“The Picture of Dorian Gray“ (Das Bildnis des Dorian Gray) ist ein Roman des irischen Schriftstellers Oscar Wilde (sein einziger übrigens) aus dem Jahr 1890/91. Es handelt von einem jungen Mann, der nach einem Gebet um ewige Jugend unverändert jung bleibt, während sein Porträt altert und die Spuren seiner Lebensweise widerspiegelt, die auf rücksichtslose Selbstverwirklichung gerichtet ist.
Als er gemeinsam mit dem Maler dieses Phänomen betrachtet, ersticht Dorian den Maler, worauf er immer mehr in den Wahnsinn abgleitet. Nach einer schicksalhaften Begegnung mit dem Bruder einer verlassenen Geliebten will Dorian sein Leben ändern. Er beschließt nach dem Maler auch dessen Porträt zu vernichten und sticht auf das Bild ein. Dadurch tötet er sich selbst. Die Szene, in der Dorians Kutscher und ein Diener seine Leiche finden, schildert Wilde im letzten Absatz seines Romans so:
“When they entered they found, hanging upon the wall, a splendid portrait of their master as they had last seen him, in all the wonder of his exquisite youth and beauty. Lying on the floor was a dead man, in evening dress, with a knife in his heart. He was withered, wrinkled, and loathsome of visage. It was not till they had examined the rings that they recognized who it was.” – Als sie eintraten fanden sie, an der Wand hängend, ein herrliches Porträt ihres Herrn vor, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in dem ganzen Wunder seiner außergewöhnlichen Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann im Abendanzug, mit einem Messer in der Brust. Sein Gesicht wirkte welk, runzlig und widerlich. Erst als sie seine Ringe näher betrachtet hatten, erkannten sie, um wen es sich handelte.
Was hat das nun mit Deutschland zu tun? Ja, sehen Sie das denn nicht! Mit Deutschland verhält es sich genau umgekehrt, wie mit Dorian Gray: Wir haben ein strahlendes Bild unseres Landes, während es in Wirklichkeit welk und runzlig ist. Ob ich noch alle Tassen im Schrank habe? Na, dann kommen Sie doch mal mit.
Hinter der Fassade des reichen Landes
So verblüffte mich der Migrationsforscher Christoph Rass (Uni Osnabrück) kürzlich mit folgender Feststellung: „Schauen wir uns doch um: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenquote ist historisch niedrig, unsere Gesellschaft ist so sicher wie nie. Und ganz nebenbei haben wir es auch noch geschafft, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen.“ Die Integration der Flüchtlinge sei eine „Erfolgsgeschichte“. Die 468 Leser, die diesen Beitrag kommentierten (Stand 2. Februar 2018 12:15 Uhr), waren allerdings durchweg anderer Meinung. Offenbar fehlten ihnen die von Rass geforderten zwei Eigenschaften, die auch mir abgehen: „Selbstbewusstsein und Gelassenheit“.
Die damalige Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann verfügte dagegen wohl in überreichem Maße über beides, als sie in der „Welt“ 2015 verkündete: „Wir sind ein reiches Land“, das noch viel mehr Flüchtlinge aufnehmen könnte. Woran sie das festmachte, blieb offen. Dem beachtlichen BIP 2014 von 2.93 Billionen Euro standen immerhin 2,05 Billionen Schulden der öffentlichen Haushalte gegenüber. Mit der Relation zum BIP von rund 70 Prozent können wir uns im europäischen Vergleich zwar durchaus sehen lassen (Griechenland 177, Italien 129, Portugal 129, Spanien 100; Durchschnitt Eurozone 91. Der nach Artikel 104c Absatz 2 des Maastricht-Vertrages (Seite 29) maßgebliche Referenzwert beträgt allerdings nur 60 Prozent des BIP: Artikel 1 des Protokolls (Seite 185) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit). Auf der anderen Seite wissen wir, dass sich das sehr schnell ändern kann. Oder hatte Uekermann etwa die rund 5 Billionen Euro Geldvermögen der privaten Haushalte im Visier, von denen „die oberen Zehntausend“ (etwa zehn Prozent) allein 60 Prozent (Seite 62) besitzen?
Doch jeder durchschnittlich intelligente Zeitungleser weiß, was solche statistischen Werte „im wahren Leben“ bedeuten. Entscheidend ist aber vor allem, was euphemistisch als „Investitionsstau“ bezeichnet wird. Der deutsche Städte- und Gemeindebund bezifferte den Investitionsbedarf für Straßen, Brücken und Plätze sowie für Schulen und öffentliche Gebäude und Einrichtungen laut Handelsblatt Ende 2017 auf 126 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsjournalistin Dorothea Siems nannte Deutschland in der „Welt“ daher eine „Investitionsruine“.
Hinzu kommen aber noch ganz andere Summen, um Defizite in den folgenden Bereichen zu beseitigen.
Bildungswesen
Am 14.09.2017 meldete die „Süddeutsche“: „Aktuell sind laut einer Umfrage der SZ insgesamt mehr als 3.300 Lehrerstellen unbesetzt.“ Ganz andere Größenordnungen waren in diesen Tagen in der „Welt“ zu lesen. Dort berichtete Thomas Vitzthum über „Das ungedeckte Ganztagsversprechen der GroKo“, das Milliardeninvestitionen in Gebäude und Personal bedeute. Dabei herrsche unabhängig davon ein enormer Lehrermangel: Bis zum Jahr 2025 müssten nach Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung 105.000 Grundschullehrer neu eingestellt werden (60.000 für in den Ruhestand gehende Lehrer, 26.000 wegen steigender Schülerzahlen und 19.000 für Ganztagsschulen nach den derzeitigen Plänen der Länder). Bis dahin stehen aber nur 70.000 neu ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung, so dass ohne den geplanten Rechtsanspruch eine Versorgungslücke von 35.000 Lehrer besteht. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass ein großer Teil der Unterrichtsstunden durch so genannte Quereinsteiger bestritten wird, was angesichts von Inklusion, Alphabetisierungs-, Intensiv- und Willkommensklassen sowie einer sozial und ethnisch sehr heterogener Schülerschaft keine zukunftsträchtige Lösung ist.
Doch dann die Erlösung: „Union und SPD einigen sich auf milliardenschweres Bildungspaket“ meldete die „Süddeutsche“. In dieser Legislaturperiode sollen rund sechs Milliarden Euro „in die komplette Bildungskette“ von Kitas über Ganztagsschulen und berufliche Bildung bis zu Hochschulen fließen. Weitere 3,5 Milliarden Euro stünden bis zum Jahr 2021 für die Umsetzung des Digitalpakts für die Schulen bereit. Insgesamt soll der Pakt ein Volumen von fünf Milliarden Euro haben. Ziel ist, die 40.000 Schulen in Deutschland mit schnellem Internet und einer zeitgemäßen IT-Ausstattung zu versorgen. Woher die benötigten Lehrkräfte kommen, bleibt allerdings ebenso offen, wie deren Finanzierung.
Sicherheit
Mag das Geld auch noch so wichtig sein, noch wichtiger sind die Menschen, deren Intelligenz, Initiative und Engagement in den jeweiligen Bereichen benötigt werden. Im Sicherheitsbereich sieht es dabei ähnlich düster aus wie bei den Lehrern. Wer will denn noch den Polizeiberuf ergreifen, nachdem dieser kontinuierlich an Ansehen verloren hat (die Gründe dafür sind vielfältig und können in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden). So stimmt es zunächst sehr zuversichtlich, dass die unionsgeführten Länder in den nächsten vier Jahren 15.000 neue Polizisten einstellen wollen. Leider verraten sie dem begeisterten Publikum aber nicht, wo die her kommen sollen. Noch kritischer wird die Lage, wenn man bedenkt, dass in den nächsten fünf Jahren 64.000 Polizisten in ganz Deutschland in Pension gehen werden. Macht summa summarum 79.000 neue Polizisten bis 2022.
Flüchtlingsproblematik
Auch die Flüchtlingsproblematik hat mehrere Facetten:
- Integration in die Gesellschaft
- Integration in den Arbeitsmarkt
- Kosten
Bei den Kosten werden gerne nur diejenigen betrachtet, die sich in den öffentlichen Haushalten niederschlagen. Hier hat der Bund 2016 21,7 Milliarden für Sprachkurse, Kitaplätze, Weiterbildungsangebote und soziale Betreuung ausgegeben. Für 2017 hat das Finanzministerium 21,3 Milliarden eingeplant. Macht in zwei Jahren 43 Milliarden Euro (wen Einzelheiten interessieren, der kann sie hier nachlesen). Wie hoch die Kosten tatsächlich sind, lässt sich schwer sagen, da die Meinungen darüber auseinandergehen, was unter dieser Rubrik veranschlagt werden darf.
So berichtete Zeit Online, „dass zwei Drittel der Behörden nicht sagen können, wie viel sie tatsächlich für Flüchtlinge ausgeben. Eine exakte Ausgabenerfassung gibt es nicht. Zudem schwanken die mutmaßlichen Ausgaben stark zwischen einzelnen Kommunen: Die Stadt Saarlouis etwa zahlt im Schnitt 288 Euro pro Monat und Flüchtling, der Landkreis Lörrach am Bodensee 1.212 Euro.“
Nicht zu vernachlässigen sind auch die Kosten der riesigen Prozesslawine, die durch Klagen gegen die Ablehnung von Asylanträgen ausgelöst wird: Dazu zählt nicht nur die großzügige Prozesskostenhilfe, die der Staat den klagewilligen Antragstellern gewährt (§ 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO), sondern auch der Bedarf an Verwaltungsrichtern. Focus sprach von einem „Kollaps mit Ansage“, weil sich die Zahl der Verfahren binnen eines Jahres fast verfünffacht habe.
Weitere Kosten bleiben der Phantasie jedes Einzelnen überlassen, die allerdings kaum ausreichen dürfte, die Wirklichkeit zu überholen.
Digitalisierung
„Bis 2022 könnte die Digitalisierung in Deutschland etwa 3,4 Millionen Arbeitsplätze kosten“, meldete SPON. Damit wären nicht nur die berühmten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern gleich deren drei: Die Digitalisierung machte einen großen Schritt nach vorn, der viel beklagte Fachkräftemangel wäre kräftig reduziert und die immer wieder geforderte Zuwanderung könnte gebremst werden. Aber irgendwie scheint das auch wieder nicht recht zu sein, denn offenbar will keine Freude angesichts dieser freudigen Meldung aufkommen. Dabei ist das Ergebnis keineswegs überraschend.
Schon vor knapp drei Jahren hatte die „Welt“ getitelt: „Maschinen könnten 18 Millionen Arbeitnehmer verdrängen“ und sich dabei auf eine Berechnung der Volkswirte der Bank ING-Diba berufen. Fazit: „Die Unqualifizierten ersetzt der Computer“. Dabei hatte der Nicht-Volkswirt – aber mit außerordentlich viel gesundem Menschenverstand ausgestattete – Henryk M. Broder vor der „Flüchtlingslawine“ (Wolfgang Schäuble) vom September 2015 gewarnt, mit den Flüchtlingen „Das Proletariat von morgen“ ins Land zu holen: „Was wir derzeit importieren, sind nicht nur ‚ethnische‘, also kulturelle und religiöse Konflikte, sondern, um mit Marx zu reden, auch eine ‚industrielle Reservearmee‘, für die es keine Beschäftigung gibt und keine geben wird, das Lumpenproletariat von morgen und übermorgen.“
Auf der anderen Seite wird beklagt, dass Deutschland die Digitalisierung verschläft: Gerade einmal 6,6 Prozent aller Haushalte haben Zugang zu einem schnellen Glasfaseranschluss, auf dem Land sind es sogar nur 1,4 Prozent. Damit liegt Deutschland im OECD-Vergleich auf Platz 28 von 32. „Wir brauchen eine leistungsfähigere Breitband-Infrastruktur, sonst droht der Industriestandort abgehängt zu werden“, sagt Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Industrie.
Auf der Nachrichten-Website heise online vom 10. November 2017 liest man unter der Überschrift „Breitband-Entwicklungsland Deutschland“: „Klar, der flächendeckende Ausbau mit Glasfaser würde alle Probleme final lösen. Nur sind die dafür nötigen 80 bis 100 Milliarden Euro gerade nicht da, und es sieht auch nicht so aus, als würden sie bald zusammenkommen. Und selbst wenn sie da wären, gäbe es kein Konzept, wie man dieses Geld schnell und sinnvoll in eine flächendeckende Breitbandversorgung verwandeln könnte.“ So reich ist Deutschland dann nun auch wieder nicht!
Energiewende
Ja, und dann ist da noch die unendliche Geschichte der Energiewende, laut Ex-Bundesumweltminister Klaus Töpfer ein weltweites Unikat, eine Jahrhundertaufgabe, ein Riesenprojekt. Dessen Kosten stellen alle bisher genannten Beträge in den Schatten: „Energiewende kostet die Bürger 520.000.000.000 Euro – erstmal“, titelte die „Welt“ 2016. Wer die Zahl nicht sofort überblickt: es handelt sich um 520 Milliarden Euro – bis 2025. Zum Vergleich: Der gesamte Bundeshaushalt 2017 betrug 329,1 Milliarden Euro. Zieht man die bereits verbratenen 150 Milliarden ab, verbleiben noch 370 Milliarden. Die Politik braucht das allerdings nicht zu beunruhigen, denn die Zeche zahlt ja der Verbraucher (Stichwort EEG-Umlage).
Es gibt viele unvergängliche Politiker-Sprüche à la Nobert Blüm „Die Rente ist sicher“ oder Peter Struck „Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“ In vorliegenden Zusammenhang hat sich der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) im Guinness-Buch der Politiker-Sprüche verewigt, als er im Jahr 2003 versicherte, die Energiewende werde die Verbraucher „nicht mehr als eine Kugel Eis pro Monat kosten“; seither hat sich die EEG-Umlage (laut Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) versiebzehnfacht.
Europäische Transferunion
Und wem das immer noch nicht genügt, der schaue sich die Garantien und Bürgschaften an, die Deutschland allein für den Euro-Rettungsschirm ausgebracht hat: 280 Milliarden Euro. Nach einer anderen Quelle könnten es auch 310 Milliarden sein.
Zählt man diese Horrorzahlen zusammen, kommt man locker über eine Billion. Das Kuriose daran ist aber, dass das niemanden ernstlich zu beunruhigen scheint. Wegen einer oder zwei Milliarden mehr oder weniger für das Bahnprojekt Stuttgart 21 gingen in Stuttgart wochenlang Tausende auf die Straße. Als ich aber mal eine Teilnehmerin fragte, ob sie auch gegen die 50 Milliarden (oder wie viel es am Ende gewesen sein mögen) demonstriert habe, die die Bundesregierung für die HRE-Pleite bereitgestellt habe, fragte sie nur erstaunt „Was ist HRE?“
Doch dürfte das nur noch wehmütige Erinnerungen hervorrufen, wenn der charismatische Kennedy-Verschnitt Emmanuel Macron sich mit seiner Vision einer europäischen Transferunion durchsetzen sollte.
Für den Präsidenten des Bundesverbands Deutscher Volks- und Betriebswirte, Malcolm Schauf, hat Deutschlands Problem auch einen Namen. Gegenüber der Wirtschaftswoche erklärte er im Januar „Merkel ist Deutschlands großes Problem“: „Die negativen Auswirkungen der Politik Merkels spüren wir jetzt noch nicht. Aber wir werden sie in einigen Jahren schmerzlich spüren.“ Dann wird es uns so gehen wie Dorian Gray: Deutschland liegt alt, verschrumpelt und ausgelaugt am Boden, nur in dem Amtsräumen der politischen „Eliten“ hängt noch das Bild eines reichen, toleranten und weltoffenen Landes.