Peter Levin, Gastautor / 08.04.2024 / 06:10 / Foto: Pixabay / 39 / Seite ausdrucken

Lob der Spaltung

Spaltung zu beklagen, adelt keineswegs. Die Klage über Spaltung ist allzu oft das gewinnbringende Spiel mit den Vorzügen derselben.

Spaltungen in Politik und Gesellschaft werden vorschnell beklagt. Es gibt keinen Grund, diese zu verdammen, ohne Nutzen und Nachteil abzuwägen. Spaltungen auszuhalten, gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften unserer Kulturentwicklung. Sie voreilig für überwindbar zu erklären, ist ideologieverdächtig. Ohne die Fähigkeit, ambivalente Gefühlslagen auszuhalten, wäre der gesellschaftliche Umgang ein Hauen und Stechen.

Das politische Leben der Republik entsteht erst in der Spaltung. Jene, die Spaltung überwinden wollen, beenden meist die Republik durch apolitische Spaltungsüberwindungsmanöver. Die Überwindungsversuche sind eine chronische Krankheit, die jeder gesunden Republik zusteht. In Deutschland nimmt diese Erkrankung gerade einen gefährlich akuten Verlauf. Die Symptome der Akutphase sind immer die gleichen: dem schönen Schein das Wort reden und gleichzeitig die darunter lauernde Katastrophenlust anstacheln.

Ganz selbstverständlich gehen wir mit den Vorzügen der Spaltung um. War eine Beziehung gnadenlos, sind Scheidungsgerichte und digitale Schnitttechniken (Photoshop) eine entscheidende zivilisatorische Errungenschaft. Die Spaltung wird symbolisch vollziehbar, und die Lust, den Anderen zu zerstören, ist damit gebannt. Der Andere darf nach der Trennung weiterleben und bekommt eine neue Chance. Ein klarer Schnitt kann Leben erhalten – Notärzte und Geburtshelfer erlernen Schnitte, die das Leben retten können.

Wer die intensive Spaltung der amerikanischen Gesellschaft erlebt hat, kann diese beklagen und auch daran verzweifeln. Hier gibt es nichts zu beschönigen. Sie ist so offensichtlich, dass kaum jemand versucht, sie abzustreiten. Dabei wird oft vergessen, dass gerade diese Spaltung unglaubliche persönliche und politische Vermittlungsanstrengungen hervorgebracht hat. Wer kann sich hierzulande die Geste des Generals Ulysses Grant vorstellen, der noch am Tag der Kapitulation der Armee der Südstaaten im Bürgerkrieg sagte, dass die gefangengenommenen Soldaten, die gestern noch Feinde waren, heute Landsleute sind und Sieges- und Triumphgeschrei unangemessen ist.

Wer von unseren Politikern und Soldaten der medialen Kriegsschauplätze traut sich, so zu sprechen, und wie lange würde es dauern, bis die öffentliche Karriere dieser Mutigen beendet wäre? Aufgrund dieser mutigen Vermittlungsarbeit wurde Ulysses Grant zum 18. Präsidenten der USA gewählt.

Vor Kurzem hat die einstimmige Entscheidung (9 zu 0) des Obersten Gerichts die undemokratischen Versuche, die Kandidatur eines unliebsamen Politikers zu verhindern, für illegal erklärt. Offenbar gibt es über alle Gräben hinweg eine gemeinsame Basis, wie in einer Republik mit Widersprüchen umgegangen werden kann. Wie verlogen die aktuelle politische Okkupation dieses Themas ist, würde offensichtlich, wenn einer der staatlichen Erinnerungsakteure die permanente Beschwörung der Spaltung mit dem Vorwurf der „Zersetzung“ in der nationalsozialistischen Propaganda vergleichen könnte. Dieser Vorwurf richtete sich gegen die politischen Gegner, aber auch gegen Juden. Juden galten per se als spaltend.

Spaltung zu beklagen, adelt keineswegs. Die Klage über Spaltung ist allzu oft das gewinnbringende Spiel mit den Vorzügen derselben. Jene, die den hierzulande grassierenden Scheintod des Sozialen und des Sozialstaates besser ertragen als die schmerzliche Polarisierung in den USA, sind weder einfühlsamere Menschen noch bessere Politiker. Es scheint eher eine Gemütsfrage als eine politische zu sein. Die einen wollen lieber lebendig und aufregend leben, als lebendig begraben sein; und wenn es das Schicksal so will, sind sie bereit, verfrüht und möglichst in Würde zu sterben. Die anderen mögen es, sich in Sicherheit zu wissen und lieber den Ball flachzuhalten. Solche Gemütsunterschiede kann weder Politik noch Therapie mir nichts, dir nichts ändern.

Gegen das „Dämonische“

Bei der Klage über Spaltung spielt der politische und apolitische Charakter einer Generation oder Nation eine bedeutsame Rolle. Daher haben die großen Geister unserer Nation auch die klarsten und hellsichtigsten Kommentare zu dieser Klage verfasst. Kaum eine literarische Verarbeitung der lauernden Katastrophenlust geht derart unter die Haut wie die „Die Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang von Goethe. Die tiefgreifendsten Versuche, zumindest das Geistige vor den schizoiden Fluten der nationalistischen und sozialistischen Katastrophe zu bewahren, verdanken wir dem Theologen Paul Tillich und dem Anthroposophen Rudolf Steiner.

Beide haben versucht, die Spaltung des Geistes gegen die spaltungs-überwindenden Kräfte ihrer Zeit zu bewahren, vor allem gegen die Diktatur des Blutes im Nationalsozialismus und die Diktatur der Mehrheit im Bolschewismus. Beide haben versucht, die menschliche Gespalten- und Zerrissenheit in der „Entscheidung“ und „Tat“ dem Sog ihrer ideologischen Überwindung in den politischen Bewegungen ihrer Zeit zu entziehen. Steiner hat der ideologischen Diktatur der Einheit die „soziale Dreigliederung“ entgegengehalten. Tillich hat sich sowohl in seinem Aufsatz von 1926 gegen die Spaltung des „Dämonischen“ als auch gegen die Dämonisierung der Bündnisse zwischen sozialistischen und bürgerlich-konservativen Kräften jenseits aller Parteizugehörigkeit gestellt. Noch 1932 veröffentlichte er sein Buch über „die Sozialistische Entscheidung“, um die Katastrophe mit einem solchen Bündnis abzuwenden. 1933 musste er sofort das Land verlassen.

Was hilft? Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit!

Bündnis ist wie Ambivalenz ein Begriff, der Spaltung voraussetzt und die Überwindung dieser nur bei Wahrung der Widersprüche gelten lässt. Die aktuellsten und hellsichtigsten Analysen der Katastrophenlust landen daher immer auch bei der Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit. Sowohl die Kinderanalytikerin Melanie Klein als auch der größte Analytiker der Katastrophenfaszination unserer Zeit, der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, haben auf Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit gesetzt. Daher konnten sie Nutzen und Nachteil der Spaltung realistisch abwägen.

Beide haben die Kosten der katastrophischen Überwindung der Spaltung für die menschliche Psyche (Klein) und die menschliche Gattung (Heinrich) mutig benannt. Die katastrophische Überwindung führt in die Regression und endet in psychotischen Zuständen größter Panik. In dieser Dynamik können Katastrophen als Erlösung aus Zerrissenheit und Spaltung sowohl propagiert als auch in Vernichtungsfeldzügen realisiert werden. Beide Lösungen sind typisch menschlich; nur die Neigung zur romantischen Katastrophensehnsucht ist in unserem Land besonders stark ausgeprägt. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der Unfähigkeit zum Politischen und der mangelnden Bereitschaft, die Widerständigkeit der Realität gegenüber Illusion und Phantasie anzuerkennen.

Die ständige Mobilisierung der Katastrophenlust kann durchaus in die Katastrophe kippen. Kürzlich hat der Publizist Boris Blaha die Ähnlichkeiten der gegenwärtigen Situation mit den Massenmobilsierungen vor dem Ersten Weltkrieg und dem Versuch des Kaiserreichs, die Sozialdemokratie zu zerstören, herausgearbeitet. Wenn heute die untergehende Sozialdemokratie im Modus der Selbstzerstörung sich mit Methoden am Leben erhalten will, die sie damals mit in den Abgrund gerissen hat, zeigt dies den apolitischen Charakter und ahistorischen Wiederholungszwang deutscher Politik. Die Diskrepanz zwischen dem lauten Geschrei über die kleinen Spalter und dem beredten Schweigen über die große Spaltung könnte größer nicht sein. Sie ruft nach Entladung. 

Von den Müttern und der Religion lernen

Tatsächlich können wir in den Religionen eine historische Tatsache klarstellen: Die Spaltung entsteht nicht durch neue Ideen an der Peripherie, sondern im Zentrum selbst. Es ist der Fundamentalismus des Glaubensbekenntnisses, der zur Glaubenswut der Eiferer im Zentrum der religiösen Macht führt. Das Bekenntnis und der Glaube selbst (das Credo) sind gespickt mit Widersprüchen, die die Gläubigen zu zerreißen drohen. Die Aggressivität des fundamentalistischen Sektierertums ist eine Reaktion auf die Zerrissenheit des Zentrums. Die christliche Vorstellung der Drei-Einigkeit Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist ist der Versuch, diese Zerrissenheit als Dreiecksbeziehung oder Familienkonstellation zu balancieren. Die Trinität, als die Trennung der einen Gottheit in drei, ist Christen so wichtig wie jedem ernsthaften Demokraten die Trennung der drei Gewalten in der Republik. Vermittlungen und Balancierung sind möglich und realistisch. Die Religionen sind ein Reservoir der gelingenden und misslingenden Vermittlungs- und Balancierungsversuche.

Der Vorwurf der Spaltung geht hier ins Leere, denn diese bilden lediglich die Wirklichkeit nach. Diese ist vielschichtig, geprägt von Widersprüchen und Spannungen. Die zu ertragen, ist die Aufgabe der religiösen Praxis. Sie zu vermitteln, wäre die Aufgabe des politischen Prozesses, der heute leichtfertig verweigert wird. Die selbsternannten Überwinder der Spaltung zementieren diese und dämonisieren eine Seite. Spaltung ist ein medialer Begriff, also ein Begriff, der den Prozess der Vermittlung (Mediation) unterstellt. Diesen zu verweigern, führt – spirituell und politisch – zum Desaster. So wird die Trennung der drei Gewalten durch deren Harmonie in der Gewaltenteilung ersetzt. Das Entstehen der „vierten Gewalt“ ist heute zum Inbegriff der Katastrophenlust und Verwässerung der Gewaltentrennung geworden. Mit der „Geistlosigkeit der Universitäten“ haben sich auch die letzten Refugien der Vermittlung selbst aufgelöst. Seither könnte uns allen klar sein, dass die eigentliche menschliche und politische Aufgabe darin besteht, die Spaltung im Zentrum zu bewahren.

Die einfachste Art, die Spaltung politisch zu kapitalisieren, besteht darin, ständig von ihr zu reden und diese selbst gleichzeitig zu leugnen. Dieser „Trick“ ist so alt wie die Spaltung selbst. Wie die Kinderanalytikerin Melanie Klein beobachtet hat, können Babys am Anfang die „gute Brust“ der stillenden Mutter nicht mit der „bösen Brust“ der abstillenden oder abwesenden Mutter in einer Person vereinen. Sie „verleugnen“ die Realität, indem sie die Brust zwei verschiedenen Personen zuschreiben. Mit Glück und einer „good enough mother“ (ausreichend-guten Mutter) schafft das Kind diese erste große Leistung der Ambivalenz-Fähigkeit. Die Wortschöpfung „good enough mother“ stammt von einem der berühmtesten Schüler Melanie Kleins, von Donald Winnicott. Sie ist eine schmerzliche Absage an die Forderungen nach perfekter Mutterschaft in einer Generation, der die Erfüllung ihrer grenzenlosen Bedürfnisse und Gerechtigkeitsforderungen versprochen wurde.

Zwanghafte Aufhebung der Spaltung

Auch für den Zwang, die Spaltung aufzuheben, gibt es eine ebenso schöne wie einleuchtende Erklärung in der Religionsgeschichte, die Rede des Aristophanes beim Symposium des Sokrates über die Liebe. In dieser Rede wird der Ursprung der Liebe aus der Zerschneidung der Kugelwesen abgeleitet. Melanie Klein und Aristophanes waren sich einig: Liebe entsteht durch Spaltung. In seiner berühmten Rede erzählt Aristophanes aus der Frühzeit der Gattung, als wir Menschen noch Kugelwesen mit zwei Gesichtern und zwei Geschlechtsteilen waren. Die Kugelwesen waren aufmüpfig und ihre Hybris so groß, dass sie auf die Idee kamen, das Reich der Götter mit weltlicher Gewalt erobern zu können.

Die Antwort der Götter war chirurgisch und nachtragend. Die Kugelmenschen wurden in der Mitte zerschnitten, die Köpfe um 180 Grad nach hinten gedreht. Der Blick sollte immer auf die Schnittfläche gerichtet sein. Die Kugelwesen wurden zwanghaft und depressiv, hatten nur noch eines im Sinn: die Vereinigung mit ihrer anderen (besseren?) Hälfte. Da Geschlecht und Gesicht in gegensätzliche Richtungen zeigten, war dies praktisch unmöglich. Da erwiesen sich die Götter als gnädig und drehten das Gesicht wieder auf die Vorderseite. Die ursprüngliche Einheit war mythologisch; ihre Wiederherstellung praktisch und haptisch – die liebevolle Umarmung und sexuelle Wiedervereinigung.

War die ursprüngliche Einheit in sich gespalten, ist die Wiederherstellung nur noch damit befasst, ihre Spaltung zu überwinden. Die Arbeit der Heilung der Schnitte ist bei Aristophanes weder chirurgisch noch psycho-politisch. Das ist der Realismus des Aristophanes und der Religionen, der allen drei Berufsgruppen, die sich im Moment als Spaltungs-Überwindungs-Experten anbieten – Politiker, Wissenschaftler, Traumatherapeuten – eine klare Absage erteilt. Von Aristophanes können wir lernen: Menschen ohne Spaltung gibt es nicht; wer sich in eine Welt ohne Spaltung imaginiert, landet in einer Welt ohne Liebe.

Gefährliche Überwindung der Spaltung

Liebe ist ebenso apolitisch wie die heutigen Visionen einer über allem stehenden, ausgleichenden Gerechtigkeit. Diese Visionen verhindern die politische Lösung der brisanten Menschheitsfragen, indem sie Spaltung als Problem propagieren und zugleich die Rezepte ihrer Heilung mitliefern. Diese sind lieblos und apolitisch. Außer chirurgisch-therapeutischen und sozial-technologischen Eingriffen gibt es keine Angebote, die Effekte der Spaltung erträglich zu gestalten. Angesichts dieser Phantasie und Planlosigkeit wird ein Paradoxon immer deutlicher: Ausgerechnet jene, die sich sonst als progressiv und als Kämpfer für die gerechte Einheit geben, zeigen sich zunehmend konservativ.

Sie setzen darauf, die Überwindung der Spaltung in die Hände des beständigen Staates zu legen. Sie glauben, dass dieser über allen Einzelvorstellungen von Gerechtigkeit steht und einheitsstiftend wirkt. Schon Sigmund Freud hatte die Aristophanes-Geschichte zur Verdeutlichung seiner Idee der konservativen Natur der Triebe herangezogen. Klaus Heinrich hat mit Freuds Formulierung auf Platons politische Umdeutung der Erzählung in die „konservative Natur des Staates“ hingewiesen.

Diese Umdeutung plagt uns heute mehr denn je. Wir spüren die direkte Linie von Platons weißen Lügen zur Rechtfertigung wohlfahrtsstaatlicher Propaganda und der Vormachtstellung selbsternannter Deutungseliten. Wer die konservative Natur des Staates anzweifelt, wird heute beschuldigt, den Untergang der Republik zu planen. Die Klage über Spaltung ist zur Waffe der spaltungsüberwindenden Klasse geworden. Die Gesten und Gesetze des modernen Wohlfahrtstaates spielen in der Krise bewusst mit unseren Spaltungsängsten, obwohl doch immer klarer wird, dass das alternativlose Entweder-Oder nicht das letzte Wort sein wird. Einheit oder Spaltung, Vereinigung oder Zersetzung, Liebe oder Liebesentzug – das sind medial inszenierte Gegensätze, die immer weniger darüber hinwegtäuschen können, dass sie zur Waffe einer fundamentalistischen Realpolitik geworden sind.

Der Fundamentalismus in Religion und Politik ist der Versuch, die innere Spaltung an der Peripherie abzuarbeiten und die Hitze der inneren Widersprüchlichkeit des Glaubensbekenntnisses im Terror gegen Ungläubige abzukühlen. Sowohl die christliche als auch die politische Botschaft wäre: Spaltung ist das Zentrum der Realität; wir können sie nicht „überwinden“, müssen uns in Ambivalenz üben und Bündnisse schließen; die Liebe zum Nächsten ist etwas völlig anderes als die Liebe zur Republik, beide sind gleich wichtig. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ (Hannah Arendt) und der Sinn von Religion ist die Praxis der Ambivalenz. Beide leben vom Bündnis. Das ist anstrengend und oft auch deprimierend, kann uns aber davon abhalten, die Früchte der überwundenen Spaltung – Selbstüberhöhung und Deutungshoheit – leichtfertig zu genießen.

Spaltung ertragen

Egal wie wir die Lage einschätzen und die Frage hin- und herwenden, am Ende werden die destruktiven Effekte der Spaltung nur überwunden, wenn wir diese ertragen. Die alles entscheidende Frage ist, wie diese ertragende Überwindung möglich und einigermaßen stabil sein wird. Die christliche Antwort ist stabil: Wir blicken auf das Kreuz als Symbol, das Spaltung und ihre Überwindung verkörpert. Immer wieder gelingt es uns auch, das Kreuz selbst zu tragen. Wer das erleben will, muss suchen – nicht in den großen Kirchen oder bei deren Kurie – und wird immer noch fündig.

Die politische Antwort ist dagegen weniger stabil. Unsere nationale Geschichte ist hier ein Abbild der Gattungsgeschichte. Sie betont aber einseitig die romantisch-regressiven Lösungen der Spannungen; und sie setzt allzu oft auf die destruktive Wiederherstellung einer als ursprünglich angenommenen Einheit. In ihrer harmloseren Version finden wir dies in einem ausgedehnten Kontinuum von der sozialstaatlichen Pädagogik bis zur Ökobewegung und Esoterik des New Age.

Notorisch ist sie aber in den Vernichtungskriegen des 20. Jahrhunderts geworden. Das große Abschlachten wurde anfangs immer auch als Entlastung der inneren Spaltung und Rückkehr in einen widerspruchsfreien Urgrund empfunden. Es beunruhigt sehr, dass diese Tradition wieder massiven Zulauf bekommt. Sie ist entschieden a-politisch und militant in der Verfolgung ihrer Ziele; sie verwischt die Grenze zwischen den Anmaßungen einer globalen Menschheitstherapie und den Ansprüchen einer religiösen Heilslehre; ihre Anhänger changieren zwischen universeller Traumatherapie und Terrorismus.

Da sie die Spaltung brauchen, um ihre Aktionen zu rechtfertigen, tragen sie diese wie ein Kreuz vor sich her. Zugleich mokieren sie sich gerne über das reale Kreuz. Manche können sich vielleicht noch an den Versuch der taz in den 1980ern erinnern, sich in einem reißerischen Artikel über das am Kreuz hängende Fleisch lustig zu machen. Die Kinder dieser Zeit und Zeitung zeichnen sich durch ihren religiösen Eifer und ihre Freude an einer destruktiven Entladung der Spaltung aus. Sie flippen aus, wenn wir dem Rat der Großen folgen und ihre „Katastrophen auslachen“. Das werden sie wohl ertragen müssen. Wir ertragen schon lange ihre Katastrophenlust.

Peter Levin hat im Paul-Tillich-Haus am Religionswissenschaftlichen Institut der FU Berlin studiert. Er lehrt und forscht in der ganzheitlichen Medizin und lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Ilona Grimm / 08.04.2024

@Gregor Waldersee an Wilfried Cremer: Schon hundertmal bin ich versucht gewesen, Herrn Cremer um eine Entschlüsselung seiner Texte zu bitten. Ein geübter Christ ahnt ja zumindest, was er sagen will. Ein Nichtchrist wird im Regen stehen gelassen. Das finde ich schade, weil es niemandem nützt. „Nichts daran ist kompliziert“, wenn man sich die klaren Worte Jesu zum Vorbild nimmt.

Ilona Grimm / 08.04.2024

@Johannes Schuster: Sie könnten durchaus recht haben mit Ihrer Aussage, das Christentum sei in seinem Wesen atheistisch und diene SPQR. (Ich lach mich kaputt, das ist mal originell!) Allerdings verwechseln Sie hier Menschen (Christenheit), die sich aus häufig opportunistischsten Gründen Christen nennen und gern die geistliche Obrigkeit bilden, mit denen, die wirklich Christen sind. Echte Christen (wiedergeborene Christen/Osterchristen) geben sich nämlich alle Mühe, dem Vorbild Jesu Christi nachzueifern und diesen Christus als Dreh- und Angelpunkt, Eckstein und Leuchtfeuer des eigenen Lebens anzunehmen, d.h. die Lehre Christi (Christentum) zu verkörpern suchen. Und diese Christen dienen nur einem, und dieser ist →Gott der Vater, Gott der Sohn = Jesus Christus und Gott der Heilige Geist←. Aber ganz bestimmt nicht SPQR!!! - - - SPQR wird im Zornesgericht Gottes meiner persönlichen Auffassung nach die Rolle des zutiefst antichristlichen „Endzeitlichen Diktators“ (= ‚Tier aus dem Meer’ und vorübergehender Genosse des ‚Tiers aus der Erde’; beide nach Offenbarung 13) spielen. Wobei ich eine Verschmelzung der beiden Roms (EU-Rom und RK-Rom) sehe. Aber dazu gibt es natürlich auch andere Meinungen…

Richard Loewe / 08.04.2024

was Grundsätzliches: die Griechen (auf die rekurriert der Autor ja) kannten das Abstrakte nicht. Somit geht die Liebe für ein Konzept (den Menschen, die Demokratie, etc.) komplett ins Lehre. Am schönsten eingefangen wird das in der Theorie der Zirkel der Sympathie der Stoiker, die ja die Grundlage für die ersten Christen war. Um uns herum sind konzentrische Kreise, im ersten sind ganz nahe Menschen und dann geht raus bis zu Menschen, die wir nie getroffen haben und nie treffen werden. Wir können und sollen nur die lieben, die uns nah sind. Nächstenliebe schafft Freunde, Liebe, Eltern, usw. Der Gegenentwurf, den Rawls entworfen hat (original position, veil of ignorance, alle sind gleich) schafft Liebe komplett ab und ersetzt sie durch das abstrakte Nichts. Was wir gerade beobachten, ist der Zusammensturz der entleerten Philosophie vom Menschen. Man schaue sich vor allem die gegenwärtigen Grünengesichter an - dann versteht man sehr gut, wie unreflektiert, ratlos und ungebildet die rawlsche Lehre wirklich ist. Danach wird es wieder besser.

Dirk Jungnickel / 08.04.2024

Wenn Spaltung “von oben” betrieben wird, um eine unliebsame Partei zu diskreditieren , muß diese benannt und politisch bekämpft werden. Spaltung einer Gesellschaft hat dann eben keine Berechtigung und sollte aus dem Demokratieverständnis gestrichen werden. Spaltung sollte nicht mit Diversität verwechselt werden !

Ilona Grimm / 08.04.2024

Worin zeigt sich für mich „Spaltung“? ♦ Seit vier Jahren bin ich nicht mehr in München gewesen, wo ich zuvor mindestens 2x im Monat Freunde und Bekannte getroffen und mit ihnen gegessen, diskutiert und Spaß gehabt habe. Die Freunde und Bekannten gibt es nicht mehr. Einige haben mich aussortiert, einige sind gestorben und den Rest habe ich vernachlässigt. Spaltpilz (SP) Nr. 1 = Corinna; SP Nr. 2 = „Impfung; SP Nr. 3. UA/USA/NATO/EU/RU. Und so weiter und so fort. ♦ Spontane Gespräche mit Wildfremden oder Seh und Grußbekanntschaften habe ich mir abgewöhnt, weil zu gefährlich wegen „Meldestellen“-Stasi. Immer öfter wird mir bewusst, dass ich sogar allein zu Hause meine Lippen fest aufeinander presse, damit mir nicht versehentlich Sätze entschwirren, die ich tunlichst nicht mehr sagen sollte. Man muss das Klappehalten ja üben. Zumindest dann, wenn man im Westen aufgewachsen und das ist, was der Brite „outspoken“ nennt. Wenn man also einen Überwachungs- und Denunziantenstaat bislang nicht kannte. Und sich einen „Verfassungssschutz“, der Kritik an allem, was die Regierung und der homogene Parteienblock liebt, bei drakonischen Strafen (auch ohne eigentliche Strafwürdigkeit) unterbindet, auch in seinen allerschlimmsten Zukunftsvisionen nicht hätte ausmalen können. In Gesetze gegossenes Unrecht ist für mich immer noch Unrecht. Ich bin keine „Rechtspositivistin“. Und ich bin keine Nationalsozialistin, obwohl ich von denen, die mich nicht leiden können, mit Kurzwort als eine solche beschimpft werde. Gewöhnt man sich daran? Will ich mich daran gewöhnen?

Thomas Szabó / 08.04.2024

Der Übergang von der gespaltenen Demokratie zur einheitlichen Diktatur und zurück: Die Demokratie ist der gelebte Kompromiss mit der natürlichen Spaltung der Gesellschaft. ♦ Die Diktatur versucht diese als unerträglich empfundene Spaltung künstlich zu kitten. Sie propagiert eine Art Rückkehr ins Mutterschoß, ins Paradies, ins Elysium, eine als Wiedergeburt geframte Geburt Rückwärts. Sie propagiert einen (niemals existiert habenden) konfliktlosen Urzustand der wieder herzustellen ist. Sie ist eine Art Flucht vor der Realität, vor der natürlichen Spaltung der Welt, eine simplizistische künstliche Überwindung aller Konflikte. Sie propagiert eine natürliche Einheit die in Wirklichkeit eine künstliche Einheit ist. Die künstliche Einheit bemüht sich die natürliche Spaltung mit Druck zu überwinden. Der aufgestaute innere Druck sprengt die Diktatur. Die Spaltung wird wieder hergestellt und die Demokratie entsteht neu. ♦ Die Demokratie lebt aus dem Kompromiss mit der Spaltung. Wenn die Spaltung unerträglich groß wird, weil die Teilnehmer der Demokratie sich zu sehr von einander unterscheiden, dann droht die “natürliche demokratische Spaltung” die Demokratie zu sprengen, die endgültige Spaltung, wo Kompromisse nicht mehr helfen, kann nur noch mit Druck (Diktatur) unterbunden werden. Die Demokratie lässt sich nur noch diktatorisch (künstlich) halten. Der Druck sprengt die Demokratie. Es kommt wieder zur Diktatur. ♦ Demokratie & Diktatur, liberale & konservative Zeiten wechseln einander zyklisch ab. ♦ Demokratie heißt mit der Spaltung leben, Diktatur heißt die Spaltung zu beenden. Wenn ein Leben, Kompromiss mit der Spaltung möglich ist, dann haben wir eine Demokratie, sonst eine Diktatur. Demokratie & Diktatur erden von der Spaltung geboren & gesprengt. Qualität, Quantität der Spaltung, der (machbare) Umgang damit bestimmen das System: ob Demokratie oder Diktatur. Und jetzt brauche ich einen Konzil von 200 Theologen, um zu verstehen was ich geschrieben habe.

Helmut Driesel / 08.04.2024

  Das den jüdischen Glauben begründende göttliche Versprechen richtete sich an ein Kollektiv. Den Widerspruch zwischen individuellem Egoismus und kollektivem bewusst unterdrückend. Der natürliche Egoismus ist da gespalten, je nach Problemlage und Kampfplatz. Je nach Macht. Ja sogar die Situation “Familie” lässt sich nach oben hin skalieren. Nach unten hin ist nur das Individuum. Wo die Evangelisten noch die Kollektive der Gemeinden ansprachen, wendet sich der fiktiv lebendige Gott inzwischen bevorzugt an das Individuum. “Du sollst nicht…” Oder ins Spalterische übersetzt:  “Du sollst den Gottesdienst nicht ohne Kollekte verlassen!” Es gibt aber keine Verwirklichung ohne Macht. Schon gar nicht so etwas wie Selbstverwirklichung. Den eigenen Egoismus muss ich dem Kollektiven entreißen, der wird sich wehren, denn das ist ja Abspaltung. Habe ich also einen eigenen Willen oder nur den des Kollektivs? Gelingt es mir oder werde ich als Versager dastehen? Wenn ich das Sein studieren möchte, beginne ich beim Müßiggang oder bei der Arbeit? Ich hasse Goethe, denn der hat mir alles kaputt gemacht. Goethe der Spalter von Gut und Böse. Mit seinem Kampf gegen das Kollektiv. Ein Vorbild? Unmöglich. Ein fauler Sack. Aristokratenbüttel. “Das Allerhöchste, Reinste!” Degeneration in Reinkultur, wahrscheinlich unfähig, sich ein paar Bratkartoffeln zu braten.

Michael Müller / 08.04.2024

Es gibt immer wieder Kommentare, da fällt einem gar nichts mehr ein. Jetzt ist das Christentum auf einmal keine Religion. Aber noch besser ist folgender Kalauer: “Der Antisemitismus zu verstehen als Staatsreligion gegen den Sinai ist damit auch Programm und erklärt z.B. Englands Eifer für die Fütterung der Hamas genau so wie den Hitler - Vorläufer Luther, den man immer an seinen Tischgesprächen messen muß.” Also: Das Christentum ist keine Religion, dafür ist der Antisemitismus als Staatsreligion gegen den Sinai zu verstehen. Und das erklärt dann Englands Eifer für die Fütterung der Hamas und gleichzeitig Luther. - Klar, was ‘n sonst? Das Erstaunliche ist aber, dass ein anderer Forist auf so einen Beitrag auch noch ganz ernsthaft eingeht und eigentlich recht beziehungslos dann irgendwas von Jesus und Liebe von sich gibt, das er aus irgendeinem Katechismus hat und auswendig runterspult. Und so geht das hier im Forum eigentlich ständig ab. Kein Wunder, dass Leute, die nur mal so hin und wieder bei der Achse vorbeischauen, über das Publikum im Forum “leicht” irritiert sind.

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