Quentin Quencher / 03.05.2018 / 18:00 / 6 / Seite ausdrucken

Der Nachbarsjunge ist tot

Das einzige Kind der Familie wuchs sehr behütetet auf, so berichtete mir meine Frau von einem Nachbarsjungen in Cebu-City, Philippinen. Nie durfte der Junge einfach nur mit den Kumpels spielen. So gut wie alles, was die anderen Kinder an diesem Ort so taten, wurde ihm verboten. Dann ertrank er im Meer. Er hatte sich von zu Hause davon geschlichen, um einmal frei, so wie andere Kinder auch, sein zu können. Gelacht hätte er und wäre glücklich gewesen, als er mit einem Sack, gefüllt mit Styroporstücken, ins Wasser ging. Andere Kinder warnten ihn, dort, wo er ins Wasser ging, war es zwar in diesem Moment ruhig, doch wenn der Gezeitenwechsel einsetzt, kann es an dieser Stelle – der Meerenge zwischen den Inseln Mactan und Cebu – wegen der dann einsetzenden heftigen Strömung ganz schön gefährlich werden. So war es dann auch; einen Tag später wurde der Junge von einem Fischer gefunden. Die Fürsorge der Eltern, die ihm verboten hatten, existenziell wichtige Erfahrungen zu sammeln, wurde ihm zum Verhängnis.

Immer wieder kommt diese Geschichte zwischen mir und meiner Frau zur Sprache, wenn es um unsere Kinder geht, oder mehr noch, wenn wir andere Kinder beobachten. Wo lernen diese Kinder die wichtigen Dinge, die sie für das Überleben in unserer Welt ertüchtigen?

Trösten nach der Niederlage

Anderen Eltern mag es wichtig erscheinen, dass ihre Kinder immer einen Fahrradhelm tragen, nicht auf Bäume klettern, oder dass es sich nicht gehört, sich mit Nachbarsjungen zu prügeln. Mir hingegen geht nie das Pflaster aus, die Brand- und Wundsalbe, eben die Hilfsmittel, die man zur Versorgung von Verwundungen und Blessuren braucht. Aber am allerwichtigsten ist die Schokolade, mit der ich die Bälger nach ihren Niederlagen trösten kann.

Verletzungen und Niederlagen, Siege und Glück auch, sind in der Kindheit so etwas wie Impfungen für die Seele. Sie kann dadurch Antikörper entwickeln, um mit den Widrigkeiten des Lebens klar zu kommen und lernen, dass Entscheidungen oder Verhaltensweisen, das Tun insgesamt, Folgen hat. Eltern, die ihren Kindern diese Erfahrungen vorenthalten, handeln genauso unverantwortlich wie die Impfgegner.

Von Quentin Quencher ist gerade das wunderbare Essay "Mein Ausreiseantrag" als Buch erschienen..

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Leserpost

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Sabine Heinrich / 03.05.2018

Lieber Herr Quencher, Sie sprechen mir älterem Semester aus der Seele! Mir tun die heutigen Kinder sehr leid, da viele kaum eine Chance bekommen, selbständig zu werden, auch einmal etwas auszuhalten und mit Misserfolgen umzugehen. Ich fand es schon gruselig, dass in meinem Wohnort bereits vor Jahren überbehütende Mütter ihren Erstklässlerinnen diese erhebende Gefühl, ein Schulkind zu sein und stolz den Ranzen zu tragen, verweigert haben, indem sie selbst den federleichten Ranzen getragen oder gleich mehrere von anderen Kindern mit dem Fahrrad transportiert haben. Auf Bäume klettern? Zu gefährlich. Miteinander kämpfen? Geht ja gar nicht. Allein mit 10 Jahren zum Bäcker um die Ecke zu gehen - viel zu gefährlich. Hinfallen und ein blutiges Knie davontragen, ohne dass gleich ein Riesenaufstand gemacht wird - eher selten - zumindest in gutbürgerlichen Bezirken. Wir haben damals unsere aufgeschürften Knie stolz präsentiert! Dass viele Kinder sowohl zu Hause, als auch in der Schule nicht mehr lernen, mit Misserfolgen umzugehen - was stark macht für’s Leben - finde ich besonders schlimm. Spürbare Konsequenzen für übles Verhalten bekommen Schüler kaum zu spüren, weil Lehrern da oft die Hände gebunden sind. Also fallen die überbehüteten Jugendlichen, die nie richtige Kinder sein durften, oft nach der Schule - wo sie auch gepampert wurden - im Studium oder in der Lehre in ein tiefes Loch. Besonders den letzten Absatz Ihres Beitrags , lieber Herr Quencher, sollte jeder Kindergarten, jede Schule über seinem/ihrem Portal hängen haben! PS. Falls es morgen regnen sollte, dürfen viele Kinder leider nicht erleben, wie interessant und schön so ein Regenschulweg sein kann (z.B. in Pfützen treten, dass es nur so spritzt, Regenwürmer beobachten uvm), weil sie per Elterntaxi fast bis ins Klassenzimmer gefahren werden. Mir tun viele Kinder heute einfach nur leid, weil sie in Watte gepackt werden und oft dadurch später im Leben Probleme haben, wenn der Watteschutz wegfällt.  

Bernhard Krug-Fischer / 03.05.2018

Manchmal frage ich mich, wie wir unsere Kindheit überlebt haben. Wir fuhren z.B. freihändig ohne Helm Fahrrad, kletterten auf Bäume ( kostenlos!!) prügelten uns und waren Tag und Nacht auf der Straße. Ich muss allerdings gestehen, dass war auf dem Land. Ob die heutigen “Helikoptereltern” gut für die Entwicklung eines Kindes zur Selbstständigkeit sind, will ich anzweifeln.

Bernd Klingemann / 03.05.2018

In diesem Punkt sprechen Sie mir aus der Seele. Es tut gut, Gleichgesinnte da draußen zu wissen.

Leo Hohensee / 03.05.2018

Der Bezug auf Impfgegner “so pauschal” ist nicht in Ordnung aber ansonsten ist das Lebenseignungsunterricht erste Stunde.

Gabriele Schulze / 03.05.2018

Sehr wahr. Dazu gehört auch das Wissen, daß Konflikte zum Leben dazugehören. Die Erlaubnis, einen Standpunkt zu entwickeln, die Fähigkeit, einen Streit auszutragen, um nicht in einer pathogenen Harmoniesauce flügellahm und fremdbestimmt zu werden. “Wer der eigenen Schwere nicht nachgibt, den drückt die fremde Schwere” - diesen Satz habe ich aus der Psycho-Zeit der Siebziger mitgenommen.

Renate Menges / 03.05.2018

“Schokolade helft!” Meinte vor Jahrzehnten mal mein damals noch ganz kleiner Neffe.

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