Mathias Döpfner, Gastautor / 31.05.2013 / 18:03 / 0 / Seite ausdrucken

Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus

Mathias Döpfner

Nathan Scharansky, von 2001 bis 2003 stellvertretender Regierungschef in Israel, wuchs in der Sowjetunion auf. Er ist Mathematiker und Schachspieler. Einmal besiegte er sogar Garri Kasparow. Er arbeitete für Andrej Sacharow und schloss sich früh der russischen Bürgerrechtsbewegung an. 1977 wurde er wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu insgesamt 13 Jahren Haft und Arbeitslager verurteilt, wovon er neun Jahre im sibirischen Gulag Perm 35 verbrachte. Was er erleben und erdulden musste, übersteigt jede Vorstellungskraft. Unerträgliche Kälte, Einsamkeit, Hunger, Schmerzen. Jeden Tag psychische und physische Torturen: gezielt, grausam, erbarmungslos. Und immer lauerte die Verlockung, dass alles sofort zu Ende und ausgestanden sein könnte, wenn er sich nur zu einer winzigen Kleinigkeit bereiterklären würde.

Scharansky erzählt mir an einem Abend im King David Hotel in Jerusalem, dass ihm im Lager immer wieder ein Geschäft angeboten wurde: Man könne ihm die Folter ersparen, ja sogar die Freiheit schenken, wenn er nur bereit sei, ein paar relativierende, entschuldigende Sätze über seine „antisowjetischen Aktivitäten“ zu sagen. Ein Satz nur, ein Zitat. Warum hat er es nicht getan? Was gab ihm die Kraft dazu?

Ich wusste, sagt Scharansky, dass ich jeden Tag umgebracht werden konnte. Ich spürte in jedem Moment die Bedrohung. Der Tod war ganz nah. Aber ich wusste auch: Mit einem einzigen Satz würde ich das verlieren, was mich wirklich am Leben gehalten hat: meine innere Freiheit. Die zu verlieren, hat mich am meisten geängstigt.

Der teuflische Deal, den man ihm anbot, war ein Tausch: die geistige Freiheit gegen die körperliche Freiheit, seine Würde gegen sein Leben. Es war ein Machtspiel. Die Supermacht Sowjetunion gegen den kleinen Dissidenten. Scharansky aber verweigerte nicht aus Trotz jeden Kompromiss, sondern weil er wusste: Meinen Körper, mein Leben können sie mir nehmen, jederzeit, meine innere Freiheit, meine Selbstachtung dagegen nie. Das, nur das hat mich damals am Leben erhalten, sagt Scharansky. Für meine innere Freiheit nahm ich den Tod in Kauf.

Und dann sagt Scharansky etwas für mich Unfassbares: John Lennons Song „Imagine“ ist ein Antifreiheits-Lied. Ich antworte: Ich verstehe nicht ganz, dieses wunderbare Lied ist doch die Hymne einer ganzen Generation, die sich Frieden, Freiheit und Freizügigkeit auf die Fahnen geschrieben hatte. „Imagine“ ist definitiv ein Freiheits-Song. Scharansky hält dagegen: Freizügigkeit ja, Freiheit nein. In Lennons Lied heißt es: Stell dir vor, es gibt nichts, für das es wert ist zu sterben! Für Lennon war das der Wunschtraum. Für mich, sagt Scharansky, ist es der Albtraum.

Scharansky sieht in dieser Zeile von Lennon eine gefährliche Form von Kulturrelativismus. Das Ende der Freiheit, eine Kapitulation des selbstbestimmten Lebens vor der schieren biologischen Existenz. Unfreiheit ist Sterben vor dem Tod. Und wenn dieser Mann, der nach neun Jahren im Gulag am 11. Februar 1986 auf der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam gegen Ost-Agenten ausgetauscht und in die Freiheit entlassen wurde, vergnügt lächelnd bei einer Portion Hummus seine Geschichte erzählt, hat das nichts Heroisches, nichts Pathetisches, nichts Triumphales. Es ist einfach so.

Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, würde es längst kein Israel mehr geben. Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, hätte es keinen Aufstand im Warschauer Ghetto gegeben, der bis heute Millionen von Juden auf der Welt Selbstachtung und Stolz vermittelt. Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, hätte es auch das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 nicht gegeben, und wenn es Claus Schenk Graf von Stauffenberg und andere nicht wenigstens versucht hätten, hätten die Deutschen ihre Selbstachtung gänzlich verloren.

Ich kenne wenige Menschen, die so glücklich, zufrieden sind und in sich ruhen, wie Nathan Scharansky, der immer lacht, manchmal übers ganze Gesicht, und immer auch mit den Augen. Seine Botschaft ist einfach: Verteidigt Eure Freiheit mit allen Mitteln. Die Kapitulation vor der Unfreiheit ist der Tod. Freiheit ist Leben….

Es gibt eine Denkweise, die sich bei manchen Altlinken und Junglinken, bei Altnazis und Neonazis und in Abstufungen bei einigen sogenannten „Konservativen“ wie „Fortschrittlichen“ findet.  Diese Denkart richtet sich, damals wie heute, vor allem gegen drei Dinge: gegen die Wirtschaft, gegen Amerika und gegen Israel. In der Vorstellung von Verschwörungstheoretikern fügen sie sich zum Gesamtweltbild.  Ich nenne es das antifreiheitliche Dreieck. Es besteht aus Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus. Überall dort, wo grundlegende Ressentiments herrschen gegen die Marktwirtschaft (vulgo: Kapitalismus), gegen Amerika (oder seine „dekadente“ oder „oberflächliche“ Kultur) und gegen die Juden (politisch korrekt: gegen die „zionistische Politik“ Israels), ist es mit der Freiheit nicht weit her. In diesem antifreiheitlichen Dreieck manövrierten die Nazis, der Sowjetkommunismus, die DDR und die RAF und manövriert heute der islamistische Fundamentalismus.

Die größte und nachhaltigste Beschädigung des Freiheitsbewusstseins der Deutschen bewirkte das Dritte Reich. Als am 10. Mai 1933 die Bücher von Thomas und Heinrich Mann, Karl Marx, Heinrich Heine, Sigmund Freud, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky oder Alfred Kerr auf weithin leuchtenden Scheiterhaufen in Berlin und anderswo brannten, wurde der Weg bis zu den Krematorien von Auschwitz gezeichnet. In jeder zweiten Gedenkrede wird heute Heinrich Heines „Almansor“ von 1821 zitiert: “Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.” Die harte Konsequenz will kaum jemand daraus ziehen. Für mich ist nicht die Reichspogromnacht, sondern die Bücherverbrennung der entscheidende Wendepunkt der Zivilisation zur Barbarei. Nicht erst als Fassaden beschmiert, Fenster eingeworfen, Geschäfte zerstört und Menschen gehetzt und getötet wurden zeigte der Nationalsozialismus sein wahres Gesicht. Sondern schon fünf Jahre vorher, als die Freiheit der Presse abgeschafft, die Freiheit der Kunst verhöhnt und verbrannt wurde. Die Freiheitsfalle damals: Man dachte, es sei doch nur Kunst. Aber es war das Leben.

Vordergründig geht es nur um die Vernichtung Amerikas und Israels. Das eigentliche Ziel wird aber durchaus deutlich: Der Kampf gilt den „Ungläubigen“ dieser Welt, namentlich allen Christen und Juden – auch in Europa, auch bei uns.  Die “Schlacht zwischen Glaube und Unglaube” meint die Religionsfreiheit in der westlichen Welt, die fundamentalistischen Moslems ein Dorn im Auge ist. Mit dem Entzug von Sicherheit soll dem Westen die verhasste Freizügigkeit seines Lebensstils ausgetrieben werden. Das sind, verkürzt, die Ziele des „Heiligen Krieges“. Das ist auch der Kern des fundamentalistischen Islamismus.

Immer wieder verschwimmt in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen Islam und Islamismus.  Das eine ist eine Religion. Sie verdient Respekt, Verständnis, Toleranz. Das andere ist eine totalitäre Verbindung aus Politik und Religion, in vielen Fällen: Terror mit Hilfe einer für eigene Zwecke missbrauchten Religion. Kritik am Islamismus ist keine Kritik am Islam. Ebenso wenig wie sich Kritik am Nationalismus gegen die Nation richtet oder Kritik am Sozialismus gegen das Soziale. Im Gegenteil: Wer das Soziale verteidigen will, sollte den Sozialismus bekämpfen, wer die Nation schätzt, bewahrt sie vor Nationalismus. Und wer den Islam respektiert, hält ihn vom Islamismus fern.

Bei der Vorbereitung einer Schiffsreise durch das Rote Meer wurde mir empfohlen, einen Reisepass ohne israelischen Stempel mitzunehmen. Es könne sonst passieren, dass ich in einige der muslimischen Länder nicht einreisen dürfe. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ein Staat sogar Touristen den Aufenthalt verweigert, nur weil sie mal in einem ungeliebten Land waren. Israel lässt schließlich sogar Bürger der Länder einreisen, welche die Vernichtung Israels zum offiziellen Staatsziel erklärt haben. Ich wollte es darauf ankommen lassen, nach dem Prinzip: In einem Land, das so intolerant ist, würde ich mich gar nicht aufhalten wollen. Die Kreuzfahrt hatte fünf Stationen. Mit meinen israelischen Stempeln wurde ich in vier Häfen zurückgewiesen. Den allergrößten Teil der Tour verbrachte ich alleine auf dem Schiff. Nur in Ägypten durfte ich an Land. Abgelehnt wurde ich auch im Jemen. Ich war nicht unfroh. Meine Mitreisenden spotteten. Drei Wochen später nicht mehr, als im Jemen eine deutsche Familie entführt wurde.

Es gehört zu den naiven Wahrnehmungsmustern in Europa, dass man das Problem des islamistischen Terrorismus gerne auf Israel, am liebsten auf eine bestimmte israelische Regierung, und auf Amerika, am liebsten auf eine bestimmte amerikanische Regierung, beschränken möchte. Darin schwingt mit: Wir müssen uns ja nicht in die Schusslinie bringen, sollen doch die Verursacher ihre Probleme selbst lösen. Das ist erstens genau das, was die Islamisten sich wünschen, zweitens ziemlich charakterlos. Vor allem aber verkennt, wer so denkt, vollkommen die Realität des Konflikts.

Die Hierarchie der Gegner heißt: zuerst Israel, dann Amerika und schließlich der Rest der westlichen oder mit dem Westen verbündeten Welt. In einem schleichenden, aber systematischen Prozess wird der Widerstand auch aus dem Inneren der “ungläubigen” Gesellschaften organisiert.

Die Islamisten unter den Muslimen sind eine Minderheit. Das heißt: Fast alle Muslime sind potenziell Verbündete im Kampf gegen den Islamismus – aber auch potenzielle Adressaten, die für eine Gefolgschaft im Zeichen des Islamismus gewonnen werden sollen. Wer ist stärker: der gemäßigte, moderne Islam oder der radikale, vormoderne Islamismus? Wer heute gegen den Islamismus kämpft, stärkt einen aufgeklärten, selbstbewussten, modernen Islam. Ein Konflikt der muslimischen Welt gegen die nichtmuslimische wäre ein Rückschritt ins Zeitalter der Glaubenskriege und überdies nicht zu gewinnen. Es kann immer nur um eine Konfliktlinie gehen: die demokratische gegen die nicht demokratische Welt. Freiheit gegen Fundamentalismus.

Ein gefährliches Missverständnis in der Deutung islamistischer Bedrohungen, ist die weitverbreitete Auffassung, fundamentalistische Führer, insbesondere der iranische Präsident drohten zwar immerzu mit der Vernichtung Israels und mit der Entwicklung von Nuklearwaffen, aber das seien nur taktische Drohungen, die niemals umgesetzt würden – nach dem Motto: Hunde, die bellen, beißen nicht. Für diese Ansicht gibt es nicht die geringste Evidenz. Im Gegenteil: Diktatoren tun in der Regel ziemlich präzise das, was sie öffentlich ankündigen.

Mao Tse-tung hatte am 13. August 1945 erklärt: „Für alles Reaktionäre gilt, dass es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt. Es ist die gleiche Regel wie beim Bodenkehren - wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von selbst verschwinden.” In den Jahren 1949 bis 1975 forderte Maos Diktatur über 70 Millionen Todesopfer. Mao übertrifft damit Hitler und Josef Stalin, die beiden anderen Tyrannen des 20. Jahrhunderts, um ein Vielfaches. Von Stalin stammt der Satz: “Wenn auch nur fünf Prozent der Getöteten wirkliche Feinde sind, dann ist das Ziel erreicht.” Das ist die Ankündigung des wahllosen Massenmords in der Annahme, durch pure Stochastik schon die Richtigen zu erwischen. Allein während der “Großen Säuberung” von 1937/ 1938 starben fast 700.000, jeden Tag gab es also über 1.900 Tote. Schätzungen ergaben, dass bis zu Stalins Tod 1953 zwischen 20 und 25 Millionen Menschen in den Tod getrieben wurden. Die Diktatoren der Geschichte, allen voran Hitler, Mao und Stalin, haben den Massenmord in ähnlicher Weise angekündigt wie heute Ahmadinedschad.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen. Hitler schrieb das Buch ab 1924, als er noch in der Festung Landsberg inhaftiert war - fast ein Jahrzehnt vor seinem alles umwälzenden Wahlsieg also. Umso frappierender ist, wie genau seine Ankündigungen mit den tatsächlichen späteren Ereignissen übereinstimmen. Er fordert dort unter anderem: den Austausch des Parlamentarismus durch einen “germanischen Führerstaat”, den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, die Gewinnung der deutschen Arbeiterschaft durch “Rassenkampf statt Klassenkampf”, die Zerschlagung des Bolschewismus durch einen Eroberungs- oder Rassenkrieg gegen die Sowjetunion, (vergleichbar dem Religionskrieg des “Dschihad”), die Rückholung von Frauen in die Mutterrolle, heraus aus den Männerdomänen, und vor allem die Rechtfertigung seiner antisemitischen Vernichtungs-Ideologie als gottgewollt: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Ganz abgesehen von den inhaltlichen Wahlverwandtschaften zu islamistischen Terroristen, ist auch in Zukunft vorsichtshalber davon auszugehen, dass Diktatoren tun, was sie sagen. 

Es ist schwer nachzuvollziehen, warum der Islamismus und seine Gewaltkonflikte von Afghanistan über Pakistan bis Iran ausgerechnet in Deutschland verharmlost, wenn nicht in verständnisvollem Licht gesehen werden. Vor allem, warum in diesem Zusammenhang viele so befremdlich milde über etwas urteilen, das glücklicherweise sonst in unserer Gesellschaft längst als inakzeptabel gilt: die massive Diskriminierung von Frauen.

Wer in der Freiheitsfalle sitzt, setzt Toleranz solange absolut, bis sie zur Toleranz gegenüber der Intoleranz wird. Das ist ein Missverständnis: Für die Intoleranz an sich, also für das Unfreiheitliche, darf es kein Verständnis geben. Nur Intoleranz gegenüber der Intoleranz bewahrt die Freiheit.

In der Charta der Hamas findet sich unter Artikel 7 folgende Schlüsselstelle: “Weil Muslime, die die Sache der Hamas verfolgen und für ihren Sieg kämpfen ... überall auf der Erde verbreitet sind, ist die Islamistische Widerstandsbewegung eine universelle Bewegung. ... Hamas ist eines der Glieder in der Kette des Dschihad, die sich der zionistischen Invasion entgegenstellt. ... Der Prophet – Andacht und Frieden Allahs sei mit ihm, – erklärte: Die Zeit wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten; bevor sich nicht die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, welche ausrufen: Oh Muslim! Da ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt; komm und töte ihn!”

Die europäische Diplomatie zwischen Palästinensern und Israelis bemüht oft den Begriff „Äquidistanz“. Äquidistanz zu beiden Parteien sei die richtige Haltung Europas. Äquidistanz zwischen einem Aggressor, der das Mittel der Terroranschläge systematisch einsetzt, und einem demokratischen Verteidiger. In Israel, einem Rechtsstaat, wird der ehemalige Präsident Mosche Katsav wegen sexueller Belästigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In Israels Nachbarländern, wird eine Frau, die sexuelle Belästigung zur Sprache bringt, verurteilt, und wenn sie Pech hat, gesteinigt. Das ist die Realität. Das ist die rechtliche Lage. Da von Äquidistanz zu sprechen, mutet höhnisch an.

Es geht nicht darum, Israel von Kritik auszunehmen. Im Gegenteil: Man kann und muss aktuelle politische Entscheidungen kritisieren. Aber: Es ist kein Zeichen von Chauvinismus, wenn wir unsere freiheitliche Grundordnung für besser halten. Es wäre zynischer Relativismus, wenn wir sagten: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Das tut sie eben nicht. Die Unterstützung Israels ist im Interesse des Westens. Die Grenzen für die Methoden und Mittel der Auseinandersetzung zieht die Freiheit selbst: Wir können nicht im Namen der Freiheit Meinungen unterdrücken oder Nachrichten manipulieren, wir können nicht im Namen der Freiheit foltern. Aber wir können uns mit demokratischen, rechtsstaatlichen Mitteln wehrhaft zeigen, so intelligent und erfolgreich wie möglich.

Ich möchte nicht in zwei Jahrzehnten von meinen Kindern und Enkeln gefragt werden: Warum habt ihr damals nichts getan? Ihr habt doch sehen können und sehen müssen, welche Gefahren drohen. Ihr konntet doch alles in den Geschichtsbüchern nachlesen. Ihr wusstet doch, wohin Appeasement führt.

Der einzige Holocaust-Überlebende, der im 21. Jahrhundert dem israelischen Parlament, der Knesset angehörte, war Tommy Lapid. Ich fragte ihn eines Abends, warum er, der erfolgreiche Autor und Journalist, in die Politik gegangen sei. Der alte Mann mit einem Gesichtsausdruck, von dem man nie genau wusste, ob er verschmitzte Heiterkeit oder eine hinter einem Lachen versteckte Traurigkeit ausdrückte,  antwortete mit einer Geschichte aus seiner Kindheit im Budapester Ghetto. Eines Tages kamen die Deutschen und begannen mit wahllosen Erschießungen. Sie richteten auch seine besten Freunde hin, Kinder wie er. Er selbst konnte sich in dem Durcheinander verstecken und überlebte wie durch ein Wunder. In diesem Moment habe ich mir vorgenommen, sagte Lapid, wenn ich je daran mitwirken kann, dass es auf der Welt einen sicheren Ort für jüdische Kinder gibt, dann werde ich alles dafür tun. Deshalb bin ich in die Politik gegangen, deshalb habe ich in Israel eine Partei erfolgreich in die Knesset geführt.  Kurz vor seinem Tod im Jahr 2008 sah Lapid wenig Grund zum Optimismus. Wieder war ein Schulbus von einem palästinensischen Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt worden. Es ist bitter, mit anzusehen, sagte Lapid, dass ausgerechnet Israel, das ich seit vielen Jahrzehnten für den Ort gehalten habe, an dem jüdische Kinder sicher sind, einer der Plätze der Welt ist, wo jüdische Kinder am unsichersten sind.

Der 11. September 2001 war das Menetekel eines Heiligen Kriegs gegen unsere westlich-freiheitliche Lebensform. Der 1986 gestorbene Architekt des World Trade Centers Minoru Yamasaki war von der politischen Dimension seines Werkes überzeugt: “Ein Welthandelszentrum ist ein Zeichen für den Weltfrieden.” Einstweilen ist dieses Zeichen eine Baustelle.

Mathias Doepfner hat diese Rede am 15. Mai bei einem Symposium des Nahost Friedensforums e.V. (NAFFO) in Berlin gehalten

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