Kann der deutsche Staat die Juden schützen?

Judenhass und Israelhass gehören zusammen. Sie vereinen Antisemitismus. Und Bildung schützt nicht vor diesem Phänomen.

Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.

Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, 
Ward dir wunderlich zu Mut, 
Und die liebefrommen Tätzchen 
Färbtest du mit meinem Blut!

Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie Du.

Hier sprach nicht nur Heines literarisches Ich, auch sein persönliches. Er irrte leider. Deutschlands und Europas Juden „rasten“ bzw. tobten nicht. Sie ließen sich töten. Deshalb sagt die Mehrheit der jüdischen Welt: „Nie wieder Opfer!“ und „Notfalls töten, um das Morden zu beenden“. Richtig. Hingegen haben aufgeklärte Deutsche aus ihrer Geschichte die für sie selbst ebenfalls richtige Lehre gezogen: „Nie wieder Täter!“ Erinnerung und Geschichte als Falle, nicht Brücke. Dabei vergessen viele Deutsche gern diese Tatsache: Die Freiheit, die sie im Westen seit 1945 und im Osten seit 1990 genießen, wurde nur dadurch möglich, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Millionen Deutsche und ihre Helfer töteten, um das deutsche Massenmorden zu beenden. Heute (nicht damals) spricht man vom Kriegsende 1945 als „Befreiung“. Allein, ohne Hilfe von außen, konnten sich „die“ Deutschen nicht von den NS-Verbrechern und letztlich von sich selbst befreien. „Töten, um das Morden zu beenden“. Eigentlich müsste es jeder Deutsche angesichts der deutschen Geschichte verstehen.

1974 bereits diffamiert

Zwei judenpolitische Ebenen verlaufen parallel und simultan. Ebene eins: Gedenken an das Pogrom der Reichskristallnacht und „Nie wieder Auschwitz!“. Ebene zwei: Schon lange vor dem „Tod den Juden“-Gebrüll am Kurfürstendamm im Juli 2014 oder im Oktober 2023 in Berlin-Neukölln grölt nicht nur der Mob jene Parolen. Vergleichbares unter den vermeintlichen Eliten. Nicht nur an der FU Berlin, nicht nur heute. 1974, volle Mensa der FU, ein linker Agitator beschimpft megafongestärkt. „Der da, Wolffsohn heißt er. Er ist ein Faschist, er war in der Armee Israels.“ Heute antijüdische Hasstiraden selbst an Eliteuniversitäten wie Harvard, Yale, Princeton oder Cornell, Oxford, Cambridge und London oder an der Sorbonne. Ohne Bezug auf den Jüdischen Staat, den es noch nicht gab, wohl aber auf „die“ Juden hörte sich das in Hitlers Reich nicht viel anders an, und zwar schon lange vor der Pogromnacht vom 9. November 1938 und von NS-Studenten bereits vor der Machtübergabe an Hitler. Die Mehrheit der deutschen Professoren gehörte 1933 zu den ersten „Märzgefallenen“, also zu denen, die sich schnellstens mit dem NS-Staat identifizierten und solidarisierten.

Schlussfolgerung eins: Bildung schützt weder vor Torheit noch Antisemitismus oder Unmenschlichkeit. Es ist gut und bestens gemeint, wenn heutzutage Millionenbeträge in die politische Bildung investiert werden. Bildung ist gut und notwendig. Doch naiv ist es, Bildung, ja die Aufklärung als Allheilmittel zu betrachten. Erinnert sei daran, dass unter den Philosophen der Aufklärung nicht nur Voltaire, die Ikone der Aufklärung, ein übler Antisemit war. Bildung, verstanden als Addition von Wissen, bedeutet keineswegs auch Herzensbildung. Herzensbildung, das dokumentiert auch die Soziologie der Judenbeschützer im NS-Verbrecherstaat, findet man eher bei weniger Gebildeten. Herzensbildung ist kein Vorrecht der Gebildeten, man findet sie ebenso bei Analphabeten. Meine nicht akademische Urgroßmutter Sidonie hatte es krasser formuliert: „Hochstudiert und doch saudumm.“

Nicht nur ein deutsches Problem

Schlussfolgerung zwei, bezogen auf die Gegenwart: „Tod den Juden“ und „Tod Israel“. Daran erkennen wir: Judenhass und Israelhass gehören zusammen. Ein Inhalt, ein Begriff eint sie: Antisemitismus. Von Anfang an war das so, denn ohne Judenhass kein Zionismus und kein Israel. Und seit Israel bezieht sich der Judenhass sowohl auf Israel als auch die Juden der Diaspora. So gesehen, ist Israelhass nur die geografische Erweiterung des Antisemitismus, bezogen auf das historische Ursprungsland der Juden. Wer daher über 1933 und 1938 bis 1945 redet, kann über 2023 nicht schweigen. Wegen der inhaltlichen und geschichtlichen Kontinuität.

Ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen damals und heute: 1933 und von 1938 bis 1945 betrieb der deutsche Staat die Mordmaschinerie an den Juden Europas. Heute will der deutsche Staat die Juden schützen. Er will. Aber kann er? Individuell tut er es, und dafür bin ich dankbar. Auf der Makroebene kann er es ohne amerikanische und israelische Hilfe nicht.

Nur so viel: Zweifel an der Schutzwilligkeit des deutschen Staates bestehen nicht, wohl aber an seiner Schutzfähigkeit. Nicht nur der Schutzfähigkeit seinen jüdischen Bürgern, sondern allen seinen Bürgern gegenüber. Das sowohl judenpolitische als auch allgemeine Schutzdefizit des Staates ist gegenwärtig nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein westeuropäisches.

Dies ist ein Auszug aus Michael Wolffsohns Buch: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitimus, Verlag Herder, 96 Seiten, 12,00 €.

Michael Wolffsohn, geb. 1947, ist Historiker und Publizist. Er lehrte von 1981 bis 2012 an der Universität der Bundeswehr München Neuere Geschichte.

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Gabriele Klein / 14.04.2024

@Frau Grimm: Gebe ihnen da nicht recht in diesem, recht pauschal anmutenden Urteil. Nachdem auch mich gewisse theologische Fragen umtreiben kam ich irgendwann nach gewissen “lectures” u. Lektüre zur Erkenntnis: Viele Juden sind die besseren CHRISTEN (dies ganz ohne Taufe)denn sie lehren exakt das was mir die Quintessence des christlichen Glaubens u. Botschaft d. Kreuzes scheint.(1)  Und andrerseits gibts viele Christen die mir die besseren Juden scheinen,  im Vergleich zu jenen die aufgehört haben das “Opium fürs Volk” zu rauchen u, wie viele Christen halt auch, die 10 Gebote durch 17 SDGs bzw.  kommunistisches Manifest auszutauschen. (Wie so eine neue 10 Gebote Variante lauten könnte erfahren Sie irgendwo bei H. Maxeimer a. Achgut. (1) Eine streng-jüdisch-orthodoxer Dame die aus verständlichem Grund aufs Christentum nicht so gut zu sprechen war antwortete paradoxerweise Folgendes auf eine Frage ausm. Publikum wie man mit schwersten Mißbräuchen in jungen Jahren umzugehen solle: Neben sehr weisen praktischen Ratschlägen meinte sie am Ende: “Our forefatheres sinned, our parents sinned, you have to break the chain, (and accept the suffering that goes with it)  Hierin sehe ich den tiefsten Kern der christlichen Botschaft, den viele Juden aus nachvollziehbaren Gründen sehr viel besser erkennen u. auch leben als mancher fleißig unter Juden missionierende Christ.Was Kenntnisse d.NT jüdischerseits anlangt kann ich Ihre Behauptung auch nicht bestätigen. Man kennts dort unter Gelehrten bestens, Und es gab ne Zeit wo d. Kirche nix mehr fürchtete als diese"Kenntnisse” gekoppelt mit d. Idolatrievorwurf der v. jüdischer Existenz an sich ausgeht. Da es an Argumenten a. Vorwurf/Schuld fehlte war die Antwort wie immer i.solchen Fällen statt Umkehr Verfolgung,u. Mord. Obgleich sich andre Hauptreligionen rein formell z. 1. Gebot bekennen erfolgt d.Idolatrie Vorwurf zu Recht bis heut u.begründet d.Hass a.d.Judentum d. jene die d. 1. Gebot durch sich selbst ersetzen wollen.

W. Renner / 13.04.2024

Doch Herr Wolffsohn, Zweifel an der Schutzwilligkeit bestehen! Alleine schon dadurch dass Deutschland die Feinde Israels massiv unterstützt und gleichzeitig versucht Israel zu Massregeln. Weshalb Sie das nicht sehen wollen, bleibt ihr Geheimnis, das ich weder verstehen will noch muss. Recht haben Sie damit, dass dies nicht nur ein Deutsches sondern ein europäisches, ja fast schon ein globales Problem ist.

Martin Müller / 13.04.2024

Zwar sind in der deutschen Regierung alle beim Kampf gegen Rechts engagiert, aber beim importierten und linksgrünen Judenhass und Israelhass sehe ich keinen Kampf gegen Antisemitismus. Eher das Gegenteil. Von daher sind Juden in Deutschland wieder erheblich gefährdet. “Nie wieder” ist nur eine Alibi, um unliebsame politische Meinungen zu diffamieren und zu kriminalisieren. Dazu werden die von den Nazis ermordeten 6 Millionen Juden instrumentalisiert. Aber wer stellt sich von diesen selbsternannten Kämpfern für die Demokratie und Freiheit schützend vor die heute lebenden Juden? Wo sind die Steinmeiers, Scholzes, ,Merzes und Baerbocks in der ersten Reihe bei Demos für die lebenden Juden? Ich sehe sie nicht! Höre nur ihre Lippenbekenntnisse und ihre Applaus für die Millionen Judenfeinden, die sie ins Land lassen nebst Wohnrecht im deutschen Sozialsystem. Demos,  auf denen die Vernichtung Isrsels skandiert wird, hört man dieser Tage zuhauf auf deutschen Straßen. Nie wieder? Ihr erbärmlichen Heuchler!!!

Wolfgang Richter / 13.04.2024

Ein Staat, der sich schon länger selbst aufgegeben hat, noch dazu zur Integration von Neubürgern in diesen “Zombie” aufruft, kann niemanden retten. Dr hat fertig, incl. der zerbröselnden eigenen Fundamente. Und wenn dessen Vertreter sich arroganterweise zum Weltenretter aufspielen, ist höchste Vorsicht geboten.

Regina Lange / 13.04.2024

Ich weiß nicht, ob die “Regierenden” (nicht der Staat, für mich ist die Bevölkerung der Staat) überhaupt Juden wirklich ernsthaft schützen wollen. Wenn man dem Geplapper zuhört, kann man schon zweifeln. Aber an den Taten sollte man sie messen und die Taten zeigen mir, dass die Hamas jahrelang und immer noch mit unserem Geld gemästet wird. Damit weiß ich wo die Prioritäten deutscher Politiker (selbstverständlich nur bei den Aufrechten aus dem “demokratischen Spektrum”) liegen. Das Faible für alles Muslimische wird uns noch teuer zu stehen kommen.

P. Wedder / 13.04.2024

Will der deutsche Staat das wirklich? Verbal wird die Sicherheit Israels zur Staatsraison erklärt. Dennoch fließen Millionenbeträge in € nach Gaza. Da Herr Abbas nach dem Massaker am 7. Oktober öffentlich erklärt hat den beteiligten Terroristen eine Märtyrerrente zu zahlen, kann man kaum argumentieren, dass man zwischen politisch und terroristisch Regime unterscheiden kann. Dennoch fließt das Geld aus Deutschland und der EU weiter. Mal nach den Handlungen und nicht nur nach den Worten schauen.

E Ekat / 13.04.2024

Der Deutsche Staat hat alle Hände voll zu tun damit, das Klima zu schützen,  was immer damit gemeint, und bezweckt sein dürfte. Neben zwei bestehenden Geschlechtern und jenen, denen aus biologischen Gründen eine Zwitterstellung zukommt hat das höchste deutsche Gericht dennoch weitere Geschlechter identifiziert. Hä? Menschen, in einem rechtsstaatlich organisierten Europa lebend werden enteignet, weil es Russen sind. Hä? Aller- allerspätestens seit der Veröffentlichung von größtenteils noch geschwärzten RKI- Akten dürfte dämmern, daß Führer dieses Staates ihre Bürger womöglich bewußt täuschen, sich dafür massenpsychologischer Techniken bedienen. Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit, in Ärzte, Wissenschaft, in Medien erodiert, eingeschlossen das bisherige Vertrauen in die Bedeutung von Bildung. Dies und noch viel viel mehr sollte jeden - nicht nur Juden -  zu Reflektionen veranlassen, auf welch dünnem Eis sich Zusicherungen des Staates und vermeintliche Gewißheiten gleich welcher Art inzwischen bewegen.  Die in einer Demokratie einzig vorgesehene Möglichkeit der Veränderung durch Wahlen sieht Wolffsohn nicht. Was also dann? Zur aktuellen Gaza- Vorgehensweise beispielsweise wird ausgeblendet daß Israel sich grundsätzlich mit unterschwelligem, auch vernichtungswilligem Antisemitismus auseinanderzusetzen hat.  Selbst manche Israelis wollen (oder können) dies nicht begreifen.

Helmut Kassner / 13.04.2024

Sehr geehrter Herr Wolffsohn sind Sie sicher mit der Frage „Kann der deutsche Staat die Juden schützen ?“ Müsste die Frage nicht vielmehr lauten: Will der deutsche Staat die Juden schützen? Immer Menschen in D sehen Juden als Feinde an und wünschen die Vernichtung des Staates Israel. Das gilt nach meiner Meinung für einen Großteil der Staaten der UN.  Schönrederei macht da keinen Sinn.

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