch geplanten Krieg noch immer einen solchen Bären aufbinden zu können, ist entweder Ausdruck von akuter Hilflosigkeit oder aber ein unumstößlicher Beleg für einen pathologischen Eskapismus.
Wie schon Adolf Hitler, der im April 1945 vom Führerbunker aus Phantomdivisionen auf der Landkarte verschob, mit denen er den Kessel um Berlin brechen würde, verklärt auch Wladimir Putin einen militärisch längst verlorenen Krieg zum Überlebenskampf seines Volkes. In Wahrheit weiß er jedoch, dass die Invasion der Ukraine in ihrer gegenwärtigen Form gescheitert ist und in einem Fiasko enden wird. Doch anstatt daraus die rationale Konsequenz einer sofortigen Einstellung der Kampfhandlungen zu ziehen, macht Wladimir Putin denselben Fehler wie zu Beginn des Krieges. Und genau das macht ihn so gefährlich.
Zur Erinnerung: Nachdem der geplante Enthauptungsschlag gegen Kiew im März 2022 fulminant gescheitert war, stand der Kreml vor der Entscheidung, ob er sich zurückziehen oder einen Krieg führen sollte, den er in dieser Form nicht vorbereitet hatte. Putin wählte damals die zweite Option, weil er einen Gesichtsverlust fürchtete. Die Folgen für sein Land mussten daher verheerend sein. Bis heute hat Russland gigantische Verluste an Soldaten und Kriegsmaterial verzeichnet. Die Angriffskapazität des Heeres ist mittlerweile um ein Vielfaches geringer als zuvor. Darüber hinaus hat das russische Militär unter den Augen der Weltöffentlichkeit seine eigene Unfähigkeit unter Beweis gestellt und sich damit als ernstzunehmender Gegner disqualifiziert.
Kein Kampfeswillen bei den Zwangsverpflichteten
All das ist Putin und seinen Mitstreitern völlig gleichgültig, solange sie nur an der Macht bleiben können. Aus diesem Grund wollen sie ihre Zukunft jetzt mit dem Leben russischer Bürger erkaufen. Bis zu 300.000 Männer sollen geopfert werden, um die gescheiterte Politik des Kremls doch noch aufgehen zu lassen. Die darin aufscheinende Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid und dem Schicksal der eigenen Leute ist ebenfalls aus der Geschichte bekannt. Als die Westalliierten am 6. Juni 1944 mit ihrer Landung in Frankreich eine zweite Front eröffneten, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der Krieg aus deutscher Sicht militärisch verloren war. Die Reichsregierung entschied sich dennoch für eine Fortsetzung der Kämpfe und steigerte das Leid der Deutschen damit um ein Vielfaches. In den verbleibenden elf Kriegsmonaten kamen mehr deutsche Soldaten ums Leben als in allen fünf Jahren zuvor.
Ein ähnliches Schicksal könnte schon bald auch die russische Regierung ereilen, deren Politik Russland sukzessive in die Katastrophe führt. Zwar bedingt die Teilmobilmachung, dass dem Generalstab nun doppelt so viele Rekruten zur Verfügung stehen wie bisher. Das ändert aber nichts daran, dass die strukturellen und operativen Mängel der Streitkräfte auch weiterhin unverändert fortwirken. So ist unbestritten, dass die neuen Soldaten noch schlechter trainiert sind als ihre Kameraden, die seit sechs Monaten in der Ukraine sterben. Das ihnen zur Verfügung stehende Material wird dieselben Mängel aufweisen wie bisher; und das Bewusstsein, von einer korrupten und egoistischen Führung geopfert zu werden, ist in der Truppe längst lebendig.
Als noch bedeutsamer erweist sich, dass die Zwangsverpflichteten keinerlei Kampfeswillen haben. Bei ihnen handelt es sich um Menschen, die den Krieg bislang nur aus der Ferne sehen konnten. Dies ist mithin der Grund dafür, dass die staatliche Propaganda bisher überhaupt verfangen konnte, während sich die Niederlagen des Militärs als Empörungsmeldungen verschmerzen ließen. Indem der Kreml den Krieg nun zu einer Angelegenheit der breiten Bevölkerung macht, wird er das eigene Versagen nicht mehr hinter verschlossenen Türen abhaken können. Er wird sich rechtfertigen müssen. Daher wage ich folgende Prognose: Nicht die politische Opposition, deren Vertreter das Land seit 2011 verlassen haben oder heute in Haft sitzen, sondern die getöteten Väter und Söhne werden das Putinsche System daher letztlich zum Einsturz bringen.
Immer mehr zeichnet sich ab, dass nicht der kollektive Westen oder Wolodymyr Selenskij und dubiose ukrainische Neonazis, sondern der russische Präsident Putin der erbittertste Feind seines Volkes ist. Über die katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Folgen der von ihm entfesselten Politik habe ich bereits ausführlich geschrieben. Kaum beachtet blieb indes, welch verhängnisvolle Implikation die Entscheidung des Kremls zu einer Teilmobilmachung darüber hinaus noch hat.
Desolater Haufen von Marodeuren
Seit dem 21. September 2022 zapft die Regierung das Knochenmark des eigenen Volkes an. Gemeint ist die Substanz gesunder und vitaler russischer Männer, die bislang weitgehend unangetastet blieb. Anstatt Familien zu gründen und Nachkommen zu zeugen, wird diese Bevölkerungsgruppe jetzt der Vernichtung preisgegeben. Obwohl dies zunächst nur im Rahmen einer Teilmobilmachung erfolgt, ist die Möglichkeit einer Ausweitung längst greifbar. Die aus der beschlossenen Schändung der männlichen Bevölkerung resultierenden Verwerfungen werden kausal von der Dauer und dem Umfang des Krieges abhängen. Wie auch immer sie letztlich ausfallen, werden sie sich langfristig verheerend auswirken. All das trifft ein Land, dessen Bevölkerung ohnehin 2021 im Vergleich zu 2020 um 631.180 Menschen (0,44 Prozent) geschrumpft ist. Es wird deutlich, dass Putins Politik auch unter demographischen Gesichtspunkten das Potenzial hat, die Zukunft Russlands existenziell zu bedrohen.
Sämtliche Bemühungen Moskaus, eine Wende im Krieg zu erzwingen, werden die unausweichliche Niederlage letztlich nur hinauszögern. Jeder, der die Funktionsweise des russischen Apparats und die Geschichte russländischer Staatlichkeit kennt, weiß, dass das sie hervorbringende System nicht konkurrenzfähig ist. Auf staatlicher Ebene konnte die bis heute rücksichtslos von den Eliten betriebene Ausbeutung und Abschöpfung der nationalen Ressourcen funktionieren, weil am Ende des Tages immer noch genug Reste übrigblieben, um die Menschen in den größeren Städten bei Laune zu halten. Dass der Apparat dennoch träge und in höchstem Maße ineffizient war, ließ sich also bislang verschmerzen.
Im russischen Militär ist das hingegen anders. Dass sein Apparat von Korruption und Vetternwirtschaft zerfressen ist, hat Auswirkungen, die sich in einem Krieg nicht verbergen lassen. Ein niedriges Ausbildungsniveau, Disziplinlosigkeit und mangelnde Ausrüstung sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Wenn den Soldaten gesagt wird, sie könnten nicht mit Panzerabwehr trainieren, da jeder Schuss mehrere tausend Dollar koste, oder Verpflegung nicht bereitsteht, weil diese bereits zu großen Teilen von Offizieren auf dem Schwarzmarkt verkauft worden ist, dann zieht keine schlagkräftige Armee, sondern ein desolater Haufen von Marodeuren in die Schlacht. Diese Soldateska vermag zwar keine Siege zu erringen, hat aber keine Hemmungen, ihren Frust in Kriegsverbrechen wie in Butscha und Isjum zu kanalisieren. Das ist schon im Zweiten Weltkrieg so gewesen und hat sich bis heute nicht geändert.
Auf ukrainischer Seite steht eine Streitmacht, die in den vergangen acht Jahren nach NATO-Standards ausgebildet worden ist. Seit 2014 hat jeder ukrainische Arbeitnehmer zwei Prozent seines Einkommens an die Streitkräfte abgeführt. Der Glaube, Kiews Truppen wären unvorbereitet gewesen, als Moskau am 24. Februar den Angriffsbefehl erteilte, muss daher ins Reich der Legenden verbannt werden. Fakt ist, dass die Ukrainer mittlerweile über hervorragend ausgebildete und äußerst schlagkräftige Verbände verfügen, deren Potenzial durch die Bereitstellung moderner Kampf- und Schützenpanzer um ein Vielfaches zunehmen würde.
Verluste spielen keine Rolle
So wie die Dinge liegen, hat Russland keine Chance mehr auf einen Sieg. Leider hat diese Erkenntnis bislang nicht zu einem Umdenken im Kreml geführt, der mit leeren Händen dasteht. Um diesen Mangel zu kompensieren, greift der Generalstab auf die altbewährte Methode zurück, den Gegner notfalls mit Massen von Soldaten zu überschwemmen. Verluste spielen dabei keine Rolle. Angesichts dieser Perspektivlosigkeit ist nicht verwunderlich, dass sich Wladimir Putin krampfhaft an seiner eigenen Propaganda festhält, die längst ihrem eigenen Mythos zum Opfer gefallen ist.
In seiner Rede vom 21. September 2022 hat der russische Präsident davon Zeugnis abgelegt. Sein Auftritt war weder überzeugend noch sonderlich mitreißend. Anstatt den Bürgern einen gangbaren Ausweg aus der von ihm selbst herbeigeführten und noch dazu größten Krise aufzuzeigen, die Russland seit 1945 erlebt hat, zieht sich Putin zynisch auf moralische Verpflichtungen zurück. So erklärt er mit Blick auf die Menschen im Donbass:
„Wir haben keinerlei moralisches Recht, diese uns nahestehenden Menschen dem Henker auszuliefern. Wir können nicht einfach über ihr aufrichtiges Streben hinwegsehen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Die Parlamente der Volksrepubliken des Donbass und die Militärverwaltungen der Oblaste von Cherson und Saporischschja haben die Entscheidung über ein Referendum zur Zukunft dieser Territorien getroffen. Sie haben sich an uns, an Russland, gewandt und darum gebeten, diesen Schritt zu unterstützen. Ich weise darauf hin, dass wir alles tun werden, um sichere Bedingungen zur Durchführung der Referenden zu gewährleisten; die Menschen sollen ihren Willen frei äußern können.“
Dass sich ausgerechnet Wladimir Putin auf das Recht auf freie Meinungsäußerung im Donbass beruft, während Demonstranten im Inland rücksichtlos von den Sicherheitskräften niedergeknüppelt werden, ist so absurd, dass es keiner ernsthaften Kommentierung bedarf. Anders verhält es sich hingegen mit der Entscheidung Moskaus, sich nun das besetzte ukrainische Staatsgebiet einzuverleiben. Dahinter steckt der verzweifelte Versuch, die geraubten Ländereien abzusichern und deren Verteidigung notfalls als Gewährleistung der territorialen Einheit Russlands zu deklarieren. Was für ein Zufall, dass die russische Verfassung für einen solchen Fall die Generalmobilmachung vorsieht. Es ist nicht auszuschließen, dass Moskau bei all dem womöglich längst darauf abzielt.
Erinnerung an das Nuklearpotenzial
Zum Ende seiner Rede gibt Putin schließlich noch die Gründe für die Teilmobilmachung bekannt. Beruhigend sagt er, die Mobilisierung neuer Truppen betreffe ausschließlich Bürger, die sich aktuell in der Reserve befänden und zudem über eine militärische Grundausbildung verfügten. Diese Leute würden mit sofortiger Wirkung in die Armee eingezogen und eine ausführliche Ausbildung mit Blick auf die Spezialoperation in der Ukraine erhalten. Darüber hinaus würden ihre Familien sämtliche Zuwendungen in Anspruch nehmen können, die Kriegsteilnehmern zustehen. Sämtliche Fragen über die Bereitstellung von Finanzen und Material müssten nun unverzüglich von der Regierung geklärt werden. Seine Rede beschließt Putin mit einer eindringlichen Botschaft, die ich hier im O-Ton wiedergeben möchte:
„Verehrte Freunde! In seiner aggressiven, antirussischen Politik hat der Westen alle roten Linien überschritten. Permanent vernehmen wir Drohungen gegen unser Land und unser Volk […] Gegenwärtig kundschaftet die NATO ganz Russland mithilfe moderner Flugzeuge, Schiffe, Satelliten und strategischer Drohnen aus. In Washington, London und Brüssel drängt man Kiew dazu, die Kriegshandlungen auf unser Territorium auszuweiten. Unverhohlen wird darüber gesprochen, das Russland mit allen Mitteln auf dem Schlachtfeld geschlagen werden müsse – und zwar mit dem Ziel, es seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen – ja sämtlicher Souveränität – zu berauben [Anmerkung: dies ist der durchschaubare Versuch Putins, die Bekämpfung seiner Regierung als Kampf gegen Russland darzustellen]. Es geht um die vollständige Beraubung unseres Landes. Begonnen hat längst auch eine nukleare Erpressung. Dabei geht es nicht nur um den westlichen Beschuss des Atomkraftwerks von Saporischschja, wodurch eine Katastrophe droht, sondern auch um die Verlautbarungen einiger westlicher Anführer in Politik und Militär über den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Russland.
Jenen, die sich derartige Erklärungen an die Adresse Russlands erlauben, möchte ich in Erinnerung rufen, dass auch unser Land über ein Nukleararsenal verfügt, das aus verschiedenen Komponenten besteht und moderner ist als das der NATO-Staaten. Im Falle einer Bedrohung der territorialen Einheit unseres Landes, aber auch zum Schutze Russlands und unseres Volkes, werden wir ohne Zweifel sämtliche verfügbaren Mittel einsetzen. Das ist kein Bluff!
Die Bürger Russlands können sich sicher sein, dass die territoriale Einheit unserer Heimat sowie unsere Unabhängigkeit und Freiheit sichergestellt sein werden: und zwar mit sämtlichen verfügbaren Mitteln – das unterstreiche ich noch einmal. All jene aber, die versuchen, uns mit Nuklearwaffen zu erpressen, mögen wissen, dass sich der Wind auch in ihre Richtung drehen kann. Es liegt in unserer historischen Tradition und dem Schicksal unseres Volkes, jene aufzuhalten, die nach der Weltherrschaft streben und unsere Heimat, unser Vaterland, mit Teilung und Zerstörung bedrohen. Wir werden das auch jetzt tun. So wird es sein. Ich glaube an Ihre Unterstützung!“
Nach sechs Monaten Krieg steht Wladimir Putin mit dem Rücken zur Wand. Seine Streitkräfte sind ausgeblutet, stark dezimiert und moralisch am Ende. Indem er sich nun für die Teilmobilmachung der russischen Reserve entschieden hat, hat er die letzte Chance auf einen rechtzeitigen Ausstieg aus dem Krieg verpasst, bevor dieser vollends eskaliert.
Mit jeder Niederlage, die Russland von jetzt an in der Ukraine erleidet, werden sich die Radikalität, aber auch die Risikobereitschaft Putins weiter steigern. Mittlerweile habe ich keine Zweifel mehr, dass er letztlich auch vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen nicht zurückschrecken wird. Das Leben tausender Menschen ist ein Preis, den der russische Präsident nur allzu gern bezahlt, um seine Herrschaft im Kreml zu verlängern. Das Zeitfenster, innerhalb dessen sich das russische Volk darüber klar werden muss, ob es einen anderen Präsidenten haben oder notfalls mit Putin untergehen will, beginnt sich zu schließen. Dass die Dringlichkeit dieser Entscheidung nicht nur größer, sondern auch unausweichlich geworden ist, dürfte der einzig positive Effekt sein, den die Teilmobilmachung hat.
Christian Osthold ist Historiker und hat in russischer Geschichte promoviert. Seit 2001 hat er Russland mehr als 30-mal bereist sowie Archivaufenthalte in Moskau und Grosny absolviert. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten hat Osthold 2015 als einziger deutscher Historiker für mehrere Monate in einem tschetschenischen Dorf gelebt. Aus dieser Tätigkeit ist 2019 die erste vollumfängliche Gesamtdarstellung zum Tschetschenien-Konflikt hervorgegangen. Als intimer Russlandkenner schreibt Osthold für verschiedene Zeitungen und Journale, darunter Focus Online, NZZ, Cicero etc. Darüber hinaus ist er regelmäßig in Fernsehsendungen zu sehen, zuletzt bei der Deutschen Welle. Christian Osthold spricht fließend Russisch und ist mit einer Russin verheiratet.