Früher kannte man die Frage hauptsächlich von freundlichen Metzgereiverkäuferinnen: Darf’s ein bisschen mehr sein? Heute kann man kaum ein Geschäft verlassen, ohne ein halbes Dutzend zusätzliche Angebote ausgeschlagen zu haben. Kaum hat man sich in für ein paar Schuhe entschieden, bietet die Verkäuferin Schnürsenkel, Schuhspanner und Schuhcreme an. Im Schreibwarenladen wird beim Bezahlen gefragt, ob man außer Stiften nicht auch Klarsichthüllen benötige, die seien gerade im Angebot. Offenbar zahlt sich solche Aufdringlichkeit aus, sonst würden die Läden ja nicht unentwegt versuchen, jedem Kunden noch etwas Zusätzliches anzudrehen. Bei IKEA dürfte der geschickt animierte Spontankauf überflüssiger Dinge mehr Umsatz bringen, als die Waren, wegen denen die Kunden ursprünglich zum Möbelmarkt gefahren sind. Denn letztere sind meist gerade ausverkauft. Aber da man nun schon mal dort ist, nimmt man den preisgünstigen Designerblumenständer mit, der wenig später auf dem Dachboden endgelagert wird.
Das Gefühl stets etwas obendrauf gepackt zu bekommen, was man gar nicht haben wollte, haben wir oftmals auch in der Wahlkabine. Man macht sein Kreuzchen bei der Partei, die eine verlässliche westlich orientierte Außenpolitik verspricht, und muss dafür – falls man in Bayern wohnt – ein Verbot der Grünen Gentechnik in Kauf nehmen. Wer Ganztagschulen und Kinderbetreuung wählen möchte, kriegt als Zugabe eine teure und illusorische Energiepolitik mit eingepackt. Vielleicht ist dies ja einer der Gründe, warum die Zahl der Nichtwähler unentwegt steigt.
Natürlich wurde auch früher Politik in Form von Gesamtpaketen aus vielen Einzelteilen verkauft. Doch damals besaßen mehr Menschen als heute eine Weltanschauung, die sie als konsistent empfanden. Man entschied sich meist schon als Jungendlicher links, konservativ oder liberal zu sein und kaufte damit ein ideologisches Set, dessen Einzelteile aus damaliger Sicht unverbrüchlich zusammengehörten.
Fragen der Technik, Wissenschaft und Medizin kamen in den politischen Kämpfen kaum vor. Ganz zu schweigen von Themen wie Datenschutz im Internet, Nichtrauchen oder gesunde Ernährung. Linke waren für technischen Fortschritt und gegen Religion. Heute sind sie gegen Atomkraft und für mehr Verständnis für den Islam.
Womöglich haben die Schweizer doch das klügere System. Dort stimmt man über Einzelfragen ab und ist nicht genötigt, Paketlösungen zu akzeptieren, von denen man eigentlich nur Teile haben möchte. Oder kann es sein, dass die deutschen Pakete einfach falsch geschnürt sind? Dass die Bürger inzwischen ganz andere Sets im Kopf haben, als die Parteien in ihren Programmen. Die vielen Ein-Punkt-Basisbewegungen, in denen sich Anhänger aller Parteien und noch mehr Anhänger keiner Partei treffen, scheinen diesen Verdacht zu bestätigen. Die alten Parteien passen nicht mehr zur neuen Unübersichtlichkeit.
Erschienen in DIE WELT am 29.10.2010