Gastautor / 14.04.2024 / 11:00 / Foto: Montage Achgut.com / 0 / Seite ausdrucken

Der Bücher-Gärtner: Marseille als letzte Hoffnung für Europas Intellektuelle

Von Edgar L. Gärtner.

Angesichts der in Marseille überhand nehmenden Drogen-Misere werden viele Leser diese Überschrift wohl als Provokation empfinden. Doch es geht im Folgenden nicht um das Marseille von heute, sondern um das Marseille des Jahres 1940.

Das ist der Titel des zu Beginn dieses Jahres im Verlag C.H. Beck erschienen Buches des Journalisten und Schriftstellers Uwe Wittstock mit dem Untertitel Die große Flucht der Literatur, das inzwischen bereits mindestens vier Auflagen erlebt hat.

Ich habe mir dieses Buch vom Verlag schicken lassen, da ich nicht nur einen Großteil des Jahres in der Nähe von Marseille lebe, sondern auch über die Familie meiner Frau, einer echten Marseillaise, eine enge emotionale Beziehung zu dieser schwierigen Großstadt am Mittelmeer habe. An der Faculté de St. Jérôme im Norden der Stadt habe ich in den 1970er Jahren Mittelmeer-Ökologie studiert. Meine Frau habe ich allerdings nicht in Marseille, sondern schon früher in einem Vorort von Paris kennengelernt.

Zugedröhnt mit dem synthetischen Aufputschmittel Pervitin, das das Schlafbedürfnis unterdrückt, überrollten die deutschen Panzerfahrer die französischen Verteidigungslinien im Mai 1940 mit unglaublicher Geschwindigkeit. So kam es zu einem Massen-Exodus aller, die aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber den Nazis das Schlimmste zu befürchten haben. Vor dem Zweiten Weltkrieg zählte Marseille, die zweitgrößte Stadt Frankreichs, etwa 900.000 Einwohner. Durch den Exodus, die wahrscheinlich größte Völkerwanderung im modernen Europa, kommen zu den 900.000 Einwohnern in kurzer Zeit weitere 500.000 hinzu, was unweigerlich dazu führt, dass nach einigen Monaten die Nahrungsmittel knapp werden. Zwar sind die Weinkeller der Restaurants gut gefüllt, aber es gibt immer weniger zu essen.

Rettung der Künstler und Intellektuellen

Seit der Teilung Frankreichs im Waffenstillstandsvertrag zwischen den Generälen Wilhelm Keitel und Charles Huntziger am 22. Juni 1940 kontrolliert die deutsche Armee ganz Ost- und Nordfrankreich sowie die gesamte Atlantik-Küstenlinie bis hinunter nach Biarritz. Die Kollaborationsregierung des Maréchal Petain in Vichy kontrolliert den Rest, d.h. im Wesentlichen Zentral- und Südostfrankreich. Der Vertrag kommt einer bedingungslosen Kapitulation Frankreichs gleich. Etwa 60 Prozent des Landes stehen unter deutscher Besatzung. Den deutschen „Organen“ wird im Paragrafen 19 ausdrücklich das Recht zur Verfolgung  und Auslieferung von Minderheiten auf französischem Boden eingeräumt.

Der Hafen von Marseille bleibt somit der einzige Überseehafen Frankreichs, der nicht von der Wehrmacht kontrolliert wird. Dadurch zieht die Stadt etwa eine halbe Million deutsche, österreichische und andere mitteleuropäische Angehörige der Intelligenz, größtenteils Juden, an, die hier die letzte Chance sehen, ihre Haut vor der Gestapo zu retten. Viele möchten Visa beantragen, um wenigstens vorübergehend in die USA auszuwandern. Doch seit Kriegsbeginn legen die großen Transatlantik-Liner nur noch im Hafen von Lissabon ab. So braucht man neben einem US-Visum auch Transit-Visa für Spanien und Portugal.

Wegen der damals äußerst restriktiven Einwanderungspolitik der USA bestand ohnehin nur für einige hundert Promis Aussicht auf ein US-Visum. Als größtes bürokratisches Hindernis für die Flucht vor den Nazis aber erwies sich die französische Ausreisegenehmigung. Immer neue bürokratische Hürden gegen die Ausfertigung dieses Dokuments wurden aufgetürmt. Wer ohne dieses Papier und ohne „Sauf conduit“ angetroffen wurde, landete sehr schnell in einem der gefürchteten Internierungslager für Ausländer mit katastrophalen hygienischen Bedingungen. Ich kenne selbst das Internierungslager „Le Milles“ zwischen Marseille und Aix-en-Provence, eine ehemalige Ziegelei, aus eigener Anschauung. Berühmte deutsche Schriftsteller, wie zum Beispiel Lion Feuchtwanger, verbrachten hier Monate.

Vor allem, um bekannte antifaschistisch eingestellte deutschsprachige Schriftsteller, Komponisten, Maler und bildenden Künstlern zu retten, gab es das von wohlhabenden US-Spendern gegründete und finanzierte Rettungsnetzwerk „Emergency Rescue Comitee (ERC)“. Von diesem wurde der deutsch sprechende und mit Berlin vertraute junge idealistische amerikanische Journalist Varian Fry nach Marseille geschickt. Da das US-State Department aufgrund der strengen Einreisepolitik nur tröpfchenweise Hilfesuchende einreisen ließ, hielt sich Fry zunächst an eine Liste von etwa 200 Promis, die der Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann zusammengestellt hatte.

Mann hatte sich rechtzeitig der Verfolgung durch die Gestapo entziehen können, indem er in den USA eine Gastprofessur angenommen hatte. So erfahren wir interessante Einzelheiten über das Exilleben von Manns Bruder Heinrich und seiner umstrittenen Frau Nelly sowie von Manns Sohn Golo, der sich als Freiwilliger zur französischen Armee meldet, aber im gefürchteten Internierungslager „Les Milles“ landet. Mindestens ebenso rührend ist die Geschichte des bekannten jüdischen Schriftstellers Franz Werfel und dessen (arischer) Ehefrau Alma Mahler-Werfel.

Nur zum Teil legal

Mir selbst war die Bedeutung des Biotops Marseille im Kampf für die Rettung der deutschsprachigen Intelligenz vor dem Zugriff der Gestapo durchaus nicht unbekannt, bevor mir das Buch Wittstocks in die Hände fiel. Denn ich hatte zu Beginn der 1970er Jahre als Kassierer einer kommunistischen Grundeinheit an der Goethe-Uni Frankfurt unter anderem den Roman „Transit“ von Anna Seghers verschlungen. (Als Kassierer war ich übrigens völlig ungeeignet. Die Kasse stimmte so gut wie nie. Meistens lag aber eher zu viel statt zu wenig Geld darin.) Seghers hat mir als stramme Stalinistin sicher ein Bild von den Konflikten in Marseille geliefert, das sich nur teilweise mit dem deckt, was uns Uwe Wittstock berichtet. So ist es sicher gut, dass bei mir nicht nur das hängenbleibt, was ich aus dem Roman von Anna Seghers weiß.

Vieles aus der Geschichte des antifaschistischen Widerstandes in Marseille weiß ich aus dem Munde meines französischen Schwiegervaters Michel, der u.a. als Foto-Reporter für die kommunistische Tageszeitung „La Marseillaise“ gearbeitet hat. Marseille wird seit langem von mächtigen Clans der Unterwelt, meist korsischer Herkunft, beherrscht. Michel wies mich darauf hin, dass einer der verfeindeten Clans, die Gebrüder Antoine und Barthélemy Guérini, früh eng mit der Résistance zusammenarbeitete. Uwe Wittstock bestätigt diese Sicht, indem er darauf hinweist, dass die Angestellten des ERC-Büros im benachbarten Restaurant der Gebrüder Guérini „La Dorade“ ein und aus gingen. Fry und seine Leute konnten ihrer selbst gestellten Aufgabe nur zum Teil auf legalem Wege nachkommen. Um gefährdete Personen in Sicherheit zu bringen, bedurfte es Fälschungen und Bestechungen, wobei sich die Gebrüder Guérini als nützlich erwiesen.

Die Tatsache, dass sie frühzeitig die Partei der Résistance ergriffen hatten, ermöglichte es ihnen überdies, in der Nachkriegszeit die Unterwelt Marseilles zu dominieren. Zusammen mit dem Sozialisten Gaston Deferre, der mithilfe der CIA zum Oberbürgermeister Marseilles gewählt wurde, sorgten sie über Jahrzehnte für etwas Ordnung in der zerrissenen Hafenstadt. Deferre brachte das Kunststück fertig, sowohl von der Ober- als auch von der Unterwelt als unumschränkter Führer (Caïd) anerkannt zu werden. Er war der letzte Politiker, der seine Ehre (siegreich) in einem Säbel-Duell verteidigte. Auf dem Höhepunkt seiner Macht war er gleichzeitig Innenminister in Paris. In dieser Eigenschaft half er, verheiratet mit der bekannten Schriftstellerin Edmonde Charles-Roux, meiner Frau, einer unglücklichen Versetzung zu entgehen. Gestürzt wurde Deferre, wie könnte es anders sein, von seinen eigenen Genossen. Nach einer turbulenten Parteiversammlung erlag er einem Herzanfall. Schon am nächsten Tag führte das plötzliche Machtvakuum zum Beginn einer Serie tödlicher Abrechnungen in der Unterwelt.

Flucht über Umwege

Nachweislich hat Fry in den 13 Monaten seiner Tätigkeit für das ERC in Marseille 2.200 gefährdeten „Kulturschaffenden“ (meist Juden) das Leben gerettet. Darunter Hannah Arendt, Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Siegfried Kracauer, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Hertha Pauli und Hans Polgar. Nicht zu Unrecht sahen manche in ihm den „amerikanischen Schindler“. Dennoch erntete er, nachdem er vom US State Department denunziert und von der Vichy-Polizei aus Frankreich ausgewiesen wurde, fast nur Undank. Er geriet beinahe in Vergessenheit und starb einen einsamen Tod.

Erst durch die Veröffentlichung von Mary Jayne Golds Buch „Crossroads Marseilles 1940“ im Jahre 1980 wurden seine Heldentaten wieder bekannt. Mary Jayne Gold war eine reiche amerikanische Erbin, die die Arbeit des ERC massiv finanziell unterstützte und die Villa „Air Bel“ im Marseiller Vorort La Pomme anmietete, in der die vom Surrealismus dominierte Künstlergemeinde um das ERC wohnte. Das gilt z.T. auch für die Kunstsammlerin Peggy Guggenheim. Erst posthum wurden Fry (vor allem in Frankreich und Israel, aber auch in Berlin) einige Ehrungen zuteil.

Viele der bedrohten Geistesgrößen waren Mitglieder Kommunistischer Parteien oder Anarchisten, kamen also für ein Asyl in den USA von vornherein nicht infrage. Viele von ihnen, darunter Anna Seghers und ihre Familie, gelangten stattdessen auf umgebauten Frachtern über die französische Karibik-Insel Martinique nach Mexiko. Um auf dem Landweg aus Frankreich herauszukommen, erwies sich die heimliche Überschreitung eines katalanischen Pyrenäen-Passes bei Banyuls-sur-Mer über längere Zeit am praktikabelsten. Als Führer diente hier das kommunistische Ehepaar Fittko. Die Fittkos lebten später unbehelligt nicht weit von meinem derzeitigen Standort in Cassis. Auch die mehrheitlich antifaschistisch eingestellte lokale Bevölkerung half den Flüchtenden so gut es ging. Am Anfang profitierten die Flüchtenden auch in Marseille und Umgebung von Sympathien in der Polizei und dem, was von der geschlagenen französischen Armee übrig war.

In den USA stand Eleanor Roosevelt, die Frau des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, dem Anliegen des ERC aufgeschlossen gegenüber. Doch sie drang mit ihren Mahnungen nicht zu ihrem Ehemann vor. Im Gegenteil: Nach der Wiederwahl Roosevelts, der als einziger Kandidat eine dritte Amtszeit antreten durfte, wurde die Einwanderungspolitik der USA noch strenger. Das „Emergency Visa Program“ wurde beendet.

Wer Verwandtschaft in Deutschland oder in von der Wehrmacht besetzten Ländern hatte, bekam prinzipiell kein Visum. Die Staatsräson verdrängte jegliches humanitäre Engagement. Jetzt hatten Flüchtende nur nach einer bürokratisch aufwändigen Einzelfallprüfung leichte Chancen, an ein US-Visum zu gelangen. Das bestärkt jene, die sich dem Urteil des US-Publizisten Jonah Goldberg anschließen. Goldberg sieht in seinem Buch „Liberal Fascism“ kaum Unterschiede zwischen den gesellschaftspolitischen Vorstellungen Benito Mussolinis, Adolf Hitlers und Franklin D. Roosevelts.

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. C.H. Beck. Geb. 351 Seiten. 26 Euro, Hier bestellbar.

Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbstständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.

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