Von Peter Levin.
Spaltung zu beklagen, adelt keineswegs. Die Klage über Spaltung ist allzu oft das gewinnbringende Spiel mit den Vorzügen derselben.
Spaltungen in Politik und Gesellschaft werden vorschnell beklagt. Es gibt keinen Grund, diese zu verdammen, ohne Nutzen und Nachteil abzuwägen. Spaltungen auszuhalten, gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften unserer Kulturentwicklung. Sie voreilig für überwindbar zu erklären, ist ideologieverdächtig. Ohne die Fähigkeit, ambivalente Gefühlslagen auszuhalten, wäre der gesellschaftliche Umgang ein Hauen und Stechen.
Das politische Leben der Republik entsteht erst in der Spaltung. Jene, die Spaltung überwinden wollen, beenden meist die Republik durch apolitische Spaltungsüberwindungsmanöver. Die Überwindungsversuche sind eine chronische Krankheit, die jeder gesunden Republik zusteht. In Deutschland nimmt diese Erkrankung gerade einen gefährlich akuten Verlauf. Die Symptome der Akutphase sind immer die gleichen: dem schönen Schein das Wort reden und gleichzeitig die darunter lauernde Katastrophenlust anstacheln.
Ganz selbstverständlich gehen wir mit den Vorzügen der Spaltung um. War eine Beziehung gnadenlos, sind Scheidungsgerichte und digitale Schnitttechniken (Photoshop) eine entscheidende zivilisatorische Errungenschaft. Die Spaltung wird symbolisch vollziehbar, und die Lust, den Anderen zu zerstören, ist damit gebannt. Der Andere darf nach der Trennung weiterleben und bekommt eine neue Chance. Ein klarer Schnitt kann Leben erhalten – Notärzte und Geburtshelfer erlernen Schnitte, die das Leben retten können.
Wer die intensive Spaltung der amerikanischen Gesellschaft erlebt hat, kann diese beklagen und auch daran verzweifeln. Hier gibt es nichts zu beschönigen. Sie ist so offensichtlich, dass kaum jemand versucht, sie abzustreiten. Dabei wird oft vergessen, dass gerade diese Spaltung unglaubliche persönliche und politische Vermittlungsanstrengungen hervorgebracht hat. Wer kann sich hierzulande die Geste des Generals Ulysses Grant vorstellen, der noch am Tag der Kapitulation der Armee der Südstaaten im Bürgerkrieg sagte, dass die gefangengenommenen Soldaten, die gestern noch Feinde waren, heute Landsleute sind und Sieges- und Triumphgeschrei unangemessen ist.
Wer von unseren Politikern und Soldaten der medialen Kriegsschauplätze traut sich, so zu sprechen, und wie lange würde es dauern, bis die öffentliche Karriere dieser Mutigen beendet wäre? Aufgrund dieser mutigen Vermittlungsarbeit wurde Ulysses Grant zum 18. Präsidenten der USA gewählt.
Vor Kurzem hat die einstimmige Entscheidung (9 zu 0) des Obersten Gerichts die undemokratischen Versuche, die Kandidatur eines unliebsamen Politikers zu verhindern, für illegal erklärt. Offenbar gibt es über alle Gräben hinweg eine gemeinsame Basis, wie in einer Republik mit Widersprüchen umgegangen werden kann. Wie verlogen die aktuelle politische Okkupation dieses Themas ist, würde offensichtlich, wenn einer der staatlichen Erinnerungsakteure die permanente Beschwörung der Spaltung mit dem Vorwurf der „Zersetzung“ in der nationalsozialistischen Propaganda vergleichen könnte. Dieser Vorwurf richtete sich gegen die politischen Gegner, aber auch gegen Juden. Juden galten per se als spaltend.
Spaltung zu beklagen, adelt keineswegs. Die Klage über Spaltung ist allzu oft das gewinnbringende Spiel mit den Vorzügen derselben. Jene, die den hierzulande grassierenden Scheintod des Sozialen und des Sozialstaates besser ertragen als die schmerzliche Polarisierung in den USA, sind weder einfühlsamere Menschen noch bessere Politiker. Es scheint eher eine Gemütsfrage als eine politische zu sein. Die einen wollen lieber lebendig und aufregend leben, als lebendig begraben sein; und wenn es das Schicksal so will, sind sie bereit, verfrüht und möglichst in Würde zu sterben. Die anderen mögen es, sich in Sicherheit zu wissen und lieber den Ball flachzuhalten. Solche Gemütsunterschiede kann weder Politik noch Therapie mir nichts, dir nichts ändern.
Gegen das „Dämonische“
Bei der Klage über Spaltung spielt der politische und apolitische Charakter einer Generation oder Nation eine bedeutsame Rolle. Daher haben die großen Geister unserer Nation auch die klarsten und hellsichtigsten Kommentare zu dieser Klage verfasst. Kaum eine literarische Verarbeitung der lauernden Katastrophenlust geht derart unter die Haut wie die „Die Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang von Goethe. Die tiefgreifendsten Versuche, zumindest das Geistige vor den schizoiden Fluten der nationalistischen und sozialistischen Katastrophe zu bewahren, verdanken wir dem Theologen Paul Tillich und dem Anthroposophen Rudolf Steiner.
Beide haben versucht, die Spaltung des Geistes gegen die spaltungs-überwindenden Kräfte ihrer Zeit zu bewahren, vor allem gegen die Diktatur des Blutes im Nationalsozialismus und die Diktatur der Mehrheit im Bolschewismus. Beide haben versucht, die menschliche Gespalten- und Zerrissenheit in der „Entscheidung“ und „Tat“ dem Sog ihrer ideologischen Überwindung in den politischen Bewegungen ihrer Zeit zu entziehen. Steiner hat der ideologischen Diktatur der Einheit die „soziale Dreigliederung“ entgegengehalten. Tillich hat sich sowohl in seinem Aufsatz von 1926 gegen die Spaltung des „Dämonischen“ als auch gegen die Dämonisierung der Bündnisse zwischen sozialistischen und bürgerlich-konservativen Kräften jenseits aller Parteizugehörigkeit gestellt. Noch 1932 veröffentlichte er sein Buch über „die Sozialistische Entscheidung“, um die Katastrophe mit einem solchen Bündnis abzuwenden. 1933 musste er sofort das Land verlassen.
Was hilft? Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit!
Bündnis ist wie Ambivalenz ein Begriff, der Spaltung voraussetzt und die Überwindung dieser nur bei Wahrung der Widersprüche gelten lässt. Die aktuellsten und hellsichtigsten Analysen der Katastrophenlust landen daher immer auch bei der Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit. Sowohl die Kinderanalytikerin Melanie Klein als auch der größte Analytiker der Katastrophenfaszination unserer Zeit, der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, haben auf Bündnis- und Ambivalenzfähigkeit gesetzt. Daher konnten sie Nutzen und Nachteil der Spaltung realistisch abwägen.
Beide haben die Kosten der katastrophischen Überwindung der Spaltung für die menschliche Psyche (Klein) und die menschliche Gattung (Heinrich) mutig benannt. Die katastrophische Überwindung führt in die Regression und endet in psychotischen Zuständen größter Panik. In dieser Dynamik können Katastrophen als Erlösung aus Zerrissenheit und Spaltung sowohl propagiert als auch in Vernichtungsfeldzügen realisiert werden. Beide Lösungen sind typisch menschlich; nur die Neigung zur romantischen Katastrophensehnsucht ist in unserem Land besonders stark ausgeprägt. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der Unfähigkeit zum Politischen und der mangelnden Bereitschaft, die Widerständigkeit der Realität gegenüber Illusion und Phantasie anzuerkennen.
Die ständige Mobilisierung der Katastrophenlust kann durchaus in die Katastrophe kippen. Kürzlich hat der Publizist Boris Blaha die Ähnlichkeiten der gegenwärtigen Situation mit den Massenmobilsierungen vor dem Ersten Weltkrieg und dem Versuch des Kaiserreichs, die Sozialdemokratie zu zerstören, herausgearbeitet. Wenn heute die untergehende Sozialdemokratie im Modus der Selbstzerstörung sich mit Methoden am Leben erhalten will, die sie damals mit in den Abgrund gerissen hat, zeigt dies den apolitischen Charakter und ahistorischen Wiederholungszwang deutscher Politik. Die Diskrepanz zwischen dem lauten Geschrei über die kleinen Spalter und dem beredten Schweigen über die große Spaltung könnte größer nicht sein. Sie ruft nach Entladung.
Von den Müttern und der Religion lernen
Tatsächlich können wir in den Religionen eine historische Tatsache klarstellen: Die Spaltung entsteht nicht durch neue Ideen an der Peripherie, sondern im Zentrum selbst. Es ist der Fundamentalismus des Glaubensbekenntnisses, der zur Glaubenswut der Eiferer im Zentrum der religiösen Macht führt. Das Bekenntnis und der Glaube selbst (das Credo) sind gespickt mit Widersprüchen, die die Gläubigen zu zerreißen drohen. Die Aggressivität des fundamentalistischen Sektierertums ist eine Reaktion auf die Zerrissenheit des Zentrums. Die christliche Vorstellung der Drei-Einigkeit Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist ist der Versuch, diese Zerrissenheit als Dreiecksbeziehung oder Familienkonstellation zu balancieren. Die Trinität, als die Trennung der einen Gottheit in drei, ist Christen so wichtig wie jedem ernsthaften Demokraten die Trennung der drei Gewalten in der Republik. Vermittlungen und Balancierung sind möglich und realistisch. Die Religionen sind ein Reservoir der gelingenden und misslingenden Vermittlungs- und Balancierungsversuche.
Der Vorwurf der Spaltung geht hier ins Leere, denn diese bilden lediglich die Wirklichkeit nach. Diese ist vielschichtig, geprägt von Widersprüchen und Spannungen. Die zu ertragen, ist die Aufgabe der religiösen Praxis. Sie zu vermitteln, wäre die Aufgabe des politischen Prozesses, der heute leichtfertig verweigert wird. Die selbsternannten Überwinder der Spaltung zementieren diese und dämonisieren eine Seite. Spaltung ist ein medialer Begriff, also ein Begriff, der den Prozess der Vermittlung (Mediation) unterstellt. Diesen zu verweigern, führt – spirituell und politisch – zum Desaster. So wird die Trennung der drei Gewalten durch deren Harmonie in der Gewaltenteilung ersetzt. Das Entstehen der „vierten Gewalt“ ist heute zum Inbegriff der Katastrophenlust und Verwässerung der Gewaltentrennung geworden. Mit der „Geistlosigkeit der Universitäten“ haben sich auch die letzten Refugien der Vermittlung selbst aufgelöst. Seither könnte uns allen klar sein, dass die eigentliche menschliche und politische Aufgabe darin besteht, die Spaltung im Zentrum zu bewahren.
Die einfachste Art, die Spaltung politisch zu kapitalisieren, besteht darin, ständig von ihr zu reden und diese selbst gleichzeitig zu leugnen. Dieser „Trick“ ist so alt wie die Spaltung selbst. Wie die Kinderanalytikerin Melanie Klein beobachtet hat, können Babys am Anfang die „gute Brust“ der stillenden Mutter nicht mit der „bösen Brust“ der abstillenden oder abwesenden Mutter in einer Person vereinen. Sie „verleugnen“ die Realität, indem sie die Brust zwei verschiedenen Personen zuschreiben. Mit Glück und einer „good enough mother“ (ausreichend-guten Mutter) schafft das Kind diese erste große Leistung der Ambivalenz-Fähigkeit. Die Wortschöpfung „good enough mother“ stammt von einem der berühmtesten Schüler Melanie Kleins, von Donald Winnicott. Sie ist eine schmerzliche Absage an die Forderungen nach perfekter Mutterschaft in einer Generation, der die Erfüllung ihrer grenzenlosen Bedürfnisse und Gerechtigkeitsforderungen versprochen wurde.
Zwanghafte Aufhebung der Spaltung
Auch für den Zwang, die Spaltung aufzuheben, gibt es eine ebenso schöne wie einleuchtende Erklärung in der Religionsgeschichte, die Rede des Aristophanes beim Symposium des Sokrates über die Liebe. In dieser Rede wird der Ursprung der Liebe aus der Zerschneidung der Kugelwesen abgeleitet. Melanie Klein und Aristophanes waren sich einig: Liebe entsteht durch Spaltung. In seiner berühmten Rede erzählt Aristophanes aus der Frühzeit der Gattung, als wir Menschen noch Kugelwesen mit zwei Gesichtern und zwei Geschlechtsteilen waren. Die Kugelwesen waren aufmüpfig und ihre Hybris so groß, dass sie auf die Idee kamen, das Reich der Götter mit weltlicher Gewalt erobern zu können.
Die Antwort der Götter war chirurgisch und nachtragend. Die Kugelmenschen wurden in der Mitte zerschnitten, die Köpfe um 180 Grad nach hinten gedreht. Der Blick sollte immer auf die Schnittfläche gerichtet sein. Die Kugelwesen wurden zwanghaft und depressiv, hatten nur noch eines im Sinn: die Vereinigung mit ihrer anderen (besseren?) Hälfte. Da Geschlecht und Gesicht in gegensätzliche Richtungen zeigten, war dies praktisch unmöglich. Da erwiesen sich die Götter als gnädig und drehten das Gesicht wieder auf die Vorderseite. Die ursprüngliche Einheit war mythologisch; ihre Wiederherstellung praktisch und haptisch – die liebevolle Umarmung und sexuelle Wiedervereinigung.
War die ursprüngliche Einheit in sich gespalten, ist die Wiederherstellung nur noch damit befasst, ihre Spaltung zu überwinden. Die Arbeit der Heilung der Schnitte ist bei Aristophanes weder chirurgisch noch psycho-politisch. Das ist der Realismus des Aristophanes und der Religionen, der allen drei Berufsgruppen, die sich im Moment als Spaltungs-Überwindungs-Experten anbieten – Politiker, Wissenschaftler, Traumatherapeuten – eine klare Absage erteilt. Von Aristophanes können wir lernen: Menschen ohne Spaltung gibt es nicht; wer sich in eine Welt ohne Spaltung imaginiert, landet in einer Welt ohne Liebe.
Gefährliche Überwindung der Spaltung
Liebe ist ebenso apolitisch wie die heutigen Visionen einer über allem stehenden, ausgleichenden Gerechtigkeit. Diese Visionen verhindern die politische Lösung der brisanten Menschheitsfragen, indem sie Spaltung als Problem propagieren und zugleich die Rezepte ihrer Heilung mitliefern. Diese sind lieblos und apolitisch. Außer chirurgisch-therapeutischen und sozial-technologischen Eingriffen gibt es keine Angebote, die Effekte der Spaltung erträglich zu gestalten. Angesichts dieser Phantasie und Planlosigkeit wird ein Paradoxon immer deutlicher: Ausgerechnet jene, die sich sonst als progressiv und als Kämpfer für die gerechte Einheit geben, zeigen sich zunehmend konservativ.
Sie setzen darauf, die Überwindung der Spaltung in die Hände des beständigen Staates zu legen. Sie glauben, dass dieser über allen Einzelvorstellungen von Gerechtigkeit steht und einheitsstiftend wirkt. Schon Sigmund Freud hatte die Aristophanes-Geschichte zur Verdeutlichung seiner Idee der konservativen Natur der Triebe herangezogen. Klaus Heinrich hat mit Freuds Formulierung auf Platons politische Umdeutung der Erzählung in die „konservative Natur des Staates“ hingewiesen.
Diese Umdeutung plagt uns heute mehr denn je. Wir spüren die direkte Linie von Platons weißen Lügen zur Rechtfertigung wohlfahrtsstaatlicher Propaganda und der Vormachtstellung selbsternannter Deutungseliten. Wer die konservative Natur des Staates anzweifelt, wird heute beschuldigt, den Untergang der Republik zu planen. Die Klage über Spaltung ist zur Waffe der spaltungsüberwindenden Klasse geworden. Die Gesten und Gesetze des modernen Wohlfahrtstaates spielen in der Krise bewusst mit unseren Spaltungsängsten, obwohl doch immer klarer wird, dass das alternativlose Entweder-Oder nicht das letzte Wort sein wird. Einheit oder Spaltung, Vereinigung oder Zersetzung, Liebe oder Liebesentzug – das sind medial inszenierte Gegensätze, die immer weniger darüber hinwegtäuschen können, dass sie zur Waffe einer fundamentalistischen Realpolitik geworden sind.
Der Fundamentalismus in Religion und Politik ist der Versuch, die innere Spaltung an der Peripherie abzuarbeiten und die Hitze der inneren Widersprüchlichkeit des Glaubensbekenntnisses im Terror gegen Ungläubige abzukühlen. Sowohl die christliche als auch die politische Botschaft wäre: Spaltung ist das Zentrum der Realität; wir können sie nicht „überwinden“, müssen uns in Ambivalenz üben und Bündnisse schließen; die Liebe zum Nächsten ist etwas völlig anderes als die Liebe zur Republik, beide sind gleich wichtig. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ (Hannah Arendt) und der Sinn von Religion ist die Praxis der Ambivalenz. Beide leben vom Bündnis. Das ist anstrengend und oft auch deprimierend, kann uns aber davon abhalten, die Früchte der überwundenen Spaltung – Selbstüberhöhung und Deutungshoheit – leichtfertig zu genießen.
Spaltung ertragen
Egal wie wir die Lage einschätzen und die Frage hin- und herwenden, am Ende werden die destruktiven Effekte der Spaltung nur überwunden, wenn wir diese ertragen. Die alles entscheidende Frage ist, wie diese ertragende Überwindung möglich und einigermaßen stabil sein wird. Die christliche Antwort ist stabil: Wir blicken auf das Kreuz als Symbol, das Spaltung und ihre Überwindung verkörpert. Immer wieder gelingt es uns auch, das Kreuz selbst zu tragen. Wer das erleben will, muss suchen – nicht in den großen Kirchen oder bei deren Kurie – und wird immer noch fündig.
Die politische Antwort ist dagegen weniger stabil. Unsere nationale Geschichte ist hier ein Abbild der Gattungsgeschichte. Sie betont aber einseitig die romantisch-regressiven Lösungen der Spannungen; und sie setzt allzu oft auf die destruktive Wiederherstellung einer als ursprünglich angenommenen Einheit. In ihrer harmloseren Version finden wir dies in einem ausgedehnten Kontinuum von der sozialstaatlichen Pädagogik bis zur Ökobewegung und Esoterik des New Age.
Notorisch ist sie aber in den Vernichtungskriegen des 20. Jahrhunderts geworden. Das große Abschlachten wurde anfangs immer auch als Entlastung der inneren Spaltung und Rückkehr in einen widerspruchsfreien Urgrund empfunden. Es beunruhigt sehr, dass diese Tradition wieder massiven Zulauf bekommt. Sie ist entschieden a-politisch und militant in der Verfolgung ihrer Ziele; sie verwischt die Grenze zwischen den Anmaßungen einer globalen Menschheitstherapie und den Ansprüchen einer religiösen Heilslehre; ihre Anhänger changieren zwischen universeller Traumatherapie und Terrorismus.
Da sie die Spaltung brauchen, um ihre Aktionen zu rechtfertigen, tragen sie diese wie ein Kreuz vor sich her. Zugleich mokieren sie sich gerne über das reale Kreuz. Manche können sich vielleicht noch an den Versuch der taz in den 1980ern erinnern, sich in einem reißerischen Artikel über das am Kreuz hängende Fleisch lustig zu machen. Die Kinder dieser Zeit und Zeitung zeichnen sich durch ihren religiösen Eifer und ihre Freude an einer destruktiven Entladung der Spaltung aus. Sie flippen aus, wenn wir dem Rat der Großen folgen und ihre „Katastrophen auslachen“. Das werden sie wohl ertragen müssen. Wir ertragen schon lange ihre Katastrophenlust.
Peter Levin hat im Paul-Tillich-Haus am Religionswissenschaftlichen Institut der FU Berlin studiert. Er lehrt und forscht in der ganzheitlichen Medizin und lebt mit seiner Familie in Hamburg.