Fundstück / 02.12.2010 / 23:41 / 0 / Seite ausdrucken

„Die Zukunft war früher auch viel besser“

Jeder von ihnen darf getrost schon für sich allein in Anspruch nehmen, ein Schwergewicht des deutschen Journalismus zu sein – doch wenn alle vier gemeinsam in Aktion – oder gar auf die Bühne – treten, bleibt kein Stein auf dem anderen: Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe und Dirk Maxeiner haben für den Random-House-Verlag Knaus ein Buch mit dem vielsagenden, jedoch von den Autoren selbst genüsslich ad absurdum geführten Titel „Früher war alles besser“ geschrieben. Und drei von ihnen waren am Dienstagabend zu Gast im Brüsseler Bertelsmann-Verbindungsbüro. Dort, an der Chaussée d’Etterbeek im Herzen des europäischen Regierungsviertels, lasen sie aus ihrem jüngsten Gemeinschaftswerk, einem laut Untertitel „rücksichtslosen Rückblick“. Oder, um es mit den Worten von Michael Miersch zu sagen: „dem ersten Versuch, Altersstarrsinn in Literatur zu verwandeln“. Es waren tiefe Selbstreflexionen wie diese und scharfzüngige Kommentare voller Spontaneität auf der liebevoll im Stil der ausgehenden 60er Jahre gestalteten Bühne, die den Abend zu weit mehr als einer Lesung machten, weil die Akteure sich beileibe nicht auf das Lesen beschränkten. 

Er selbst sei ähnlich alt wie die meisten Vertreter dieses literarischen Quartetts, und er teile von daher viele ihrer Erfahrungen und Erinnerungen an längst vergessene, aber umso unauslöschlicher eingebrannte Dinge wie die „gute Butter“, den „Toast Hawaii“ oder den „falschen Hasen“, begrüßte Elmar Brok, Senior Vice President Media Development der Bertelsmann AG, die drei in Ehren ergrauten Journalisten – Josef Joffe als Vierter im Bunde war leider verhindert – und seine rund 70 Gäste im Brüsseler Bertelsmann-Büro. Unter ihnen waren einige Mitglieder des Europäischen Parlaments und mehrere Kabinettsmitglieder der Europäischen Kommission sowie Kollegen aus anderen Brüsseler Vertretungen. Menschen also, die den Rollentausch sicherlich einmal genossen haben, dass sie den Journalisten zuhören und ihnen dann auch noch beim anschließenden Empfang ein paar Fragen stellen konnten.

Fragen zu einem Buch, in dem die vier Autoren mal liebevoll-ironisch, mal böse-polemisch einen der Sätze entlarven, den wohl jeder unter 40 mindestens einmal gehört – und jeder über 40 mindestens einmal ausgesprochen hat: „Früher war alles besser.“ In kurzen Beiträgen von A bis Z blicken die Journalisten zurück auf all das, was vermeintlich besser war, und kommen gleich zu Beginn zu dem Schluss, dass wohl vor allem eines wirklich besser war: „Man war jünger.“ Und so waren es auch sentimentale Anflüge wie die Erinnerungen an die erste Liebe, die erste Reise oder die erste eigene Wohnung, die die Vier zu diesem Buch animiert haben, erklärte Michael Miersch, der am Dienstag auf der kleinen Bühne die Moderatorenrolle übernahm. Es ist eine Sammlung persönlicher Erinnerungen an „alte Zeiten“ geworden, ein, so heißt es im Buch, ein „Lexikon der eigenen Vergangenheit“. Die Methode der vier Autoren umriss Miersch einfach und klar mit den Worten „Subjektivität plus Lustprinzip“.

Für die Vorleser in Brüssel, für Henryk M. Broder, Jahrgang 1946, sowie die 1953 beziehungsweise 1956 geborenen Dirk Maxeiner und Michael Mierisch nimmt die bewusst erlebte Vergangenheit – und damit der Rückblick im Buch – mit den 60er Jahren ihren Lauf. Und so beginnt ihr Gemeinschaftswerk, wie sollte es anders sein, mit „A“ wie Adenauer, den sie glatt zum „coolsten Politiker der Nachkriegszeit“ erheben, wohl wissend, dass der erste Bundeskanzler selbst mit dem Begriff „cool“ nur wenig hätte anfangen können. Über das längst verschollene Phänomen des Per-Anhalter-Fahrens, später als Trampen noch eine Zeit am Leben erhalten, geht ihr Lexikon weiter über den autofreien Sonntag und den als „Ente“ berühmt gewordenen Citroen 2 CV, über DDR und D-Mark, über FKK und Fondue bis hin zu Käse-Igel, Muckefuck, Tanzstunden, Vorwärtsverteidigung, Wählscheibentelefonen und Winnetou. Es sei, so die Autoren einleitend, „eine kleine Kultur- und Sozialgeschichte Deutschlands“ geworden.

Am Ende dieser herrlich willkürlichen Sammlung, in der sich dennoch so viele Leser wiederfinden oder gar -erkennen werden, kommen Broder, Miersch, Joffe und Maxeiner zu dem Schluss: Vieles war nicht nur nicht besser, es war vielmehr deutlich schlechter. So fragen sie eher rhetorisch: „Wir sind die erste Generation, die Frieden, Freiheit und Wohlstand als Dauerzustand kennengelernt hat. (…) Wer möchte ernsthaft mit den Lebensumständen seiner Großeltern tauschen oder gar mit deren Großeltern?“ Dann zitieren die Journalisten wie zum schlagenden Beweis den amerikanischen Schriftsteller P. J. O’Rourke, nach dessen Überzeugung es nur eines Wortes bedürfe, um die Mär von der guten alten Zeit zu widerlegen: Zahnheilkunde. Und am Ende einigen sich die Vier, die beteuern, sie seien nicht gleich, sondern hätten nur manches gemein, mit Karl Valentin darauf, dass „die Zukunft früher auch viel besser“ war.

Solch ein Buch zu lesen und darüber zu schmunzeln, ist das eine. Es zu hören, wenn die Autoren selbst daraus lesen, und dann auch immer wieder ertappt, befreit oder entlarvt laut zu lachen, das andere. In diesen Genuss kamen die Gäste in Brüssel. Pointiert und im wahrsten Sinne des Wortes abwechslungsreich trugen im Wechsel Miersch, Broder und Maxeiner aus ihrem Werk vor. Was nur noch getoppt werden konnte durch den spontanen Dialog zwischen den Dreien mit dem Publikum. Das hatten die Journalisten immer im Blick und passten ihren Vortrag entsprechend an. Schreibt Henryk M. Broder beispielsweise im Buch unter dem unsäglichen Titel „Ehehygiene“, dass der Aufklärungsfilm „Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens“ aus dem Jahr 1967 in etwa so stimulierend wie eine „Heidi“-Geschichte gewesen sei, so verglich er den Film in der Lesung kurzerhand mit der Wirkung einer Sitzung des Europäischen Parlaments. Und als sein Kollege Miersch über die Ränder der Lesebrille hinweg im Buch nach dem Kapitel „Schwerarbeit“ suchte, legte Broder trocken nach: „Ist in Brüssel abgeschafft.“ (mh)
http://benet.bertelsmann.de/benet/run/

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Fundstück / 24.11.2015 / 11:26 / 0

Die Finanzen des Bösen

Die Terrororganisation “Islamischer Staat” ist bei weitem die reichste der Welt. Die Terroristen verfügen nicht nur über Tausende von Kämpfern und Attentätern, sondern können es…/ mehr

Fundstück / 12.10.2015 / 12:16 / 0

Hurra, wir explodieren!

Zwei Wochen nach seinem Erscheinen steht Broders deutsches Tagebuch “Das ist ja irre” auf Platz 10 der SPIEGEL Paperback-Bestenliste und auf Platz 6 der Amazon-Bestseller…/ mehr

Fundstück / 22.09.2015 / 14:37 / 2

Wenn der Wahnsinn epidemisch wird…

Henryk M. Broder stellt sein “deutsches Tagebuch” vor; am kommenden Donnerstag, 24. September, im Salon der Karl-Marx-Buchhandlung in der Karl-Marx-Allee. Es heisst “Das ist ja…/ mehr

Fundstück / 30.01.2014 / 20:22 / 1

Broder, Wolffsohn, Joffe - Wir sind alle Liberale!

Henryk M. Broder – so heißt der Autor der Freiheit im Monat November. Sein Beitrag Gegen Spionage wirkt nur die totale Transparenz erhielt 49 Prozent…/ mehr

Fundstück / 09.12.2013 / 13:58 / 8

Broder bei Plasberg

Heute abend, 21:00, Hart aber Fair. Unter den Gästen Henryk M. Broder, Bascha Mika, Wilfried Scharnagl, Karl Lauterbach und Christian Lindner. Mehr hier. / mehr

Fundstück / 01.10.2013 / 12:32 / 0

Basler Leckerli, Zürcher Geschnetzeltes, Luxembugerli und Kägifret für alle!

Bei der großen Europa-Road-Show in der Schweiz! http://etwasanderekritik.wordpress.com/2013/09/30/henryk-m-broder-in-basel-und-zurich/ / mehr

Fundstück / 11.04.2012 / 22:00 / 0

Die Party-Frage

Während deutsche Salafisten, die, wie SPON schreibt, “einen rückwärtsgewandten Islam” vertreten, Tausende von Koran-Exemplaren in Fussgängerzonen verteilen, um die lieben Nachbarn zum einzig wahren Glauben…/ mehr

Fundstück / 27.01.2011 / 11:34 / 0

Die Safari geht weiter!

Genauer: Sie wird wiederholt. Im Hessischen Rundfunk jeden Dienstag um 22.45. Und auf 3sat vom 7. Februar an immer montags um 21 Uhr. Das heisst,…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com