Vera Lengsfeld / 05.06.2009 / 11:53 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 5. Juni

Die Hiobs-Botschaften überschlagen sich. Die Medien im Westen berichten ausführlich von dem Blutbad, das die Kommunisten vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Peking anrichten. Walter Kempowski spricht von „allgemeiner Zermatschung“. Mit Maschinengewehren wird auf die Unbewaffneten draufgehalten. Panzer fahren rücksichtslos in die Menge. Einer bleibt stecken. Die Besatzung wird gelyncht (ARD), nicht gelyncht(ZDF). Zweiteres ist wahrscheinlicher, denn die Protestierenden wollten mit friedlichen Mitteln Veränderungen durchsetzen. Keine hörbaren Proteste der 68er Kämpfer gegen repressive Regime. In München demonstrieren Chinesen gegen das Massaker. Sie bleiben unter sich. Die tapfere deutsche Friedensbewegung, die gegen Natowaffen auch mal Hunderttausende auf die Straße bringt, schweigt. In der DDR gibt es Solidaritätstveranstaltungen in den Kirchen. Von der Kirchenleitung wird verlangt, sie solle protestieren. Eine Demonstration vor der Chinsischen Botschaft wird sofort aufgelöst, ehe sie sich richtig formieren kann. Das „Neue Deutschland“ wertet die Ereignisse in Peking als Niederschlagung eines „konterrevolutionären Aufstandes“.Das löst eine Flut von Protestbriefen aus.
Im Ural hat sich ein Zugunglück ereignet. Eine Gasleitung war explodiert, als der Zug vorbeifuhr. Das Ereignis wirft ein Schlaglicht auf die verrottete Infrastruktur in der Sowjetunion. Kempowski staunt vor dem Fernseher über die vorsintflutlichen Rettungswagen und die Bäckermützen der Ärzte. Für die Bevölkerung fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Kein Wunder, denn die „Prawda“ hat soeben enthüllt, dass die Sowjetunion viermal mehr Geld für die Rüstung ausgegeben hat, als offiziell bisher zugegeben. Der Westen reagiert auf diese Enthüllung mit vornehmer Zurückhaltung, das heißt gar nicht.
Der Tod des „Rachegreises“(Kempowski)Khomeini geht in der Nachrichtenlage fast unter. Die um sich schlagenden Klagenden, die den Sarg begleiten, brachten ihn fast zum Umfallen.
Kempowski fragt sich bei diesem Anblick, ob die Blutfontäne im Iran nun abgestellt würde. Peter Härtling wird passend zum Ganzen im dritten Programm nachfolgendem Gedicht gefragt:

Blödem Volke unverständlich
treiben wir des Lebens Spiel.
gerade das, was unabwendlich
fruchtet unserm Sport als Ziel.

Er erkennt das „Galgenberg“- Gedicht von Christian Morgenstern nicht.


Während ich in den gesegneten Teil unseres Landes einfahre, etwa auf der Höhe von Büchners Geburtshaus, höre ich den Moderator von DLF verschämt über die bildungsfernen schichten unserer Bevölkerung reden. Ihm macht das politisch inkorrekte Thema so zu schaffen, dass er sich immer wieder verspricht. Wenn er zitiert, was diese Menschen, die es schaffen zehn Jahre unsere kostenlosen Schulen zu besuchen, ohne etwas zu lernen, von sich geben, weißt er nicht ein-, sondern gleich dreimal darauf hin, dass die Sätze wirklich so geäußert wurden. Wahrscheinlich zählt er zu den Menschen mit Zivilcourage, weil er es überhaupt wagt, diesen Skandal anzusprechen. Nach Jahrzehnten der Schulpflicht gibt es eine wachsende zahl von Analphabeten in unserem Land, Kinder, die ohne Kenntnisse der deutschen Sprache eingeschult werden und sie Jahre später ohne ihre Sprachkompetenz merklich verbessert zu haben, wieder verlassen.Was haben sie in all den Jahren getan? Über die Ursachen dieser Missstände zu reden, ist eines der Tabus, mit denen unsere Gesellschaft umstellt ist. Der Versorgungsstaat erzeugt Sozialkrüppel, die nicht mehr in der Lage sind für sich selbst zu sorgen und die das auch nicht mehr wollen. In einer solchen Atmosphäre wird Freiheit tatsächlich als Bedrohung aufgefasst. In diesem Milieu werden aber mit Abstand die meisten Kinder geboren, die , wenn sie nicht verhungern oder verdursten oder aus einem anderen Grund in der Tiefkühltruhe landen, das Heer der Transferleistungsabhängigen verstärken werden. Immer dieselben Rituale.  Wenn wieder ein an Vernachlässigung gestorbenes Kind entdeckt wird, werden vor der betreffenden Haustür dutzende Stofftiere abgeworfen und Kerzen angezündet. Für ein paar Tage wird der Ort des Kindstodes zur Pilgerstätte, an der man sich unentgeldlich gruseln kann, bis der Kram abgeräumt wird und er Alltag wieder einkehrt. Derweil haben die Politiker ihre rituellen Forderungen nach noch mehr Betreuung wiederholt und sich danach ihrem eigentlichen Geschäft zugewandt, von dem immer ungewisser wird, worin es besteht. Oder hat jemand aus den Losungen für die Europawahl ablesen können, wofür die jeweilige Partei, der wir unsere Stimme geben sollen, steht?  Was wollen „Wir in Europa“, was will „Wuuummms“? Oder was will die schöne Silvana, außer eine gute Figur beim Häppchen- Vertilgen machen? Wer mir ein Plakat mit einer einzigen inhaltlichen Aussage nachweisen kann, bekommt von mir eine Gratis-Führung durch das Berliner Regierungsviertel.

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