Fred Viebahn / 30.11.2009 / 03:11 / 0 / Seite ausdrucken

Das Ende der Chemnitzer Bratwurst in Akron, Ohio

oder: Black Friday, Cyber-Monday und die Lücken der Erinnerung

Zum sechstenmal wurde am vergangenen Freitag im Herzen von Akron, der Heimatstadt meiner Frau im industriellen Norden des Staates Ohio, der „Chriskindl Market” eröffnet. Das fehlende „t“ ist übrigens nicht mein Tippfehler und hat sich von Anfang an, also seit 2004, bis heute gehalten, obwohl man meinen möchte, daß die Kaufleute aus der „Schwesterstadt“ Chemnitz, die hier bis 2008 jährlich sechs Wochen lang Seite an Seite mit den Lokalleckereien einheimischer Händler Glasbläsereien, Bierkrüge, Lebkuchenherzen und Bratwürste mit Bautzener Senf feilboten, dieser Verballhornung Einhalt hätten gebieten sollen. (Oder vertue ich mich in meinem hochdeutschen Hochmut – heißt das Baby aus Bethlehem etwa auf sächsisch tatsächlich Chriskindl?) Leider hat die Stadtverwaltung von Akron dieses Jahr die Reise- und Aufenthaltskosten der Sachsen nicht mehr subventioniert, also blieben die meisten aus; schuld, so verkündete der Bürgermeister, sei die prekäre Wirtschaftslage. Dabei erhoffte sich die frühere Hauptstadt der amerikanischen Reifenindustrie von den Chemnitzer Importen Anreize, Konsumenten in die ansonsten sterile bis halbtote Innenstadt zu locken, und gemessen an den Menschenmassen, die sich an den erzgebirgisch inspirierten Holzhütten drängeln, war die Idee ein überwältigender Erfolg; mal sehn, was passiert, wenn sich das diesjährige Ausbleiben der Exoten aus den fernen ostdeutschen Landen weiter herumspricht—auch wenn es drei Chemnitzer Kunsthandwerker auf eigene Kosten weiterhin gewagt haben, über den Großen Teich zu fliegen, um ihre Waren anzubieten. Die Bratwürste schmecken halt weniger knackig, vom laffen Mostrichbestrich ganz zu schweigen; aber wenigstens beim Sauerkraut hat sich nichts geändert.

Am Freitag nach Thanksgiving, diesem uramerikanischen Holiday am vierten Novemberdonnerstag,  geriet nicht nur auf dem Chriskindl Market von Akron, sondern überall in den USA das Weihnachtsgeschäft in volle Fahrt; wie schon im vorigen Jahr zittert und bebt man an den Börsen und in den Chefetagen der Konzerne, beim Kleinkrämer wie beim Großkaufhaus vor Hoffnung und Angst, ob wohl der Profitkarren aus dem Schlamassel der roten Zahlen in die schwarzen gefahren werden kann. In den Reihenbungalows der Suburbs und den Wohnblocks der Großstädte, den Farmhäusern auf dem flachen Land und den stationären Double-Wide-Wohnwagen der Trailer Parks, den Chalets der Skiorte und den Mansions der Reichen sind zigmillionen Truthahngebeine und Maiskolben abgenagt und Kürbiskuchenstücke verschlungen; glücklich schätze sich, wer nur einen schalen Geschmack im Mund hat und nicht unter Magenzwicken leidet.  Verklungen ist auch inzwischen, nach herzinfarktinduzierenden Aufregungen, wenigstens vorübergehend das Fernsehgetöse der Feiertagsfootballspiele und ihrer Gladiatoren. (Auf Etymologie und Geschichte des Thanksgiving Holiday will ich hier nicht näher eingehen, die lassen sich im Google-Zeitalter leicht nachschaun.)

„Black Friday“: ein schwarzer Freitag, der den Handelsunternehmen möglichst das Gegenteil eines Börsenkrachs liefern soll. Mit Schnäppchenpreisen werden Köder nach der Kundschaft ausgeworfen. Bei Walmart ging das in der Nacht von Donnerstag auf Freitag schon um Mitternacht los, bei anderen Kaufhäusern um fünf oder sechs Uhr am Freitagmorgen, und Internethändler wie Amazon versuchten’s mit dem Flächenbombardement semantischer Anzeigenwirren, wie „Black Friday all week long“. Logik spielt im Kampf um die Konsumenten keine Rolle, es geht allein darum, Kaufwut anzustacheln. 

Für die nächsten vier Wochen kann man sich in den Läden und Einkaufszentren vor O Tannenbaum und Stille Nacht-Gedudele genauso wenig retten wie vor den Kinderschlangen, in denen Eltern mit sorgenzerfurchter Stirn und gequältem Grinsen ihre Kleinen zur Foto-Op bei einem als Santa Claus verkleideten freundlichen Opa (oder, wer weiß, dirty old man) geleiten. In jüngerer Zeit wird die ungeschriebene Regel, sich erst nach Thanksgiving auf den Weihnachtskonsum zu konzentrieren, allerdings immer öfter verletzt; mancher kargende Händler fängt schon, um die Nase im Konkurrenzkampf der Bankrottbedrohten vorn zu haben, gleich nach dem allerseeligen Gruselgegeistere von Halloween mit dem Klimmbimm an. Gleichzeitig riskieren immer früher in der „Feiertagssaison“ ganze Familien ihr Leben auf Leitersprossen, um Sturmböen und Schneegestöber trotzend bunte Lichterketten unter die Regenrinnen zu hängen, bevor man sich auf die selten zufriedenstellend verlaufende Suche nach dem perfekten Weihnachtsbaum begibt. Und wer den Nachbarn zeigen will, was eine Harke ist, pumpt seine Plastikweihnachtsmänner mit ihren rotnasig blinkenden Rentieren bereits am Vorabend des Truthahntags auf, so sie mit ihren prallen kunterbunten Luftschlitten der Tristesse des Herbstes in den kargen Vorgärten ein frühes Paroli bieten.

An diesem Wochenende sitze ich wie üblich behäbig vollgefressen im Wohnzimmer meiner Schwiegereltern. Jahrzehntelang habe ich gute Miene zu den Thanksgiving-Ritualen gemacht, obwohl sie mir wenig bedeuten. Über dreißig Danksagungsfeste haben es nicht geschafft, mich emotional gehörig einzustimmen, mich nationaler Sentimentalität hörig zu machen. Bin und bleibe halt ein Zugewanderter, da hilft mein amerikanischer Paß nix. Allerdings boten mir viele dieser Feiertage Zukunftskapital für meine Irgendwann-Memoiren… wenn ich mich denn im heranschleichenden Alter noch an Einzelheiten erinnern können werde. Naja, es ist nie zu früh, aber irgendwann ist es zu spät, vor allem, wenn man in jugendlichem Übermut zu lange geglaubt hat, die Notizen im Kopf werden’s schon irgendwann bringen – und dann mit leichtem Entsetzen feststellen muß, daß auch gute Zeiten unweigerlich die Einzelheiten vernebeln, daß die Bilder verwaschen.

Na, mal schaun, was von den Erinnerungen noch ziemlich unzerronnen übrig ist. Fangen wir an mit dem Anfang, meinem ersten Thanksgiving vor genau 33 Jahren. 1976, Chemnitz fristete damals noch als Karl-Marx-Stadt ein erbärmliches Schmuddelleben in der deutschen undemokratischen Republik, verbrachte ich das Herbstsemester als von der Bad Godesberger Fulbright-Kommission gesponsorter „Honorary Fellow“ im International Writing Program der University of Iowa, ein gutdotiertes, spaß- und partygeladenes Stipendium im Sinne internationaler Verständigung mit der Minimalpflicht, einen Vortrag über mich selbst zu halten. Jimmy Carter war gerade zum Präsidenten gewählt worden, und ich versuchte jeden Samstagabend mit meinem Schulenglisch mehr oder weniger erfolglos, die Feinheiten der gerade in die zweite Fernsehsaison gekommenen Komödiensendung „Saturday Night Live“ zu kapieren. Als ich hörte, daß in der letzten Novemberwoche wegen dieses komischen „Thanksgiving Holiday“ die Uni so gut wie dicht machte, um den Studenten das Truthahnschlemmen im oft weit entfernten Elternhaus zu ermöglichen, kam mir das zwar komisch vor (so einen Monat vor Weihnachten und zwei Wochen vor den Semesterferien), aber wer hadert schon mit noch so absurden Kalendergepflogenheiten, wenn sie einem die Gelegenheit bieten, sie lustvoll beim Schopf zu fassen. Also schlug ich meiner frischbackenen amerikanischen Freundin Rita vor, ihr New York zu zeigen; unglaublicherweise hatte die Vierundzwanzigjährige, die ein Jahr in Tübingen studiert hatte und mit europäischen Metropolen wie Paris und Rom, Kopenhagen und Amsterdam vertraut war, noch nie das nur weniger als fünfhundert Meilen von ihrer Heimatstadt entfernte Manhattan erlebt. Sie war in ihrem letzten Studienjahr im Iowa Writers Workshop (als erste afroamerikanische Dichterin in der damals vierzigjährigen Geschichte des elitären Ladens) und vom International Writing Program wegen ihrer fließenden Deutschkenntnisse gebeten worden, den Vortrag des deutschen Teilnehmers ins Englische zu übersetzen. Für 250 Dollar hatte ich mir gleich in meiner ersten Woche, Anfang September, einen rostigen Straßenkreuzer-Kombi gekauft, und mit dem kutschierte ich meine hübsche, kluge und sprachgewandte Übersetzerin nach Sodom und Gomorrha.

Ein alter Freund von mir, der Fotograf Jan Michael, mit dem ich Ende der 60er für die Zeitschrift TWEN gearbeitet hatte, lebte seit einiger Zeit im Big Apple, nachdem es ihm gelungen war, sich mit einer großen Bildgeschichte für ESQUIRE im US-Markt zu etablieren; er bot uns an, bei ihm in seinem geräumigen Loft downtown nahe der 5th Avenue zu übernachten; „bring aber ‘ne Luftmatratze mit, ich hab kein Gästebett“, mahnte er mich am Telefon. Ich maß die Ladefläche meines Ford LTD Station, und kurzentschlossen beraubten wir in Ritas Apartment ihre Lagerstatt der Matratze, die genau zwischen die Radmulden paßte. Auf unserem etwa tausend Meilen langen Weg von Iowa City nach New York machten wir bei Ritas Eltern in Ohio Halbzeit, in ebenjenem Haus, in dem ich nun, 33 Jahre später, diese Sätze tippe; daß die Matratze bzw. ihr offensichtlicher Zweck („we’ll sleep on it in New York“) die religiösen Sensibilitäten ihrer frommen Familie verletzen könnte, kam mir nicht in meinen freidenkerischen Sinn, und für Rita bedeutete dieser Stop mit ihrem neuen Freund einen kleinen Akt der Befreiung von Traditionen, die für sie ins Wanken geraten waren. (Ritas Eltern lernten, das muß man ihnen lassen, in den folgenden Jahren unsere weder christlichen noch sonst gerade konventionellen Anschauungen ziemlich rasch tolerieren; aber das ist eine andere Story.)

Ich zeigte Rita „mein“ New York (immerhin war ich schon zweimal dort gewesen und hatte mir beim erstenmal ganz alleine Manhattan kreuz und quer erwandert).  Am Thanksgiving-Morgen, als wir mit Jan Michael und seiner Freundin, einem schlanken Möchtegernmodel aus New Jersey, beim Frühstück saßen, wunderten sich Jan und ich ziemlich lauthals über den geschichtlich gesehen reichlich dubiosen Sinn des Danksagungsfestes, wobei wir in deutscher Überheblichkeit einander befeuerten. Da schlossen die beiden Mädels in überraschender Solidarität eine patriotische Wagenburg, bei der klar wurde: Von uns teutonischen Hergelaufenen ließen sie sich nicht an die amerikanische Karre fahren, darin waren sie sich trotz aller Unterschiede einig. Später gingen wir bei klirrend kaltem Wetter und unter strahlend blauem Himmel zur Macy’s Parade, bei der das KaDeWe New Yorks prächtige Festwagen mit Weihnachtsmotiven, Fesselballons populärer Figuren und winkenden Stars aus Politik und Entertainment durch die von Millionen gesäumten Midtown-Straßen fahren läßt – ein dreistündiges, landesweit in die truthahnbrutzelnden Haushalte übertragenes Spektakel; damit, daß mich als alten kölschen Rosenmontagshasen dieser Trubel nur bedingt beeindruckte, hielt ich jedoch wohlweislich hinterm Berg: Lesson learned – Nestbeschmutzung wird hier eher von innen toleriert denn von besserwisserischen Außenseitern, und vor der Haustür kehren die Amis auch am liebsten selber (und meist gründlicher, wie mich inzwischen die Erfahrung gelehrt hat).

„OK,“ unterbricht Rita meine Reminiszenzen, als sie aus dem Zimmer ihrer kranken Mutter kommt, „es ist Zeit, nachhause zu fahren. Sieben Stunden, da kommen wir eh erst lange nach Mitternacht heim.“

„Erinnerst du dich an unser erstes Thanksgiving?“ frage ich.

„Ja, natürlich; meinst du, wie wir uns mit Will McBride im Chelsea Hotel trafen? Das war ziemlich verrückt.“ Sie fängt an, Leonard Cohen zu singen: „ I remember her well / in the Chelsea Hotel…“ Sie schaut mir über die Schulter auf den Laptop. „Dreiunddreißig Jahre, mannomann – können wir so alt sein? Damals war Janis Joplin schon ein paar Jährchen tot…“

„Über sechs“, sage ich, der es immer genau wissen will, und denke an Andy Warhols “Chelsea Girls”, das ich so um die Achtundsechziger Zeit in der Kölner Hahnentorburg sah. „Aber es geht mir hier nicht um Janis Joplin und ihre Affäre mit Cohen im Chelsea, auch nicht um Will McBride – es geht mir um meine Erinnerung an unser erstes Thanksgiving, an mein erstes Thanksgiving in Amerika. Weißt du noch? Am Nachmittag fuhren wir mit Jan und seiner Freundin raus zu ihren Eltern nach New Jersey; da gab’s einen riesigen Truthahn und eine uns vortanzende jüngere Schwester und eine überschminkte Mutter und einen Vater, der Ratgeberbestseller schrieb. Er schenkte uns eines seiner Bücher, über den Umgang von Männern mit Frauen oder so ähnlich. Es kam uns später bei unseren Umzügen irgendwie abhanden.“

„Ja, ja“, ruft Rita, „der Bestsellervater von Jans Freundin. Wie hieß er noch?“

„Keine Ahnung“, sage ich. „Es war ein irres Fest. Das ist so ziemlich alles, woran ich mich erinnere, egal wie ich mir den Kopf zerbreche.“

„Damals hatten wir anderes im Sinn“, sagt Rita und lacht. „Die Matratze…“

Ritas Bruder kommt ins Wohnzimmer, während ich den Laptop einpacke. „Übermorgen ist Cyber Monday“, sagt er. „Amazon hat schon tolle Angebote angekündigt. Ich brauch einen neuen Computermonitor, und die werden immer größer und billiger.“ Cyber Monday – eine Erfindung des Internetzeitalters, der Montag nach Thanksgiving, wenn die Elektronikhändler bei der Schnäppchenjagd nochmal einen drauflegen. Von Flachbildschirmen träumten wir vor 33 Jahren genauso wenig wie die Karl-Marx-Städter vom Fall der Ulbrichtschen Schutzmauer oder Bratwurstverkauf im Land des unbegrenzten US-Imperialismus—da quäkte das Internet gerade mal in den ersten Windeln, und Wolf Biermann streckte Erich Honecker in der Kölner Sporthalle den Arsch ins Gesicht.

Er hoffe auf einen fantastischen Deal, sagt mein Schwager – 28 Zoll für 250 Dollar, passend für seinen neuen Computer mit der Superdupervideokarte. „Das wär mir zu groß“, sagt Rita, ihr ginge das bei dem kurzen Abstand am Schreibtisch übers Gesichtsfeld. „Nichts ist zu groß, wenn’s sich um den Fortschritt handelt“, witzele ich.

„Da war doch noch was mit dem Chelsea Hotel“, sinnt sie, als wir auf dem Turnpike gen Virginia fahren und zum tausendsten Mal Leonard Cohen hören. „Wir saßen mit Jan Michael und Will McBride in der Lobby, aber das war nicht auf Thanksgiving – das muß am Black Friday gewesen sein. Hatte dort nicht gerade wieder jemand Selbstmord begangen?“

Wer weiß... Es ist zu lange her. Andy Warhol, Janis Joplin, Karl-Marx-Stadt—doch Will McBride knipst laut Google weiterhin gelegentlich nackte Haut, Jan Michael fotografiert von Frankreich aus, was ihm so vor die Linse kommt, und im Kapitalismus schmecken selbst Truthähne immer noch am besten. Naja, mal sehn, was uns der Cybermontag bringt.

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