Michael Miersch / 17.02.2009 / 13:41 / 0 / Seite ausdrucken

Virtuelle Werte

Kolumne von Maxeiner & Miersch, erschienen in DIE WELT am 13.02.2009

Als störrische Optimisten suchen wir nach dem Guten in der Krise. Und wenn man nur lange genug sucht, findet man auch einiges. Zum Beispiel war es uns noch nie so angenehm wie zurzeit, nicht reich zu sein. Wir müssen nicht um giftige Papiere und windige Finanzkonstrukte zittern. Ganz entspannend eigentlich. Anders als bei manchen früheren Konjunktureinbrüchen trifft es nicht nur die Falschen. Sondern auch die, die meinten, die Produktion von Waren und die Bereitstellungen von Dienstleistungen sei eine veraltete Methode, Geld zu verdienen. Wir hatten dieses Aufeinanderstapeln von Schulden ohnehin nie richtig verstanden, litten dabei aber unter dem unbestimmten Gefühl, doof zu sein, und nicht zu kapieren, wie richtig Geld gemacht wird. Nun entpuppen sich die so kunstvoll konstruieren Werte als virtuell. Dumm gelaufen. Wir wollen ja nicht hämisch sein, aber wie viele Menschen ohne ausgeprägtes Finanztalent, empfinden wir beim Anblick von Börsenmaklern mit Pappkartons unterm Arm ein Quäntchen weniger Mitleid, als bei Bildern aus Darfur oder dem Kongo.

Nicht allein die Reichtümer waren virtuell, auch die Armut in den wohlhabenden Ländern des Westens ist teilweise eher theoretischer Natur Die Krise könnte zum Nachdenken über einige Prämissen der Sozialstatistik anregen. Es ist gut möglich, schrieb kürzlich Kristian Niemietz, vom britischen Think Tank Institute for Economic Affairs, dass die Armutsforscher vor einem Rätsel stehen, wenn die Krise vorbei ist. Die Statistik könnte möglicherweise einen Rückgang der Armut zeigen. Das wäre nicht das erste Mal. Die Joseph Rowntree Foundation fand heraus: „Da die Altersrenten im Wesentliche fix sind, fällt in Rezessionen tendenziell die Alteraarmut. Die Rentner stehen relativ zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, besser da. In wirtschaftlich guten Zeiten dagegen steigt die Altersarmut.“ Hintergrund dieses paradoxen Effekts ist die Art und Weise, wie Armut in den Industrieländern gemessen wird. In den meisten europäischen Staaten wird als arm definiert, wer weniger als sechzig Prozent des jeweiligen statistischen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Kriegen allen weniger, sinkt der Durchschnitt und die Relation verschiebt sich - mit dem Effekt, dass die Armen zwar genauso arm sind wie vorher, aber reicher erscheinen.

Die viel bemühten Vergleiche mit der Weltwirtschaftkrise von 1929 scheinen uns ohnehin ein wenig überspitzt. Den Arbeitslosen von damals mangelte es an Fleisch in der Suppe und Kohle im Ofen, nicht an Flachbildschirmen und Urlaubsreisen. Aber wahrscheinlich spricht nur neoliberale Herzenskälte aus uns, wenn wir so etwas erwähnen.

Noch eine kleine Zukunftsspekulation sei erlaubt: Die nächste Regierung wird verkünden, der Rückgang der Armut sei ein Ergebnis ihrer vorbildlichen Sozialpolitik. Wir gratulieren schon heute.

 

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