1968: Ein Babyboom tobt sich aus

Friedrich Nietzsche formulierte 1882 seine Einsicht in Revolten so:

„Wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt. (...) Was sie reizt, ist der (...) Anblick der brennenden Lunte. (...) Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!" („Die fröhliche Wissenschaft", Aphorismus 38).

Und ein Jahr später ergänzt Preussens Infanterielehrer Colmar von der Goltz in „Das Volk in Waffen": „Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben. [...] Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig. [...] Sie tritt mit Freude und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit nothwendig sind."

Solche Erkenntnisse lassen sich damals nur erahnen. Heute können wir zwischen der Gewaltbereitschaft, die sich in Rebellionen und Revolten äußert, und dem Anteil junger Männer an der Gesamtbevölkerung einen Zusammenhang herstellen. Zur Quantifizierung dieses Phänomens habe ich einen einfachen Kriegsindex entwickelt.

Dieser misst die Relation zwischen 55- und 59-jährigen Männern, die sich auf die Rente vorbereiten, und 15- bis 19-jährigen Jünglingen, die den Lebenskampf aufnehmen und für sich gesellschaftliche Positionen anstreben. Deutschland hat heute einen Kriegsindex von 0,66. Auf 1.000 alte folgen 666 junge Männer. Der Kriegsindex im Gazastreifen oder in Afghanistan ist zehnmal so hoch. Auf 1.000 alte folgen über 6.000 junge Männer.

Zwischen 1800 und 1914 springt Europas Menschenzahl von 180 auf 480 Millionen, der Kriegsindex auf dem Kontinent liegt stets bei 3 bis 5. Weil es längst nicht genügend frei werdende Positionen gibt, suchen die vielen jungen Männer einen Ausweg in Heroismus durch Heldentod oder Sieg. Kriegsverluste beim Siegen und Kolonisieren in Übersee sowie durch Seuchen und Kriege daheim werden umgehend ausgeglichen bei Geburtszahlen zwischen 4 und 8 Kindern pro Frau.

Und die Gewalt nimmt kein Ende, denn die demografischen Daten bleiben kritisch. Zwischen 1914 und 1945 fallen Europas Geburtenzahlen, bleiben aber beträchtlich. Und zusätzlich zu den von Nazis und Kommunisten verübten Genoziden werden auf dem Kontinent auch noch 24 Millionen junge Männer auf den Schlachtfeldern getötet. Das hat sich dramatisch umgekehrt, Europa ist ein Kontinent des Friedens geworden. Seine Kinderzahl liegt heute bei durchschnittlich 1,5 pro Frau, während das Durchschnittsalter seiner Bevölkerung von 20 auf 42 Jahre steigt, der Kriegsindex unter 1 sinkt und die Alte Welt als Machtfaktor entfällt.

Die Babyboomer wurden zu 68ern

Nur einmal noch reicht es zu einer – zwar nicht kriegerischen, aber doch gewaltsamen – Bewegung, deren Träger auch demografisch als 68er bezeichnet werden können. Sie entspringen jenem Babyboom, der zwischen den späten vierziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum bisher letzten Mal seit dem 19. Jahrhundert eine spürbare Steigerung der Kinderzahlen beschert. Die 1948 Geborenen werden zu den demonstrierenden Studenten von 1968. Nach 1985, als die letzten starken Jahrgänge erwachsen sind, klingt der Rausch der Revolte ab. Weil Jungvolk ausbleibt, beendet selbst Deutschlands Terrororganisation Rote-Armee-Fraktion 1992 das Töten.

Die Entwicklung lässt sich mit Zahlen zeigen: Der Kriegsindex der Babyboomer wächst in Deutschland von 1,63 (1955) auf 2,43 im Jahr 1975, um bis heute auf 0,65 zu sinken. In Italien steigt er von 1,34 (1970) auf 1,93 (1975; heute 0,70). Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs liegt Polen vorne. Zwischen 1960 und 1975 springt das Land von 1,53 auf 3,57 (heute 0,71).

In der Tat gewinnt man Pulverfässer nicht mit Gründen, wie Nietzsche sagte. Ideologien sind meist nachgeschoben. Das zeigt gerade der Vergleich mit Polen schön. Während man sich im Westen am Ende der sechziger Jahre über Freiheit und Kapitalismus empört, fordert der Osten die kommunistische Diktatur heraus, als 1970 in Danzig gegen hohe Preise und zehn Jahre später für freie Gewerkschaften gestreikt wird.

Verglichen mit dem 19. Jahrhundert, als der Kriegsindex in der Spitze doppelt so hoch lag, bleibt die Waffenlust der 68er allerdings gebremst. Es muss ja auch niemand mit vier bis acht Gleichaltrigen um einen Posten kämpfen. Von dem Schicksal der 1,7 Milliarden Menschen in den derzeit 81 Staaten mit Kriegsindex-Werten zwischen 2,5 und 8 bleibt man verschont.

Die 68er haben gleichzeitig mitgeholfen, die Demografie dauerhaft zu ändern: Mit der sexuellen Revolution, welche unter anderem auch der Geburtenkontrolle zum Durchbruch verhalf. Und mit Selbstverwirklichung auf dem Arbeitsmarkt, wo längst mehr Vorteile hat, wer kinderlos bleibt. Beliebt wird 1968 der Slogan Make love, not war. Heraus kommt Make love, not babies. Im Ergebnis nützt auch das dem Frieden.

Dieser Beitrag erschien auch in der NZZ am Sonntag.

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Michael Jansen / 21.03.2018

“Im Ergebnis nützt das auch dem Frieden.” Hinter die Erkenntnis muss man wohl ein Fragezeichen setzen, denn sie hat leider nur dann Gültigkeit, wenn es um kriegerische Auseinandersetzungen zwischen gleich gearteten Ländern geht. So ist sicher nicht zu befürchten, dass Deutschland wie früher Polen oder Frankreich überfällt, aber sobald es sich um einen Konflikt zwischen geburtenschwachen Staaten auf der einen Seite und geburtenstarken Gesellschaften andererseits handelt, verschiebt sich das Gleichgewicht stark zugunsten der Geburtenstarken. Das hat seinen Grund ganz einfach darin, dass die meist westlichen Gesellschaften mit oft nur einem Sohn in der Familie nur sehr begrenzt bereit sind, eben diesen einzigen Sohn in irgendwelchen Kriegen zu opfern. Wenn der Gegner nun in der Familie vielleicht vier oder mehr Söhne aufzubieten hat, dann ist zum einen die Opferbereitschaft größer und dazu ein stetiger Nachschub an Kämpfern gegeben, den die Staaten mit weniger jungen Männern nicht ausgleichen können. Warum wohl ist es in den letzten Jahrzehnten keinem geburtenschwachen Land gelungen, in einem Konflikt mit nach landläufigen Maßstäben militärisch weit unterlegenen meist Dritte-Welt-Staaten dauerhaft zu siegen, wenn diese sich durch eine hohe Geburtenrate auszeichneten, sei es Russland in Afghanistan oder Amerika in Vietnam und im Irak. Wenn dann zu den zahlreichen jungen Männern auch noch die entsprechende Ideologie kommt (sei es der Kommunismus, der Islam oder der Patriotismus), dann sind diese Gesellschaften kaum zu besiegen. Dann stellt sich nebenher natürlich die Frage, ob es besonders sinnvoll ist, sich auch noch mehr als eine Million solcher Kandidaten ins Land zu holen, zumal dann hier die entweder oft gewaltaffinen oder bereits kriegs- und bürgerkriegserprobten Jungmänner auf eine Gesellschaft treffen, deren Verteidigungswille und Verteidigungsfähigkeit am Boden liegen.

Aquiel Atreides / 21.03.2018

Geehrter Herr G. Heinsohn Ich schätze ihre Ansicht, ihre Berechnungen. Mit der Einwanderung von Hunderttausenden von jungen, archaisch erzogenen Männern steht Deutschland (und der Rest von Europa) allerdings gerade am Anfang einer Gewaltwelle die sich zuallererst in den Asylheimen untereinander zeigte und dank “Integration” in die Bevölkerung nun im Alltagsleben überall ausbreitet. Ausländische Politik und deren Verwerfungen werden zusätzliche Konfliktherde in Deutschland und Europa auf den Plan bringen. Die Justiz wird immer mehr überfordert und Gruppierungen / Bandenkriege werden zunehmen. Der IS und seine Schergen sind ein weiteres Risiko. Dass die EU sechs weitere Balkanländer in die EU führen will (Nettobezüger) wird das Chaos wohl abrunden. Der Leidtragende wird der immer älter werdende Mittelstand sein der dies nicht nur monetär ausbaden muss sondern komplett zwischen die Räder geraten wird. Die Politik in Europa scheint dies allerdings so zu wollen. Anders kann ich die jetzige, politisch korrekte Fahrtrichtung nicht einschätzen. Gruss aus der (noch) selbstbestimmten Schweiz.

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