Ulrich Sahm
„Eine Auseinandersetzung des New Yorker Autors Tuvia Tenenbom mit “Süddeutscher Zeitung” und dem Rowohlt Verlag zeigt: Selbst die liberale deutsche Öffentlichkeit ist nicht davor gefeit, in vorbelastete Sprachmuster zurückzufallen.“
Mit diesem Vorspann setzt sich Spiegel-Autor Sebastian Hammelehle mit einem eigentümlichen deutschen Phänomen auseinander, nämlich der Frage, ob die Bezeichnung „Der Jude Tenenbom“ eine von der Nazizeit übernommene antisemitische Herabwürdigung von Juden ist. Obgleich wohl fast jeder weiß, dass die „Tochter“, Evelyn Galinsky, eine Jüdin ist, weil sie damit hausieren geht, hätte niemand einen Grund, sie zu beachten, wenn sie keine Jüdin wäre.
Zusätzlich schmückt sie sich mit dem Titel „Tochter eines Holocaustüberlebenden“ und Heinz Galinskis vermeintlichem Lebensmotto: „Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen.“ (Die “Tochter” ist 1949 geboren!) Das dient ihr als Totschlagargument gegen jeden, der ihre Meinungen kritisiert. Gleiches gilt für andere „Alibi-Juden“ wie Uri Avnery, Mosche Zimmermann und sogar die Nichtjüdin Irena Wachendorff. Solange sie über Israel oder Juden erzählen, was ein „Deutscher“ angeblich nicht sagen darf, weil vermeintlich „Kritik an Israel“ ein Tabu ist, lassen sie sich ordentliche Honorare für ihre häufigen Medienauftritte bezahlen.
Berufsjude zu sein ist in Deutschland ein einträgliches Geschäft, solange man das sagt, was der Mainstream hören möchte. Millionen andere Juden, darunter „illegale jüdische Siedler“ oder Befürworter des mit Mehrheit im jüdischen Staat Israel gewählten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu werden gar nicht erst nach ihrer Meinung gefragt. Nur für extreme Kritiker Israels wie Ilan Pappe oder Schlomo Sand gilt der Spruch: „Wenn sogar ein Jude das behauptet, muss es doch stimmen“.
Bei türkischen Kindern auf Schulhöfen in Berlin oder wenn Rabbi David Alter von unbekannten Jugendlichen attackiert wird, ist „Jude“ offenkundig ein Schimpfwort. Wegen deutscher Empfindlichkeiten wollen wir die Frage nicht weiter verfolgen, ob es nun wirklich „antisemitisch“ ist, das Wort „Jude“ in den Mund zu nehmen. Die in den Medien grassierende Titelei, sogar in vermeintlich neutralen sachlichen Agentur-Berichten, sollte mal wissenschaftlich geprüft werden. So gibt es ein Land, dessen Ministerpräsidenten seit über einem Jahrzehnt als „hardliner“ betitelt werden, während ihr politischer Gegenpart, etwa ein gewisser Jassir Arafat, niemals „Weichei“ bezeichnet worden ist. Logischerweise müsste doch einem Hardliner ein kompromissbereites Weichei gegenüberstehen.
Ebenso problematisch ist die Bezeichnung der israelischen Regierung als „rechts-national“. Denn der zweitmächtigste Mann jener vermeintlich „rechtsnationalen Regierung“ ist Verteidigungsminister Ehud Barak. Bis vor kurzem war er Vorsitzender der sozialistischen Arbeitspartei, Mitglied der sozialistischen Internationale. Aus verständlichen Gründen wurde Israels Regierung in deutschen Medien dennoch nicht als „national-sozialistisch“ bezeichnet, obgleich das sachlich korrekter gewesen wäre, natürlich ohne deutsche Konnotationen.
Was für andere Länder und Juden gilt, sollte auch für Deutsche gelten. Zum Beispiel Cem Özedmir. Wann wurde der zuletzt als „türkisches Gastarbeiterkind, Tscherkesse und Moslem“ bezeichnet? Und wenn sich Spiegelautor Sebastian Hammelehle seitenlang über das Thema auslässt, ob „Jude“ Ehrentitel oder Schimpfwort ist, wäre es angebracht, dass die Leser erfahren, ob er das als überzeugter Protestant oder als frommer Katholik geschrieben hat. Gleiches gilt natürlich auch für alle in seinem Artikel erwähnten Personen, deren „Glaube“ und Volkszugehörigkeit verborgen bleiben.
Natürlich ist es für uns Deutsche extrem relevant, ob ein Jude Holocaustüberlebender ist, damit wir nur ja nicht wagen, den Mund auftun, um ihm zu widersprechen. Aber Hand aufs Herz. Unter uns lebten und leben nicht nur ehemalige SS-Leute wie Günter Grass, sondern auch Deutsche, die unschuldig fürchterliche Schrecken des Krieges durchgemacht und Familienangehörige verloren haben oder Traumata mit sich herumtragen, genauso wie Holocaustüberlebende: Juden, russische Kriegsgefangene, Roma und Sinti, Homosexuelle, Priester, polnische Intellektuelle und sonstige Nazigegner.
Deutsche verfallen in ein betretenes Schweigen, wenn ihnen ein Zeitzeuge, also Jude und Holocaustüberlebender, gegenüber sitzt und vom Leder zieht, wie etwa Reuven Moskovitch, um aus Israel den schlimmsten Verbrecherstaat der Welt zu machen. Im Rahmen der Meinungsfreiheit sei ihm das zugestanden. Aber „Ja und Amen“ zu sagen, nur weil er eine jüdische Mutter hatte, ist keine Methode. Das Überleben im KZ ist kein Freibrief für ein Meinungsmonopol, zumal viele Abgänger der Nazi-Lehranstalt für Grausamkeit auch ganz andere Meinungen vertreten. Viele wollen ihre vernichtungswilligen Feinde nicht lieben, wie Moskovitsch, sondern um keinen Preis ein zweites Auschwitz zulassen. Müssen wir wirklich jedem Polen, Russen, Homosexuellen, Priester oder Juden blindlings zustimmen, nur weil sie das KZ überlebt haben?
Vom „Jude Tenenbom“ zu reden, ist also einwandfreier Antisemitismus, solange nicht Verteidigungsminister de Maiziere bei jeder Erwähnung als Hugenotte bezeichnet wird, Özdemir als Kind türkischer Gastarbeiter, Tscherkesse und Moslem, Rössler als Vietnamese und fast alle Politiker dieser Republik als Kriegsteilnehmer, Kriegsgeschädigte, Mitläufer, Flakhelfer wie Helmut Kohl oder Wehrmachtsoldaten wie Helmut Schmidt. Und Spiegelautoren wie Sebastian Hammelehle mögen doch bitteschön genauso gewissenhaft ihre Religionszugehörigkeit offen legen und möglichst auch ihre Familiengeschichte, damit der Leser sie in die richtige Schublade packen kann, etwa als Kind eines NSDAP-Mitglieds oder eines traumatisierten Kriegsopfers. Was für den „Juden Tenenbom“ gilt, sollte genau so für alle Nicht-Juden gelten.