Gastautor / 09.11.2019 / 06:21 / Foto: J.P / 23 / Seite ausdrucken

“Coming Out” und ein Anruf beim ZDF

Von Jürgen Podzkiewitz.

9. November 1989 – bereitete ich mich im ZDF auf einen Dreh für das Magazin "Aspekte" in Ost-Berlin vor – die Premiere des ersten Schwulenfilms der DDR, in einem Kino in der Nähe des Alexanderplatzes – "Coming Out" von Heiner Carow. Keiner ahnt, daß Heiner Carow mit der Titelauswahl geradezu prophetisch diesen Tag beschreibt. Nach der Premiere fuhren wir gegen 20.00 Uhr zur Premierenfeier in einem Lokal in der Wisbyer Straße, in der Nähe des Grenzübergangs Bornholmer Straße. Gegen 21.30 Uhr ging ich vor die Tür, um eine zu rauchen. Vor dem Lokal – ein Stau Richtung Westen, an einem Donnerstagabend in der sonst autoarmen Hauptstadt der Republik.

Ich sehe, dass einer der Fahrer eine Zeitung liest. Es ist die "Berliner Morgenpost" – bislang verbotene Westpresse. Mein erster Gedanke: Das Regime hat Westpresse erlaubt. Die fahren alle eine Zeitung holen. Ich klopfe an seine Scheibe und frage, wo er die Zeitung her hat. Die Antwort wirft mich um: "die hab ich am Bahnhof Zoo gekauft, bin nur zurück um meine Familie zu holen, die Mauer ist offen."

Ich ging zurück zu Premierenfeier und sagte nur: "Die Party ist zu Ende, die Mauer ist offen." "Damit scherzt man nicht", erhielt ich als Antwort. Wir gingen sofort zum Grenzübergang Bornholmer Straße und drehten dort, bis alle Akus aufgebraucht waren. Gegen 23 Uhr gingen wir zu einer Telefonzelle in Westberlin, riefen im ZDF in Mainz an, um denen Bescheid zu sagen. Statt zu reagieren, legten die sofort auf. Beim zweiten Anruf wurden wir angebrüllt, wir sollten aufhören, sie mit Falschnachrichten zu belästigen.

Das Foto zeigt unser Team um 01:42 Uhr an der Bornholmer Straße, irgendwer hatte uns fotografiert und das Foto dem ZDF geschickt. Ganz rechts Bernhard von Dadelsen, links von mir mein Assistent Jürgen, ich bin der mit der Kamera.

 

Zum Autor: Jürgen Podzkiewitz, Jahrgang 1954, ist ein deutscher Filmemacher und Regisseur. 1992 war er bei den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen mit den ZDF-Journalisten Dietmar Schumann und Thomas Euting und über 100 Vietnamesen im dortigen Sonnenblumenhaus eingeschlossen und drehte die dramatischen Bilder ihrer Flucht aus dem brennenden Haus – Bilder, die um die Welt gingen. Das ZDF-Team wurde dafür unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. Siehe dazu auch diesen Achgut.com-Beitrag.

Foto: J.P

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A.Kehrwald / 09.11.2019

Damals studierte ich in West Berlin. Ein Freund klingelte nachts um 3, er war schon ziemlich besoffen, und sagte, er sei gerade in Ostberlin gewesen und zurück. Zu Fuß, einfach so. Die Mauer sei offen. Ich beschimpfte ihn wegen des nächtlichen Weckens und des Schwachsinns, den er erzählte. Er sagte: mach das Radio an (oder den Ferneseh?) Da wurde tatsächlich Ähnliches berichtet. Die Situation war aber noch völlig unübersichtlich, wir dachten eher an einen vorübergehenden Machtkampf im Ost System, die würden das schon wieder begrenzen, vielleicht zukünftig mit etwas mehr Freiheiten, niemals würden die die Grenze ganz beseitigen. Am nächsten Morgen gingen wir zur Mauer. Tausende Menschen strömten in den Westen, es war unglaublich. Das Bedrohliche, das man mit dem Osten verband, war weg, wir hatten eigentlich keine Angst, man spürte förmlich, wie die ihre Macht verloren und wie nun, wie auch immer, eine neue Zeit anbricht. Man begann, Mauersegmente zu entfernen da die Grenzübergänge den Anstrom der Menschen nicht mehr meisterten. Die Supermarktkette Reichelt kam mit 7,5 Tonnern und verschenkte daraus Bananen, Schokolade und Kaffee, auch hier bildeten sich Menschentrauben. Der Wedding, wo ich wohnte, ein Mauerbezirk, war voller Ostler, erkennbar an den stonewashed Jeans und den Frisuren, die im Westen lägst out waren. An den Banken bildeten sich riesige Schlangen weil die Leute dort ihr “Begrüßungsgeld” von 100 Mark abholen konnten. Ich ging vorbei zum Geldautomat und wurde angestarrt wie ein Alien. Im Westen wird die Valuta von Maschinen ausgespuckt. Das glauben ja heute noch viele, nur hat das nichts mehr mit Himmelsrichtung des Wohnortes zu tun.

Stefan Riedel / 09.11.2019

Die Antwort wirft mich um: „die hab ich am Bahnhof Zoo gekauft, bin nur zurück um meine Familie zu holen, die Mauer ist offen.“ Hallo Herr neuer Mauerbauer B o d o R a m e l o w. Mit Tschekistischem Gruß!

Barbara Stein / 09.11.2019

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend des Mauerfalls. Tage, Wochen und Monate zuvor hatten ich und meine Kinder ganztäglich im Radio und TV diese spannenden Vorgänge in der Politik verfolgt. Auch an Demos u.a. hatte ich teilgenommen. Krank geworden bin ich ob der Trägheit unserer “Oberen”, sogar schwerstkrank. Und am 9. 11. 1989 saß ich auch wieder vor der Glotze und schaute mir die PK mit Günther Schabowski an. Und dann kam die Frage aller Fragen und danach die etwas stotternde Antwort von G.S. Ich saß allein im Wohnzimmer. Mein jüngstes Kind schlief schon, mein Sohn war noch unterwegs. Als er dann spät in der Nacht nach Hause kam - er war damals nebenberuflich DJ - sagte ich ihm, dass die Mauer auf sei. “Ach Mutti, Du träumst doch!” So etwa waren seine Worte. Doch im TV lief ja die Live-Berichterstattung von Berlin. Keine Ahnung, ob ARD oder ZDF - aber DAS war der wohl schönste Augenblick in meinem politischen Denken. Doch die Zeiten haben sich geändert. Geändert hat sich nicht, dass im Denken der Deutschen immer noch die Mauer existiert und dies auch wegen den vielen, vielen Nadelstichen gegen die Ossis, gegen die Wessis, dieses Deutsche Volk wird zu meinen Lebzeiten niemals EIN Volk werden können. Dafür sorgen schon die, die an der Macht sind in diesem Land und die, die HINTER diesen stehen.  Und diese arbeiten nicht nur daran, die zerstrittenen Deutschen am Streiten zu halten, nein, nun soll dieses fleißige, gescheite, kreative Volk von der Erde verschwinden durch Verdünnen, durch Verdummen, durch Vermischung mit primitiven Völkergruppen.

Gerhard Döring / 09.11.2019

Da kann ja jeder bei irgendwelchen Medien anrufen und irgendwas behaupten.Gelernt haben sie schon,so glauben sie tanzenden Schulschwänzern das die verrückte Welt in 5 Jahren untergehen wird. Aber zum Thema.Zuständig währe der damalige Sender SFB gewesen denn die hatten einen “Draht"zu den Genossen und hätten den Wahrheitsgehalt der Meldung schnell überprüfen können.So läuft das übrigens noch heute in Berlin,mit dem Unterschied das die Genossen überall beim Staatsfernsehn selbst arbeiten.

Werner Arning / 09.11.2019

Super Schnappschuss. Mitten im Zeitgeschehen. Voll im Leben. Das ZDF bevorzugt offensichtlich das Leben nur aus Sicht des ZDF zu beschreiben und dazu braucht man eigentlich kein Zeitgeschehen, sondern Geschichten. Geschichten, die dem Bild, welches man sich von Richtig und Falsch bereits gemacht hat und welches in Stein gemeißelt ist, entsprechen. Alles, was davon abweicht, könnte stören, sei es noch so aktuell, noch so wahr. Deshalb vielleicht diese gewisse Schlafmützigkeit. Mauerfall? Habt ihr nichts Spannenderes? Etwa : Flüchtlinge, aus einem Land, in dem ein rechtes Regime sein Unwesen treibt, bitten um Asyl in Deutschland. Dafür stehen wir dann auch nachts auf.

Ilona Grimm / 09.11.2019

Das ZDF hat bis heute nicht lernen wollen, Falschnachrichten von echten und vollständigen zu unterscheiden. Ist wohl Politik.

Bettina Landmesser / 09.11.2019

Auch für mich war der Tag der Grenzöffnung bzw. der Tag danach unvergesslich. Ich studierte damals in Bayreuth und erhielt früh morgens am 10.11. von einem Mitstudenten die Nachricht, die Mauer sei auf. Mit mehreren Autos machten wir uns am frühen Morgen auf den Weg nach Berlin. Die Straßen waren leer. Als wir in die Nähe von Berlin kamen, wurde der Verkehr etwas stärker, aber vor allem: die Seitenstreifen der Autobahn wurde als Fußweg für DDR-Bürger genutzt, die zu tausenden neben den Autos herliefen, mit Plastiktüten bewaffnet. Allesamt Richtung Berlin. Das war Gänsehaut pur. Die Grenzer der DDR ließen uns unbeteiligt durchfahren, die Grenzer der Bundesrepublik haben jedes einzelne Auto freudig begrüßt, gewinkt, gejubelt. Hochstimmung an der Grenze. Es folgten in Berlin die typischen Stationen wie Check Point Charly, Brandenburger Tor, die Rede von Helmut Kohl, und und und. Spät abends fuhren wir müde und glücklich wieder zurück, aber dieser Weg wurde uns schwer gemacht. Die Rückfahrt nach Bayreuth dauerte gut 20 Stunden, zumindest in meiner Erinnerung. Dauerstau auf der Autobahn. Bayreuth war für die nächsten Monate dominiert von DDR-Bürgern. Hunderte Meter lange Schlangen vor den Banken, überfüllte Discounter, und schließlich war der Hertie vor Ort im Eingangsbereich ausgefüllt mit Heizradiatoren. Wir Studenten organisierten eine Schlafplatzbörse für DDR-Studenten und haben über den Winter bestimmt 500 ostdeutsche Studenten an Bayreuther Studenten vermittelt.

Karsten Dörre / 09.11.2019

Am Grenzübergang Lübeck-Schlutup (Schleswig-Holstein) konnte man gegen 21:30 Uhr ohne öffentliches Brimborium über die Grenze. Allerdings war dort kein Run wie in Berlin. Die offiziellen Bilder von der Bornholmer Straße (Berlin) mit dem Schlagbaum haben lediglich symbolischen Charakter. Die Grenzer kamen mit dem Prüfen und Abstempeln der Personalausweise nicht mehr nach und öffneten den Schlagbaum, weil die telefonisch, angeforderte Hilfe von weiter oben ausblieb und die Massen krakeelend gegen den Übergang drückte. Letztlich haben die Grenzer das getan, was westdeutsche Rot-Kreuz-Helfer vorher in der Prager Botschaft bei Unterbringung, Verpflegung und späteren Transport der DDR-Flüchtlinge zu den Bussen (die zu den Zügen fuhren) vollbrachten: wenn Entscheidungsträger nicht entscheiden, entscheiden Nicht-Entscheidungsträger.

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