Wenn das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Netz-DG) ein Frontalangriff auf die Meinungsfreiheit in Deutschland ist, dann könnte der Beschluss 31 O 21/18 des Landgerichts Berlin so etwas wie das Gegengift sein. Erstmals stoppt ein deutsches Gericht die täglich massenhaft vorkommenden Löschungen legitimer Inhalte bei Facebook. Eine Entscheidung, die ganz erhebliche nationale und internationale mediale Resonanz verursachte (siehe hier, hier, hier und hier).
Der Fall: Die „Basler Zeitung“ verlinkte am 8. Januar 2018 den Artikel „Viktor Orban spricht von muslimischer ‚Invasion‘“ auf ihrer Facebook-Seite. Angekündigt mit einem Zitat des ungarischen Regierungschefs: „Viktor Orban wundert sich, wie in einem Land wie Deutschland [...] das Chaos, die Anarchie und das illegale Überschreiten von Grenzen als etwas Gutes gefeiert werden konnte’“. Der Nutzer Gabor B. kommentierte: „Die Deutschen verblöden immer mehr. Kein Wunder, werden sie doch von linken Systemmedien mit Fake-News über ‚Facharbeiter’, sinkende Arbeitslosenzahlen oder Trump täglich zugemüllt“.
Dieser Kommentar war kurz danach derjenige mit den meisten „Likes“. Bis er von Facebook wegen eines angeblichen und nicht näher erläuterten Verstoßes gegen deren „Gemeinschaftsstandards“ gelöscht und B. für 30 Tage gesperrt wurde. Man mag die Einschätzung des Kommentators teilen oder die Äußerung als polemisch und unsachlich erachten. Wichtig ist nur: Der Kommentar ist von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Grundlegende Rechtsfrage
Facebook lenkte auf die Abmahnung meines Anwaltsbüros teilweise ein und hob die Sperre auf, die Löschung aber nicht. Die Anwälte Facebooks teilten mit, dass eine „erneute sorgfältige Überprüfung zu dem Ergebnis (kam), dass die Gemeinschafsstandards korrekt angewendet worden waren und der Inhalt daher nicht wiederhergestellt werden kann.“ Eine Einschätzung, die wir nicht nachzuvollziehen vermochten.
In der jetzt vom Landgericht Berlin erlassenen einstweiligen Verfügung wird dem Unternehmen nun unter Androhung von Ordnungsgeldern bis zu € 250.000,00 oder Ordnungshaft verboten, den zitierten Kommentar zu löschen oder B. wegen dieses Kommentars zu sperren. Einstweilige Verfügungen werden in der Regel nicht begründet. Das Gericht konnte dem Antrag aber nur stattgeben, wenn es die Rechtsauffassung vertrat, dass a) Nutzer es nicht hinnehmen müssen, dass ihre rechtmäßigen Inhalte aus sozialen Medien gelöscht werden und dass b) der konkret gelöschte Inhalt rechtmäßig und zulässig war.
Dies ist ein richtungsweisender Beschluss und die erste derartige Gerichtsentscheidung in Deutschland. Endlich haben Nutzer eine Handhabe gegen die intransparenten Machenschaften eines Konzerns, der mit seiner Verantwortung umgeht, als handele er mit gebrauchten Fahrrädern. Dieses Verfahren berührt eine für die Kommunikation in sozialen Netzwerken sowie für die Teilhabe am Meinungsaustausch in einem Netzwerk mit marktbeherrschender Stellung grundlegende Rechtsfrage: Hat der sich vertrags- und rechtstreu verhaltende Nutzer der Dienste von Facebook oder Twitter eine Löschung seiner Inhalte oder eine darauf fußende Sperre hinzunehmen oder nicht? Der Beschluss ist ein wichtiger Etappensieg für die Meinungsfreiheit.
Das letzte Wort hat die Justiz
Schon vor dem Inkrafttreten des Netz-DG herrschte bei Facebook komplettes Löschchaos. Strafbarer Antisemitismus blieb online, kopftuchkritische Kommentare wurden gesperrt. Man sollte immer mal wieder einen Blick auf die „Wall of Shame“ werfen, um sich vor Augen zu führen, welche unglaublichen Entscheidungen dort getroffen werden.
Nicht die Grenzen des Rechts und der Meinungsfreiheit waren bisher relevant, sondern die Einschätzungen schlecht geschulter Mini-Jobber in den Löschzentren. Auf Beschwerden reagierte der Internetriese traditionell nicht. Das könnte sich jetzt ändern. Wenn sich diese Rechtsprechung durchsetzt, steht der Willkür und Inkompetenz der Löschzentren die Sach- und Rechtskunde der deutschen Gerichte als Kontrollinstanz gegenüber. Facebook ist nicht mehr Kläger, Richter und Vollstrecker, so wie die Väter des Netz-DG es gerne hätten. Das letzte Wort hat dann die Justiz.
„Niemand muss hinnehmen, dass seine legitimen Äußerungen aus sozialen Netzwerken entfernt werden“ schrieb Justizminister Maas in die Materialien des Netz-DG. Hat es aber in fahrlässiger Weise unterlassen, einen solchen Anspruch auch in das Gesetz aufzunehmen. Wenn sich dieser Anspruch aus geltendem Recht ergibt, umso besser.
Facebook kann, und wird, Rechtsmittel gegen diesen Beschluss einlegen. Auch wenn das Unternehmen am Ende die Oberhand behielte, ist dieser Prozess ungeheuer wichtig. Dann stünde fest, dass ein Internetriese in Deutschland nach Belieben in die Meinungsfreiheit der Nutzer hineinlöschen kann. Und dann wäre der Gesetzgeber aufgerufen, das, was Maas nur schrieb, in Gesetzesform zu fassen um diesem Tun einen Riegel vorzuschieben.