Hannes Stein / 13.06.2007 / 03:45 / 0 / Seite ausdrucken

Brief aus Brooklyn

Das Schoene und das Erhabene. Immanuel Kant, “Kritik der Urteilskraft”, irgendwo ziemlich weit vorne: Von zwei Dingen reden wir, so der Philosoph aus Koenigsberg sinngemaess, wenn wir von Erlebnissen mit der Kunst oder der Natur reden; beide liegen ganz nah nebeneinander und sind doch himmelweit voneinander entfernt. Das Schoene ist das, was im Betrachter Wohlgefallen hervorruft, auch, nein: gerade weil es keinen Zweck erfuellt; das Erhabene ist das, was uns auf Anhieb ueber die Massen gross erscheint. Dabei kannte Kant Manhattan und Brooklyn gar nicht.
Manhattan: das Erhabene. Wolkenkratzerschluchten, wie sie jeder Kinogaenger auf der Welt kennt—aber es ist ja ein Unterschied, ob man diese Schluchten zweidimensional auf der Leinwand beglotzt oder mittendrin ist. Hinzu kommt: die verwirklichte Utopie, die Menschheit. Als ich das erste Mal in New York war, da stellte ich mich drei Stunden lang an den Times Square und habe nur geglotzt. Denn da hastete ja wirklich die MENSCHHEIT an mir vorbei, also das, was es eigentlich noch gar nicht gibt (s. das ehemalige Jugoslawien, den zerfallenden Irak oder gewisse Strassenzuege in Neukoelln). Und ich kapierte, warum viele Linke Amerika so hassen: weil die gute alte anarchosyndikalistische Utopie hier—und zwar mehr recht als schlecht!—funktioniert.
Brooklyn ist nicht erhaben. Brooklyn ist schoen. Na ja, nicht ganz Brooklyn, aber Park Slope. Der herrliche, idyllische Prospekt Park, eine atmosphaere wie ewig Ferien; und die edel-schlichten Brownstone-Haeuser mit ihren hochherrschaftlichen Treppenaufgaengen; das gemaechliche Menschengewusel entlang den Cafes und Buchlaeden. Und die amerikanische Alltagsnettigkeit: “Ich hasse es, dass ich dir das antun muss”, sagt der Mann in dem Cafe zu mir, nachdem ich einen Latte mit Ahornsirup bestellt habe, “aber Ahornsirup ist uns grade eben ausgegangen. Darf ich dir vielleicht einen Vanille-Latte andrehen?” (Klar darf er.)
Zeimal in meinem Leben habe ich mich halsueberkopf in Staedte verliebt. Das erste Mal war mit 14 Jahren; mein Herz flog auf Hamburg. Mir gefiel alles gleich: der Hafen im Abendlicht, die frische Luft von der Nordsee her, der norddeutsche Slang. Die zweite Liebe auf den ersten Blick—mit Anfang 30—war Jerusalem. Jeruschalajim, ohne Worte. Der goldgelbe Stein, der das Licht speichert. Der Kardamomgeruch in der Altstadt. Die Schabbatsirene am Freitagnachmittag, ja sogar die!
Jetzt bin ich (mit 42, Gott steh mir bei) zum dritten Mal im Leben ernsthaft gefaehrdet; und dass es bei mir wiedermal so weit ist, merkte ich, als ich in den Schaufenstern der Grundstuecksmakler—ganz unauffaellig, versteht sich—nach Mietpreisen linste; als ich aber sah, dass es so bei 1,500 Dollar im Monat losgeht, zuckte ich nicht zusammen und fing innerlich nicht an zu fluchen, sondern ich dachte nur: Geht eigentlich.

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