Man ist in diesen Tagen ja ein wenig erschöpft von den Nachrichten, weil man mit dem verarbeiten überhaupt nicht mehr nachkommt. Zur Erholung empfiehlt die ARD sich die Bilder am besten nicht mehr reinzuziehen (was ein wenig dem Geschäftszweck dieser Institution widerspricht) und vor allem nix über Facebook und Twitter weiterzuverbreiten (was für ihren Geschäftszweck nützlich wäre). Das erinnert mich an die Empfehlung meiner Mutter, die bei Rastlosigkeit und Nervosität empfahl: "Junge, lies doch mal ein gutes Buch". Da meine Mutter mir deutlich näher steht als ARD, ZDF, RTL und Pro Sieben, habe ich ihren Ratschlag befolgt und ein bisschen in alten Texten geschmökert. Und dabei ist mir der folgende besonders aufgefallen. Irgendwie muss Kurt Tucholsky hellseherische Fähigkeiten gehabt haben. Allerdings rätsele ich noch, woran mich sein Text erinnert, ich kann es nicht genau sagen. An Henryk Broders zugewanderten Mischling Chico? Oder gewisse Nachrichten-Sendungen und Magazine? Kämpft der Hund womöglich gegen rechts? Oder gegen links? Oder gegen lechts und rinks (Ernst Jandl). Fragen über Fragen.
Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch
Von Kurt Tucholsky
Wie dem Hund, dem auf dem Wege vom Herzen zum Maule alles zum Gebell wird ( Zitat Alfred Polgar)
Der Hund ist ein von Flöhen bewohnter Organismus, der bellt (Leibniz). Dieser Definition wäre einiges hinzuzufügen.
Im Hund hat sich der bäuerische Eigentumstrieb des Menschen selbständig gemacht; der Hund ist ein monomaner Kapitalist. Er bewacht das Eigentum, das er nicht verwerten kann, um des Eigentums willen und behandelt das seines Herrn, als gebe es daneben nichts auf der Welt. Er ist auch treu um der Treue willen, ohne viel zu fragen, wem er eigentlich die Treue hält: eine Eigenschaft, die in manchen Ländern hoch geschätzt wird. Sie ist für den Betreuten recht bequem.
Einem Hund, der etwas bewacht, zuzusehen, kommt dem Erlebnis gleich, einen Urmenschen zu beobachten. Er ist stets unsicher, unruhig und macht sich mit Lärm Mut – er greift an, weil ihn seine Angst nach vorn treibt.
Der Hund ist ein anachronistisches Wesen.
Der Hund lebt ständig im Dreißigjährigen Krieg. In jedem Briefträger wittert er den fahrenden Landsknecht, im Milchmann die schwedische Vorhut, im Freund, der uns besucht, den Gottseibeiuns. Er bewacht nicht nur den Hof seines Herrn, sondern auch den Weg, der daran vorbeiführt, und versteht niemals, dass die Leute, die dort gehen, neutral sind – diesen Begriff kennt er nicht. Seine Welt zerfällt in Freunde (seines Futternapfes) und in gefährliche Feinde. Undressierte Hunde leben noch im Urzustand der Erde.
Der Hund bellt immer.
Er bellt, wenn jemand kommt, sowie auch, wenn jemand geht – er bellt zwischendurch, und wenn er keinen Anlaß hat, erbellt er sich einen. Er hört auch so bald nicht wieder auf, ja, es scheint, als besäßen die Hunde eine Bellblase, die man nur anzustechen braucht, damit sie sich entleere. Ein besserer Hund bellt seine vier, fünf Stunden täglich. (Weltrekord: Hund Peschke aus Königswusterhausen; bellte am 4. Oktober 1927 zweiundfünfzigtausendvierhundertachtundsiebzigmal in sechzehn Stunden. Als das vorbei war, sprach sein Herr: »Ich weiß gar nicht, was der Hund hat – er ist so still?«)
Wenn ein Hund sehr lange bellt, hört es sich an, als übergebe sich einer.
Ein Hund bellt, wenn er mit den Sinnen etwas wahrgenommen hat; daraufhin, weil ihn sein Bellen erschreckt und aufregt, und des weiteren, weil sich das wahrgenommene Objekt um ihn kümmert, nicht um ihn kümmert oder davonläuft. Dieses Geschrei wird von vielen Leuten als Wachsamkeit ausgelegt; schon der französische Kynologe Hispa sagt: »Der Hund ist ein wachsames Tier, das mit seinem Gebell den Herrn nachts aufweckt, damit der aufsteht und ruft: ›Halt die Schnauze!‹« Da Hunde immer bellen, so dient ihr Gebrüll lediglich dazu, dass sich die Einbrecher vor ihrem Geschäft Gift besorgen und es dem Hundchen streuen.
Niemanden haßt der Hund so wie den Wolf; er erinnert ihn an seinen Verrat, sich dem Menschen verkauft zu haben – daher er dem Wolf seine Freiheit neidet, ihn hassend fürchtet und sich durch doppelten Verrat beim Menschen lieb Hund zu machen sucht.
Hunde blaffen mit Vorliebe schlecht gekleidete Menschen an, wie sie überhaupt die mindern Eigenschaften des Besitzers personifizieren. Nachts, wenn kein Fremder da ist, machen sie eine alte Familienfehde mit dem Mond aus. Der Mond, den das nächtliche Gebell auf der Erde stört, kehrt ihr darum seit Jahr und Tag sein blankes Hinterteil zu...
Der Text von Kurt Tucholsky erschien zuerst in Die Weltbühne am 02.08.1927