Olivier Kessler, Gastautor / 02.01.2023 / 14:00 / Foto: Pixabay / 11 / Seite ausdrucken

Wie die Technokratie die liberale Gesellschaft bedroht

Von Olivier Kessler.

Offene Prozesse von Versuch und Irrtum auf freien Märkten sind eine bessere Rezeptur zur Lösung der heutigen Probleme als ein „Folgt der Wissenschaft!“ und eine Diktatur der Gelehrten. Argumente für diese Grundüberzeugung versammeln Olivier Kessler und Peter Huch in ihrem neuen Buch. Ein Auszug.

In unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von (politischer) Entscheidungsfindung und wissenschaftlicher Erkenntnis zu gestalten ist. Die Technokratisierung der Politik wird von vielen Meinungsmachern als unaufhaltsame Entwicklung dargestellt. Es werden mit Verweis auf Aussagen von Forschern und Studien Sachzwänge behauptet, die ein bestimmtes Eingreifen des Staates als „alternativlos“ erscheinen lassen. Besonders augenscheinlich sind diese Tendenzen aktuell im Bereich der Gesundheitspolitik und der Klimapolitik.

Wer die behaupteten Sachzwänge bezweifelt, wird oft als „Wissenschaftsleugner“ abgestempelt und aus der öffentlichen Debatte „gecancelt“. Es sei solchen Kritikern abhandengekommen, etwas anzuerkennen, womit sie nicht verhandeln könnten. Es gelte, das zu akzeptieren, was die Wissenschaft bewiesen habe. Was aus wissenschaftlicher Sicht getan werden müsse, das müsse eben getan werden.

Wer sich gegen diese Notwendigkeit stelle, handle verantwortungslos. Solchen Stimmen dürfe man keinesfalls auch noch eine Plattform bieten. Soziale Medien sind deshalb bestrebt, Beiträge, die „wissenschaftlichen Befunden“ widersprechen, umgehend zu löschen oder sie zumindest mit „Fake News“-Warnhinweisen zu diskreditieren. Und in vielen Massenmedien erscheinen Gegenthesen meist gar nicht erst – vermutlich aus Angst, dem diffusen Vorwurf ausgesetzt zu werden, „Verschwörungstheorien“ zu verbreiten und einen entsprechenden „Shitstorm“ zu ernten.

Das Hinterfragen, Anzweifeln und Erheben von Widerspruch erscheint aus dieser Perspektive, wonach wissenschaftlich angeblich alles Relevante geklärt sei, nur als lästig. Es ist schlichtweg unnötig, weiter über etwas zu diskutieren, worüber bereits Klarheit herrscht. Unnötiger Zweifel steht einer raschen Umsetzung des wissenschaftlich Empfohlenen nur im Weg, womit wertvolle Zeit verloren geht. So wird beispielsweise unter Einforderung eines Klima- oder Gesundheitsnotstands gewarnt, es müsse sofort etwas getan werden, sonst sei es zu spät.

Wissenschaft als quasireligiöse Autorität

Doch wer oder was ist „die Wissenschaft“ überhaupt? Wer entscheidet, welche der vielen Studien nun Gewicht im öffentlichen Diskurs erhalten, welche Fachdisziplinen für eine konkrete Fragestellung als relevant erachtet werden, welche Methode die geeignete ist? Wer wählt die sogenannten „Experten“ aus, die Sachzwänge behaupten und der Politik „wissenschaftliche“ Handlungsanweisungen erteilen? Kann die Wissenschaft überhaupt verbindliche Vorgaben machen, wie die Politik oder der Einzelne auf bestimmte Phänomene reagieren muss? Das sind Fragen, die in der öffentlichen Debatte viel zu wenig diskutiert und beleuchtet werden – was angesichts der weitverbreiteten Expertengläubigkeit gravierenden Folgen zeitigt. (…)

Die Instrumentalisierung der Wissenschaft für politische Zwecke ist eine Gefahr für liberale Gesellschaften. Der Einzelne soll mit Hinweis auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ bis ins Kleinste kontrolliert und verwaltet werden, so als ob die Wissenschaft ein für allemal festlegen könnte, was als sakrosankt zu gelten hat und nicht mehr hinterfragt werden darf. Ein solches Verständnis hat mit der ursprünglichen Bedeutung von Wissenschaft nicht mehr viel zu tun: „Wissenschaft“ wird so zu einer quasireligiösen Autorität erhoben, anstatt sie als eine unkorrumpierbare Methode und einen unbestechlichen Prozess zur Annäherung an die Wahrheit zu sehen. Die
Verfechter eines derartigen Wissenschaftsverständnisses plädieren für den neuen Imperativ „Glaubt der Wissenschaft!“ – ohne die Absurdität ihrer Forderung zu erkennen.

Der Philosoph Karl R. Popper (1902–1994) argumentierte, Wissenschaft setze nicht unhinterfragbare Glaubenssätze, sondern Thesen voraus, die falsifiziert werden könnten. (1) Wissenschaft basiert demnach auf einem Wettbewerb der Ideen und widerstreitenden Theorien, die sich bewähren müssen. Die Forderung, der Einzelne oder die Politik habe sich zwingend bestimmten „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zu unterwerfen und unkritisch zu akzeptieren, ist also weder wissenschaftlich, noch mit dem Pluralismus einer offenen Gesellschaft vereinbar.

Natürlich sollten Meinungen von Experten möglichst vorurteilsfrei angehört werden. Selbstverständlich sollten politische Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse miteinbeziehen. Dabei darf jedoch weder die Vielfalt der wissenschaftlichen Diskurse außer Acht gelassen werden, noch darf man sich hinter vermeintlichen „Sachzwängen“ verstecken.

Eine offene Gesellschaft zu verteidigen, bedeutet, die vielfältigen Ansichten und Bedürfnisse friedlich miteinander in Einklang zu bringen. Voraussetzung dafür ist ein freier Diskurs, nicht eine moralisierende „Cancle Culture“, weil letztere eine Wahrheitshegemonie durchsetzen will und alle Andersdenkenden stigmatisiert und sie als „wissenschaftsfeindlich“ diffamiert, damit man sich nicht mehr mit deren Argumenten auseinanderzusetzen braucht. Dieser Diskurs besteht nicht nur aus den Beiträgen ausgewählter Spezialisten, sondern aus all den Argumenten, Haltungen und Einstellungen, aus denen sich eine öffentliche Meinung über Vermittlungsprozesse unabhängiger Medien bilden kann.

Wie die Technokratie Menschenrechte aushebelt

Ein technokratisches Verständnis der Welt geht davon aus, dass es so etwas wie ein von der Wissenschaft (also den jeweiligen Experten, den Wissendsten) vorgegebenes ideales und alternativloses Handeln gäbe, das die Politik durchsetzen müsse. All jenen, denen der offizielle Expertenstatus fehlt oder denen er abgesprochen wird, weil ihre Thesen sich nicht innerhalb der zulässigen „Mainstream“-Bandbreite bewegen, soll die Kompetenz zum eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Handeln abgesprochen werden. Die Technokratie zielt damit direkt auf die Essenz der Menschenrechte, wie etwa die Meinungs- und Forschungsfreiheit, die Eigentumsgarantie, die Privatsphäre sowie die Wahl- und Vertragsfreiheit.

Sträflich vernachlässigt wird bei der geforderten Unterordnung aller Freiheitsrechte unter die technokratischen Vorgaben vor allem eines: das Menschliche. Wertvoll und maßgeblich ist nicht nur das, was wissenschaftlich messbar ist. Unsere Werte und Ideale speisen sich auch aus anderen Dimensionen als den Naturwissenschaften. Untrennbar mit der Menschenwürde verbunden sind die individuelle Freiheit, die Eigenverantwortung und die mündige Selbstbestimmung.

Technokraten gehen von der irrtümlichen Vorstellung aus, dass Menschenrechte mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse über Bord geworfen werden könnten. So fordern technokratisch angehauchte Wissenschaftler, Politiker und Meinungsmacher unverblümt, Freiheitsrechte auszuhebeln, um Pandemien zu bewältigen, wenn sie Maßnahmen wie Lockdowns, Versammlungs- und Ausgehverbote, soziale Isolation, „Contact Tracing“ sowie Masken-, Test- und Impfzwang fordern. Oder indem sie etwa das individuelle Eigentum mit CO2-Steuern angreifen und die Vertragsfreiheit mit Verboten von Diesel- und Benzinautos und Ölheizungen mit dem Vorwand untergraben, den Klimawandel bekämpfen zu wollen.

Menschenrechte gelten aber nicht nur in Schönwetterperioden, sondern universell zu allen Zeiten – gerade auch in Krisen. Sie gehen der Gesetzgebung, die den Launen von Politikern, Bürokraten und Stimmbürgern unterworfen ist, vor. (2) Menschenrechte gehen auch der Wissenschaft voraus und sind Bedingung für ebendiese. Ohne individuelle Abwehrrechte ist eine freie Forschung gar nicht erst denkbar. Das heißt: Ohne den Schutz von Freiheitsrechten würde die freie Suche nach Wahrheit durch absolutistische Wahrheitsansprüche der herrschenden Klasse ersetzt, die der Logik der Macht folgen. „Wissenschaft“ wäre so nur noch eine inhaltsleere Hülse, die keinen anderen Zweck erfüllen würde, außer Propaganda für die Mächtigen zu betreiben und dieser einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen.

Der Mensch ist keine Maschine

Die durch Erkenntnisse in der Neurowissenschaft angeregte Diskussion, ob der Mensch überhaupt einen freien Willen besitze, kommt vielen Technokraten gerade recht. Es wird behauptet, dass der Mensch gar nicht wirklich wähle, weil die Vorbedingungen seiner Entscheidungen bereits in der Vergangenheit gelegt worden seien, die ihm nicht bewusst seien.

Das mag zwar stimmen, doch aus der Tatsache, dass der Mensch nicht aus dem Nichts („ex nihilo“) heraus wählt, wird fälschlicherweise geschlussfolgert, dass Wahlfreiheit für den Einzelnen gar nicht möglich sei und es deshalb auch keine Freiheitsrechte brauche. Vielmehr könne man die Menschen und die ganze Gesellschaft unter diesen Bedingungen als eine Art Maschine betrachten. Aufgabe der Politik sei es dann, diese Maschine optimal zu programmieren. Wissenschaftlern, Politikern und Bürokraten käme so die Rolle als Gesellschaftsingenieure zu. Wie der Praxeologe Andreas Tiedtke festhält, sind diese Schlussfolgerungen jedoch falsch:

„Dass der menschliche Wille von Vorbedingungen abhängt, die in seiner Geschichte liegen, heißt nicht, dass die Menschen nicht dennoch diesen ihren subjektiven und unterschiedlichen Willen haben. Unterschiedliche Menschen wollen Unterschiedliches und derselbe Mensch will Unterschiedliches zu unterschiedlichen Zeitpunkten.“ (3)

Der Mensch ist keine Maschine und lässt sich folglich auch nicht programmieren und auf gewisse Ziele hin steuern, die ihm von außen vorgegeben werden. Gerade dieses irrige Menschenbild ist dafür verantwortlich, dass staatliches Handeln oft zu unerwarteten Nebeneffekten und ungewollten Konsequenzen führt. Die Menschen versuchen dann eben, ihre Ziele über kreative Umwege zu erreichen. Wird z.B. ein Produkt verboten, so entstehen in der Folge Schwarzmärkte. Werden höhere Steuern für Reiche erlassen, so werden diese mehr Energie in die Steueroptimierung investieren, worauf die Steuereinkommen sogar sinken können (Laffer-Kurve).

Der handelnde Mensch ist zu jeder Zeit Souverän seiner selbst (es sei denn, er wird z.B. niedergeschlagen, sodass er tatsächlich handlungsunfähig wird). Er ist der einzige, der seinen Körper und seine Handlungen unmittelbar kontrolliert. Natürlich kann ein Außenstehender eine Person bedrohen oder sie mit dem Mittel der Gewalt zu einer Handlung zu zwingen versuchen, sodass es wahrscheinlicher erscheinen mag, dass eine Person sich dem Willen eines Anderen unterwirft. Ob sich der Bedrohte oder Misshandelte dadurch aber tatsächlich dem Willen des Drohenden oder Gewalttäters beugt oder ob er die Nachteile in Kauf nimmt, darüber entscheidet nach wie vor er alleine.

Nicht von ungefähr kommt daher der juristische Grundsatz, dass sich niemand dauerhaft einem Willen eines Anderen unterwerfen kann. Es wäre schlichtweg unpraktikabel. Man kann sich zwar entschließen, sich während einer gewissen Zeitdauer dem Willen eines anderen anzuschließen. Doch zu jenem Moment, in dem man sich entscheidet, dass man etwas anderes tun will, so kann man das sofort und unmittelbar. Die Souveränität über das eigene Handeln liegt beim Handelnden und eben nicht bei einer außenstehenden Drittinstanz, die über die Handelnden wie Roboter oder Schachfiguren verfügen und sie auf ein definiertes Ziel hin steuern kann.

Das grundsätzliche Problem mit der Technokratie

Die technokratische Herangehensweise auf alle Probleme lautet: Wir finden die beste Lösung und setzen diese überall durch. Das mag verlockend klingen, doch staatliche Gelder für Technologiesubventionen auszugeben oder die Bürger mit Zwangsmaßnahmen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen, beseitigt das Wissen der Vielen. Staatsinterventionen unterdrücken auch die unterschiedlichen Bewertungen und verschiedenen Herangehensweisen, verunmöglichen die unzähligen Problemlösungsversuche durch Millionen von Menschen, und ersetzen diese dezentralen Prozesse durch die Einschätzung einer kleinen Gruppe von Politikern und Funktionären.

Politische Entscheidungsträger sind nicht notwendigerweise dümmer als die Durchschnittsbevölkerung, aber auch nicht unbedingt gescheiter. Deshalb ist es gefährlich, den enormen Wissensfundus, der dezentral über die Gesamtbevölkerung verstreut ist, zu ignorieren, indem man den Großteil der Menschen vom Gestaltungsprozess abkapselt und anstatt dessen nur auf einige wenige setzt. Diese kleine Gruppe kann notwendigerweise weniger Wissen auf sich vereinen als die Gesamtbevölkerung, die sich über marktwirtschaftliche Prozesse wie den Preismechanismus koordiniert und gegenseitig durch ihr je individuelles Wissen beeinflusst.

Technokraten vernachlässigen in der Regel außerdem sträflich die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Menschen bei auftretenden Problemen. Es wird ignoriert, dass Menschen auf praktisch alle Probleme eine Antwort finden, wenn man sie denn nur machen lässt.

Lebensverbesserende Innovationen in der Geschichte der Menschheit – das hat der Wissenschaftsautor Matt Ridley in seinem Buch How Innovation Works: And Why It Flourishes in Freedom so schön aufgezeigt – sind in der Regel nicht das Ergebnis einzelner brillanter Erfinder, die von Technokraten mit teuren staatlichen Forschungsprogrammen beauftragt worden sind. Vielmehr sind sie das Resultat offener Prozesse von Versuch und Irrtum, an denen unzählige Menschen auf freien Märkten beteiligt sind. Innovationen entstünden, so Ridley, „wenn Ideen Sex miteinander haben.“

Damit das geschehen kann, muss die Gesellschaft offen sein und bleiben. Entscheidend ist eine Umgebung der intellektuellen Freiheit, der Meinungsäußerungsfreiheit, der Forschungsfreiheit, der wirtschaftlichen Freiheit sowie das Vorhandensein vieler dezentraler Finanzierungsquellen zur Realisierung allerlei unternehmerischer Ideen.

Das ist das pure Gegenteil eines großangelegten technokratischen Masterplans, der mit zentralisierten Finanzierungsquellen in den monopolistischen Händen der politischen Kaste und einer Überregulierung bis ins letzte Detail durchgeboxt werden soll. 

Platon vs. Sokrates: Der fortdauernde Kampf

Der ideelle Wettstreit darüber, welchen Stellenwert die Technokratie in einer Gesellschaft einnehmen soll, wurde bereits im antiken Griechenland aufgeworfen. (4) Platon etwa war von der technokratischen Vorstellung der maschinenartigen Steuerbarkeit des Menschen besessen. Durch die nachdrückliche Hervorhebung der Frage „Wer soll herrschen?“ umging Platon die Frage, ob überhaupt jemand herrschen soll oder ob die Herrschenden zumindest durch geeignete „Checks & Balances“ kontrolliert werden sollen.

Platon ging es hauptsächlich um die Personalfrage, also wer über Andere herrschen dürfe. Für ihn war klar: Herrschen sollen die Weisesten, also jene, die im Besitz der umfangreichsten Menge an Wissen sind. Dieses Herrschaftsmodell wird auch Epistokratie genannt (wobei „episteme“ im Griechischen für „Wissen und „kratía“ für „Herrschaft“ steht).

Platons Kontrapart spielte ein anderer großer Athener: Sokrates. Ihm schwebte keine Diktatur der Gelehrten vor. Vielmehr betonte er, wie wenig ein Einzelner doch eigentlich wissen könne. Sokrates hob hervor, dass er selbst die Wahrheit nicht besitze, jedoch auf der Suche nach ihr sei. Karl R. Popper schrieb zur sokratischen Auffassung von Weisheit treffend:

„Das ist der wahrhaft wissenschaftliche Geist. Einige Leute sind noch immer der Ansicht – wie auch schon Platon, nachdem er sich als gelehrter pythagoreischer Weiser etabliert hatte –, dass die agnostische Haltung des Sokrates durch den mangelnden Erfolg der Wissenschaft seiner Zeit erklärt werden müsse. Das zeigt aber nur, dass sie diese Haltung nicht verstehen und dass sie noch immer von der vorsokratischen magischen Einstellung zur Wissenschaft und zum Wissenschaftler besessen sind, den sie für einen erhabenen Schamanen, für einen Weisen, für einen Gelehrten, für einen Eingeweihten halten. Sie beurteilen ihn nach der Menge des Wissens, das sich in seinem Besitz befindet, statt, wie Sokrates, seine Einsicht in sein Nichtwissen zum Maßstab seines wissenschaftlichen Niveaus und seiner intellektuellen Ehrlichkeit zu machen.“ (5)

Während Platon von der Vorstellung beseelt war, dass Weisheit nur einigen wenigen offen stünde, die dann daraus das Recht ableiten könnten, über die Anderen zu regieren, war Sokrates vom Gegenteil überzeugt: Er glaubte, dass jedermann der Belehrung zugänglich sei. Er plädierte folglich für den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Sokrates’ Denken war antiautoritär, während Platon der Vordenker autoritärer, technokratischer Diktaturen schlechthin war. Er sehnte sich die Herrschaft der Allwissenden und Allmächtigen regelrecht herbei. Deshalb kritisierte Platon auch die Wissenschafts-, Bildungs- und Meinungsäußerungsfreiheit im damaligen Athen.

Nur die Erlauchten, die stolzen Besitzer der Wahrheit, sollten nach Platon die Möglichkeit haben, zu lehren, zu politisieren und sich entsprechend zu äußern. Die Menschen sollten auch nicht so erzogen werden, dass sie zur Selbstkritik und zu kritischem Denken befähigt werden. Im Zentrum von Platons Erziehung der Menschheit geht es um ein doktrinäres Aufzwingen einer Lehre, das Formen der Geister und der Seelen, die „durch lange Gewohnheit völlig unfähig werden sollen, irgend etwas unabhängig der Gemeinschaft zu tun“. (6)

Verbreitete Autoritätshörigkeit

Platons antiaufklärerisches Ideal ist heute ohne jeden Zweifel wieder „en vogue“. Kaum etwas könnte diese Haltung besser verdeutlichen als der repetitiv geäußerte Imperativ „Follow the science!“ („Folgt der Wissenschaft!“). So, als habe „die Wissenschaft“ jegliche Wahrheiten letztgültig entdeckt und offengelegt. So, als ob jedes skeptische Hinterfragen tatsächlicher oder vermeintlicher Experten per se unwissenschaftlich wäre.

Am liebsten wäre diesen Neoplatonikern, wenn der Einzelne seine Bedürfnisse bedingungslos hinter die sakrosankten Erkenntnisse der (fälschlicherweise) sogenannten „Wissenschaft“ stellte. Und tut er dies nicht freiwillig, so müsse eben die Politik mit ihren Zwangsinstrumenten nachhelfen. Oder anders gesagt: Man ist gewillt, die Menschenrechte, die offene Gesellschaft und die Freiheit zu opfern – und versucht dieser inquisitorischen Grundhaltung auch noch dreist ein Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit umzuhängen, obwohl sie das Gegenteil davon ist.

Das autoritäre Modell Platons weist dann eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit auf, umgesetzt zu werden, wenn die Autoritätshörigkeit weit verbreitet und die Fähigkeit zum kritischen Denken verkümmert ist. Man könnte meinen, in der „aufgeklärten“ Gesellschaft von heute sei die Einführung einer derart antihumanistischen Gesellschaftsordnung unmöglich geworden. Schließlich hätten wir doch aus den historischen Gräueltaten unserer Vorfahren gelernt. Wer jedoch genau hinsieht, muss ob der weitverbreiteten Bereitschaft erschrecken, sogenannten oder so dargestellten „Experten“ bedingungslos Folge zu leisten – fast schon wie Sektenmitgliedern ihrem Guru.

Es soll hier nicht der falsche Eindruck eines Wissenschafts- und Experten-Bashings entstehen. Die Wissenschaft kann eine Gesellschaft tatsächlich entscheidend voranbringen. Vielmehr stellt sich die Frage, was die Wissenschaft tatsächlich zu leisten imstande ist – und was nicht.

Was kann die Wissenschaft?

Naturwissenschaften wie die Physik, Biologie und die Chemie befassen sich mit konstanten Beziehungen zwischen Elementen. Sie erkennen diese mit hinreichender Genauigkeit in Laborexperimenten, die beliebig wiederhol- und überprüfbar sind.

Die Wissenschaft kann allerdings keine Aussage darüber machen, was jemand oder die Politik nun mit diesen Erkenntnissen tun sollte. Sie ist immer nur deskriptiv, nicht normativ. Sie kann nicht für jemanden festlegen, was dieser jemand wollen muss. Verschiedene Menschen wollen Verschiedenes, haben unterschiedliche Werte und Präferenzen, sich voneinander unterscheidende Bedürfnisse und Ziele, die sich im Laufe der Zeit ändern.

Die Wissenschaft kann also niemals „herausfinden“, „bestätigen“ oder „beweisen“, dass wir alle eine Maske tragen müssen und dass die Politik einen entsprechenden Maskenzwang einführen muss, selbst wenn die Wissenschaft herausfinden würde, dass eine Maske die Übertragung von Krankheiten reduzieren würde. Die Wissenschaft kann auch keine Aussage darüber treffen, dass jemand seinen CO2-Ausstoß reduzieren und etwas gegen die Klimaerwärmung tun muss, selbst wenn bewiesen werden könnte, dass der CO2-Ausstoß einen signifikanten Einfluss auf das Klima hat. Denn ob die betroffene Person das so beschriebene „Problem“ überhaupt als solches wahrnimmt und ob sie es als prioritär genug erachtet, um ihre knappen Mittel zur Bewältigung dieses (und nicht eines anderen) Problems einzusetzen, hängt vom individuellen, subjektiven Werturteil ab und ist nicht eine objektiv unbestreitbare Tatsache.

Entsprechend kann „die Wissenschaft“ auch keine Handlungsempfehlungen zuhanden der Politik abgeben, weil es immer nur subjektive Präferenzen von Einzelpersonen gibt, die in der Werteskala von anderen Menschen nicht den gleichen Stellenwert einnehmen müssen. Ebenso kann sich die Politik auch nicht auf „die Wissenschaft“ stützen, wenn sie vermeintlich „alternativlose“ Gesetze erlässt, die man damit begründet, dass man lediglich dem Rat der Wissenschaft folge. Denn politisches Handeln basiert immer auf der Androhung oder Anwendung von physischer Gewalt, was dazu dient, die Präferenzen von bestimmten Gruppen auf Kosten aller anderen durchzusetzen. Die Wissenschaft kann niemals feststellen, welche Präferenzen richtig und welche falsch sind, weil es sich hier eben um subjektive Werturteile handelt.

Während die einen die Klimaerwärmung um jeden Preis bekämpfen wollen, begrüßen andere, dass es etwas wärmer wird oder wollen dieselben Ressourcen z.B. lieber in die Krebs- oder Malariaforschung investieren. Oder während die einen den Gesundheitsschutz und die Verlängerung der eigenen Lebenszeit über alles stellen, ist anderen der soziale Kontakt mit Anderen (anstelle von „social distancing“) und das Auskosten der vorhandenen Lebenszeit wichtiger. Wie um alles in der Welt soll man hier nun „wissenschaftlich“ feststellen, wer recht hat und wer nicht? Wer behauptet, dass dies möglich sei, ist ein Scharlatan und bewegt sich abseits jeglicher Wissenschaftlichkeit.

Auszug aus dem Buch „Wissenschaft und Politik. Zuverlässige oder unheilige Allianz?“ hrsg. Von Olivier Kessler, Peter Ruch, Edition Liberales Institut 2022, 273 Seiten. Bestellbar hier.

 

Olivier Kessler ist ein Schweizer Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts (www.libinst.ch).

 

Fußnoten:

(1) Wobei dieser Grundsatz nicht auf alle Wissenschaften zutreffen muss, insbesondere nicht auf die a priori Wissenschaften wie die Praxeologie.

(2) Vgl. dazu: Pierre Bessard und Olivier Kessler (2020). 64 Klischees der Politik: Klarsicht ohne rosarote Brille. Zürich: Edition Liberales Institut. S. 33–36.

(3) Andreas Tiedtke (2021). Der Kompass zum lebendigen Leben. München: Finanzbuchverlag. S. 50.

(4) Vgl. zum Folgenden: Karl R. Popper (6. Aufl., 1980, Erstauflage: 1957). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bern: Francke. S. 176 ff.

(5) Karl R. Popper (6. Aufl., 1980, Erstauflage: 1957). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Bern: Francke. S. 180.

(6) Zit. in: Karl R. Popper (6. Aufl., 1980, Erstauflage: 1957). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Bern: Francke. S. 184.

Foto: Pixabay

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Karl-Heinz Boehnke / 02.01.2023

Die Politiker scheren sich doch gar nicht mehr um Wissenschaft, denn sie sind längst schon ausschließlich bei der Lüge, die nur noch von ihnen korrumpierte Forscher als Realität bestätigen. Viele wahre Worte, aber am brennenden Thema vorbei: Mit naturwissenschaftlichem Unsinn den Bürger zu verführen, ist strafbarer Hochverrat.

Talman Rahmenschneider / 02.01.2023

@ Thomas Szabó: Schöner Satz: “Die Wissenschaftler sollen kein Konzil bilden, welches Dogmen über die unbefleckte Empfängnis der mRNA-Impfstoffe erlässt.” Unser heutiges System scheint schlimmer als die RKK der Inquisition: “1624 reiste Galilei nach Rom und wurde sechs Mal von Papst Urban VIII. empfangen, der ihn ermutigte, über das kopernikanische System zu publizieren, solange er dieses als Hypothese behandle.” Heute darf man doch nicht mal mehr Hypothesen äußern, ohne als Ketzer zu gelten.

RMPetersen / 02.01.2023

Platon, Sokrates ... Goethe Lessing Hegel Marx Popper ... alles vorbei. Die europäische Gesellschaft hat ihre demokratische Phase bereits hinter sich. Wie in allen Hochkulturen folgt nach der Ausdifferenzierung innerhalb des Volkes die Vermassung, voran getrieben durch die Überflutung durch “Barbaren”. Man schaue auf das Römische Reich: Es konnte nur noch von Cäsaren mit Gewalt sowie “Brot und Spiele” regiert werden, es gab keine Beteiligung des Volkes mehr, weil es kein homogenes Volk mehr gab. Im Kaiserreich gab es keine Ideen ud keine Gemeinsamkeiten mehr, sondern nur noch puren Machterhalt. Man kann froh sein, daß sich der unvermeidliche Faschismus nicht im Nazismus und/oder im Kommunismus ausdruckt, sondern “nur” in einer Oligarchen-Herrschaft. Das ist unsere Situation, und das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurück drehen. Spengler hat das vor 100 Jahren gesehen. Isch over.

sybille eden / 02.01.2023

So gesehen befindet sich dieses Land tief im platonischem Sumpf, einem technokratischen Autoritarismus oder wie ich es nenne , einer FASCHOKRATIE !

Elias Hallmoser / 02.01.2023

Wissenschaft geht es nicht um Wahrheit, sondern um Erkenntnis. Und Wissenschaft gibt in der Regel auch keine Handlungsempfehlung, sondern erläutert die Bedeutung ihrer Erkenntnis. Eine wissenschaftliche Hypothese kann bestätigt, widerlegt oder auch keines von beiden werden.

Thomas Szabó / 02.01.2023

“Glaube an die Wissenschaft” heißt sinngemäß “Glaube an Gott” oder “Glaube an das Irrationale”. Die Wissenschaft ist aber keine Frage des Glaubens! Sie ist eine Frage des Skeptizismus, des Verifizieren & Falsifizieren. Die eine wahre Wissenschaft - die ein wahre Religion. Der Wissenschaftler soll kein Priester sein. Die Wissenschaftler sollen kein Konzil bilden, welches Dogmen über die unbefleckte Empfängnis der mRNA-Impfstoffe erlässt.

Thomas Szabó / 02.01.2023

Platons Diktatur der Gelehrten wäre heute eine Diktatur der Grünen. Grüne halten sich für Gelehrte, die Lauterbachs halten sich für Experten. Die polit-mediale Priesterschaft predigt die Wissenschaft als Religion.

Thomas Szabó / 02.01.2023

Platon war ein faschistoider Idiot.

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