Der Papst empfiehlt der Ukraine schon die weiße Fahne, Moskau will scheinbar um jeden Preis den militärischen Durchbruch erzwingen und der Westen fragt sich: Wie akut ist die Gefahr eines Kollapses im Osten?
Der jüngste Auftritt von Dmitrij Medwedew kann zweifellos als einer der bizarrsten Momente seiner politischen Laufbahn betrachtet werden. Auf großer Bühne präsentierte er dem Publikum eine Landkarte, auf welcher die Ukraine lediglich den Großraum Kiew umfasste, während der Rest ihres Staatsgebiets als Teil Russlands markiert war.
Medwedew kommentierte diese Darstellung mit der Behauptung, dass die sogenannte Ukraine, oder wie er hinzufügte, „Kleinrussland“, kein Gebiet sei, das man sich gewaltsam angeeignet habe. Daher müssten die Gegner Russlands eine einfache Wahrheit anerkennen: Die Territorien auf beiden Seiten des Dnjepr seien ein unveräußerlicher Teil der strategischen und historischen Grenzen Russlands. Jegliche Versuche, sie gewaltsam zu verändern, würden zurückgewiesen.
Des Weiteren forderte Medwedew die Aufgabe des Konzepts, welches die Ukraine als eigenständigen Staat betrachte. „Die Ukraine ist Russland“, erklärte der stellvertretende Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrates.
Die Inszenierung seiner Rede, die Medwedew auf einer Veranstaltung des Föderalen Aufklärungsmarathons hielt, lässt dieselbe Arroganz erkennen, mit der das am 17. Juli 1941 gegründete „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ umfangreiche Pläne, einschließlich detaillierter Karten, für die Zeit nach dem Sieg über die Sowjetunion ausarbeitete. Wie wir heute wissen, sollte es den erwarteten Triumph niemals geben.
Noch ist unklar, ob am Ende auch Moskau eine solche Erfahrung machen wird. Fest steht lediglich, dass der russische Generalstab eine klare Direktive an die Heeresgruppe Zentrum ausgegeben hat. Anstatt die jüngsten Erfolge für eine Umgruppierung der Kräfte zu nutzen, setzen die Russen ihre Angriffe unerbittlich fort. Das Ziel ist, die ukrainische Linie westlich von Awdiijiwka zu durchstoßen.
Angriffe an mehreren Fronten
Derzeit rücken Moskaus Truppen auf Pokrowsk vor. Die beschauliche Kleinstadt mit ihren 60.000 Einwohnern liegt nur 30 Kilometer von Awdijiwka entfernt. Seit mehreren Tagen steht der Ort unter Artilleriebeschuss. Da die Verteidigungskräfte als schwach eingestuft werden, wird erwartet, dass russische Angriffsspitzen schon bald ins Stadtgebiet eindringen werden.
Kiew hat auf die russischen Erfolge mit der Verlegung von Eliteverbänden reagiert. Das gilt etwa für die 47. Mechanisierte Brigade, die über amerikanische Kampfpanzer Abrams M-1A1 verfügt. Seit dem vergangenen Herbst hat sie 31 davon in ihrem Bestand. Die Fahrzeuge sind mit Wolframpanzerung, seitlich montierten reaktiven M-19-Panzerblöcken, einer 120-Millimeter-Glattrohrkanone und Tag-Nacht-Optik ausgestattet.
Dennoch bleibt fraglich, ob es gelingen wird, den russischen Vormarsch mit diesen Kräften zu stoppen. Das Gebiet zwischen Awdijiwka und Pokrowsk entfaltet sich in einer Ebene ohne natürliche Hindernisse, was es den Russen ermöglicht, an jeder Stelle anzugreifen. Sollte ihnen ein Durchbruch gelingen, würde das einen raschen Vorstoß in die Tiefe des Raumes ermöglichen. Für Kiew wäre das eine Katastrophe.
Moskau will dies mit allen Mitteln erzwingen. Wie ein Blick auf die aktuelle Landkarte verdeutlicht, greifen russische Truppen an mehreren Fronten gleichzeitig an. Demnach führen sie Offensiven im Bereich Kupjansk und halten ihre Positionen entlang der Linie Kupjansk-Swatowe-Kremenka. Aufnahmen zeigen, dass russische Infanterie jüngst bis an den nördlichen Rand von Synkowe vorgerückt ist.
In der Zwischenzeit haben die Russen neue Gebiete im Raum Bachmut erobert. Die dort geführten Abwehrkämpfe haben sich in den letzten Tagen intensiviert. Russische Medien vermelden auch Erfolge in Bohdaniwka sowie geringfügige Fortschritte in Iwanowe. Der Fokus liegt darauf, mit starken Kräften von Awdijiwka aus nach Westen vorzustoßen.
Für Oberst Markus Reisner besteht kein Zweifel daran, dass Russland in den kommenden Wochen eine Entscheidung im Osten erzwingen will. Im Rahmen seiner zweiten Winteroffensive setze der Kreml alles auf eine Karte, konstatiert der österreichische Militärexperte.
Diese Einschätzung lässt sich anhand des aktuellen Geschehens bestätigen. Denn auch westlich von Donezk geraten die ukrainischen Streitkräfte zunehmend unter Druck. Bildmaterial zeigt russische Truppen, die bei Heorhiwka vorrücken, während ein mit dem Kreml assoziierter Kriegsberichterstatter behauptet, dass die Straßen Heolohitschna, Lermontowa und Scheljesna an der südlichen Peripherie von Krasnohoriwka bereits überquert und Erfolge in der Nähe von Peremoha erzielt wurden.
Mangelhafte Verteidigungsanlagen
Natürlich ist es schwierig, den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen zu antizipieren. Gleichwohl ist klar, dass sie im Osten aktuell in eine kritische Phase eintreten. Kiew ist entschlossen, einen Durchbruch mit allen Mitteln zu verhindern, und hat bereits auf eine defensive Strategie umgestellt. Insbesondere im Raum Berdjutschi und Tonenke werden weitere Angriffe erwartet. Das Ziel ist, die Positionen zu halten, bis rückwärtige Verteidigungslinien aufgebaut sind.
Allerdings bestehen Zweifel, dass diese Befestigungen den Erwartungen gerecht werden. Laut einem Bericht der New York Times vom 2. März 2024 sind die ukrainischen Fortifikationen erstaunlich schwach, die Schützengräben nur rudimentär angelegt. Es mangelt an zusätzlichen Strukturen, die den Vormarsch der russischen Truppen verlangsamen könnten.
Während die Russen bereits vor einem halben Jahr mit dem Bau von Verteidigungsanlagen begonnen hätten, sei die Ukraine erst vor drei Monaten aktiv geworden, da sie zuvor ausschließlich auf Offensiven gesetzt habe. Hinzu komme ein Mangel an Geld und Arbeitskräften.
Obwohl Präsident Selenskyj am 1. Dezember 2023 den Befehl zur Errichtung von Verteidigungsanlagen gegeben hatte, sind bisher kaum nennenswerte Fortschritte erzielt worden. Kein einziges Projekt ist abgeschlossen, was im Falle eines russischen Durchbruchs eine Verteidigung des rückwärtigen Gebiets unmöglich macht.
Dies ist dem russischen Generalstab wohl bewusst, dessen Truppen weiterhin über eine absolute Luftherrschaft verfügen. Derzeit konzentrieren sie die Bemühungen darauf, die Kontrolle im Bezirk Marjinka auszuweiten, indem entlang dreier Hauptachsen – nach Norden, Westen und Süden – angegriffen wird.
Im Norden versuchen russische Einheiten, die südlichen Vororte von Krasnohoriwka einzunehmen. Laut dem Telegrammkanal „Rybar“ verzeichnen sie bereits bedeutende Fortschritte. Der Vormarsch nach Norden wird keine leichte Aufgabe sein, da es sich bei der zentralen Zone von Krasnohoriwka um ein großes Industriegebiet handelt, das schwer zu durchbrechen ist. Dennoch nimmt die russische Überlegenheit täglich zu.
Im Westen von Marjinka rücken russische Truppen entlang der Straße N15 vor, die nach Kurachowo führt. Hier stoßen sie auf das Dorf Heorhiiwka vor und versuchen, es von Süden zu umgehen, bisher jedoch ohne durchschlagenden Erfolg.
Die südlichen Angriffe der Russen konzentrieren sich auf eine Reihe von Dörfern entlang des Flusses Suchi Jaly zwischen Marjinka und Ugleodar, insbesondere auf Nowomyhailiwka, Paraskewiiwka und Kostiantyniwka. Hier sind intensive Kämpfe entbrannt, in denen russische Soldaten ihre Positionen behaupten konnten.
Der potenzielle Verlust von Kurachowo sowie das Vordringen russischer Sturmtruppen nach Süden stellt eine Bedrohung für die Ukrainer dar, da dies eine tiefe Umfassung des Ugleodar-Vorsprungs bedeuten würde, der die linke Flanke in Richtung Saporischschja entblößt. Die Einbuchtung ist ein wichtiger Befestigungspunkt, der die russische Logistik erheblich erschwert und ein potenzielles Sprungbrett für Angriffe der ukrainischen Armee in verschiedene Richtungen darstellt.
Bisher konnte die Ukraine alle Versuche der Russen zurückweisen, den Ugleodar-Vorsprung von Süden und Osten her abzuschneiden. Sollte der Widerstand jedoch nachlassen, könnte den hier stationierten Truppen die Einkreisung und damit letztlich die Vernichtung drohen, wie es bereits in Awdijiwka geschehen ist.
Mangel an Munition
Um den Zusammenbruch der Ostfront abzuwenden, muss die Ukraine unverzüglich Maßnahmen ergreifen. Die Entscheidung Kiews, sich auf defensive Operationen zu konzentrieren, ist angesichts der aktuellen Lage angemessen. Der Plan, den Feind in Abwehrgefechte zu verwickeln, bis eine neue Verteidigungslinie im rückwärtigen Raum etabliert ist, erscheint vernünftig, birgt jedoch gewisse Risiken.
Die Russen setzen mittlerweile verstärkt auf eine Taktik, die von der Gruppe Wagner bekannt ist: Wellenartige Angriffe mit kleinen Sturmgruppen aus verschiedenen Richtungen. Dieses Vorgehen zielt darauf ab, Geländegewinne zu konsolidieren, anstatt schnell voranzukommen und große Verbände nachzurücken.
Trotz hoher Verluste, vor allem unter gepanzerten Fahrzeugen, und dem Versäumnis, feindliche Kräfte zu vernichten, verzeichnet die russische Armee territoriale Gewinne, was ihre Propagandabemühungen unterstützt und die Position ihrer Militärführer stärkt.
Die Ukraine leidet hingegen unter unzureichender Feuerunterstützung für ihre Streitkräfte, sowohl aufgrund eines Mangels an Munition als auch infolge einer zögerlichen Nutzung der verfügbaren Ressourcen für kleinere Ziele.
In dieser Situation bleibt der Ukraine keine andere Wahl, als ihre Verteidigungsstrategie zu überdenken. Das bedeutet vor allem, eine effektivere Koordination und Unterstützung ihrer Truppen zu gewährleisten. Nur so kann es gelingen, den feindlichen Vorstoß abzuwehren und die Stabilität der Ostfront zu sichern.
Schläge gegen die Schwarzmeerflotte
Während Russland auf dem Festland kontinuierlich vorrückt, ist der Ukraine zur See erneut ein schwerer Schlag gegen die Schwarzmeerflotte gelungen. In der Nacht zum 5. März 2024 konnten ukrainische Marinespezialkräfte das russische Patrouillenschiff „Sergej Kotow“ zerstören.
Das ukrainische Verteidigungsministerium gab bekannt, dass sein Spezialkommando „Gruppe 13“ in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Marine und unter Beteiligung des Ministeriums für digitale Transformation den Angriff durchgeführt hätten.
Demnach erlitt die zum Projekt-22160 gehörende „Sergej Kotow“ durch den Angriff mit Magura V5-Marinedrohnen Schäden am Heck sowie an Steuerbord und Backbord. Die Attacke fand in der Nähe der Straße von Kertsch statt.
Das Schiff wurde im Jahr 2021 vom Stapel gelassen und im Mai 2022 in die Schwarzmeerflotte aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt stellten die ukrainischen Marinedrohnen noch keine so ernsthafte Bedrohung wie heute dar. Dies könnte der Grund dafür sein, dass Schiffe dieses Typs trotz ihrer modernen Bauart anfällig sind.
Korvetten des Projekt-22160 wurden für eine Vielzahl von Aufgaben entwickelt und können Startrampen für Kalibr-Marschflugkörper tragen. Ihre Hauptaufgabe besteht im Patrouillieren sowie im Geleitschutz. Hierzu sind sie mit einer 76,2-mm-Artillerieanlage, zwei 14,5-mm-Maschinengewehren und einem elektronischen Kriegssystem bewaffnet.
Russland verfügt insgesamt über vier solcher Schiffe, und zwar über die „Wasilij Bykow“, die „Dmitrij Rogatschew“, die „Pawel Derschawin“ und die „Sergej Kotow“. Deren Besatzung umfasst jeweils bis zu 80 Personen. Über ihr Schicksal ist nichts Genaues bekannt, aber Kiew behauptet, dass sieben Personen ums Leben gekommen, sechs verletzt und 52 Besatzungsmitglieder evakuiert worden seien.
In einem Video, das den Angriff zeigt, wird erneut die Verwundbarkeit russischer Kriegsschiffe deutlich. Besonders die Seegleitdrohnen vom Typ Magura-V5 haben sich als tödliche Waffe erwiesen. In Schwärmen eingesetzt, sind sie für ein einzelnes Schiff nicht aufzuhalten.
Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass der Verlust einzelner Schiffe das Potenzial der Schwarzmeerflotte zwar mindert, aber keinen bedeutenden Einfluss auf den Verlauf des Krieges hat. Daher muss die Errichtung einer dicht gestaffelten Abwehrlinie im Osten aktuell die höchste Priorität für Kiew haben.
Sollte es Kiew gelingen, die feindlichen Angriffe an der Ostfront bis zum Einsetzen der Schlammperiode abzuwehren, gewönne es die nötige Zeit, um sein Versäumnis beim Ausbau rückwärtiger Linien zu kompensieren.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden.