Rainer Grell / 28.01.2017 / 16:25 / 2 / Seite ausdrucken

Irdische Demokratie, himmlischer Kommunismus

Nichts und niemand ist perfekt. Das ist eine Binsenweisheit und gilt selbstverständlich auch für die Demokratie. Der große Sir Winston Churchill hat in seiner Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947 über diese die folgenden, nicht immer korrekt zitierten Sätze gesagt: “No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time." Aber so etwas zu hören und zustimmend dazu zu nicken oder danach zu urteilen und zu handeln sind eben doch zwei verschiedene Dinge. Demokratie will gelernt sein. Und selbst dann überfordert sie gelegentlich auch Menschen, die darin mehr Übung haben als wir, wie die Brexit-Entscheidung in Großbritannien und die Trump-Wahl in den USA deutlich gemacht haben.

So banal es auch klingen mag, man kann es nicht oft genug betonen: Die wichtigste Entscheidung, die jede/r Wahlberechtigte in einer Demokratie treffen sollte, ist zur Wahl zu gehen und eine gültige Stimme abzugeben. Wählen sollte „Ehrensache“ sein. Ob eine Wahlpflicht, mit oder ohne Sanktion, wie sie in rund 30 Nationalstaaten besteht (darunter die EU-Mitglieder Belgien, Griechenland, Italien und Luxemburg), bessere Ergebnisse bringt, mag dahin stehen.

Nach dem Brexit-Votum empörten sich viele Londoner Yuppies, vor allem aus der Banken-Branche, die Alten hätten mit ihren Leave-Kreuzen die Jungen um ihre Zukunft betrogen. Doch letztlich haben die jungen Remain-Befürworter sich selbst geschadet: Bei einer Wahlbeteiligung von insgesamt 72 Prozent gingen von den 18- bis 24jährigen nur 36 Prozent zur Wahl, in der Gruppe der 25- bis 34jährigen nur 58 Prozent. Was für eine unreife Haltung: Der Wahl fern bleiben und anschließend deren Ergebnis bejammern. Dabei bestehen in der Demokratie neben dem Wahlrecht auch noch etliche andere Möglichkeiten, sich in politische Prozesse einzubringen und seine Anliegen zu vertreten.

Sinnloses Gejammer auch wegen der US-Wahl

Kritik und Gejammer gibt es auch wegen der Wahl des US-Präsidenten. Immer noch erinnern zahlreiche Anhänger der unterlegenen demokratischen Kandidatin Hillary Clinton daran, dass sie mehr Wählerstimmen gewonnen habe als der Sieger Donald Trump. Die "Huffington Post" titelte ausgerechnet an 9/11 (deutscher Zeitrechnung, also einen Tag nach der Wahl, die traditionell am Dienstag stattfindet): „Die Mehrheit des amerikanischen Volkes hat Hillary Clinton gewählt“. So what? Das wirkt auf mich so wie der Werbeslogan „Katzen würden Whiskas kaufen“. Sie tun dies aber ebensowenig wie die amerikanischen Bürger den Präsidenten direkt wählen: Der Chef im Weißen Haus wird vom Electoral College gewählt, ein Wahlmänner-Gremium (wobei natürlich auch Frauen presidential electors sein können und tatsächlich auch sind, weshalb die richtige Übersetzung wohl Wahlkollegium wäre). Nur nebenbei: Als halber Feminist finde ich es erstaunlich, dass man nirgendwo etwas über den Frauenanteil im Electoral College findet. Aber vielleicht habe ich meine Nachforschungen bloß zu früh abgebrochen.

Es steht also unabänderlich fest: Donald Trump ist der 45. Präsident der USA, gewählt nach einem demokratischen Wahlrecht, nach dem auch seine 44 Vorgänger bestimmt wurden, so wie es in Artikel II der Verfassung vom 17. September 1787 vorgeschrieben ist (deutsch, englisch, mit zwei Änderungen 1803 und 1961).

Gegen dieses Ergebnis anzugehen ist sinnlos, gegen den gewählten Amtsinhaber zu demonstrieren natürlich nicht. Doch gibt es da nicht diese ominöse 100-Tage-Frist, die man anständigerweise einhalten sollte, bevor man sich ein Urteil über einen politischen Neuling erlaubt und dieses dann auch lauthals kund tut? Bei Wikipedia kann man dazu lesen:

"Die 100-Tage-Frist bemisst die Zeitdauer, die nach einer Faustregel des Journalismus einem neuen (politischen) Amtsinhaber oder einer neuen Regierung zugestanden wird, um sich einzuarbeiten und erste Erfolge vorzuweisen. Danach kommt es zu einer ersten Bewertung (100-Tage-Bilanz) der Regierungsleistung (Regierungskommunikation). Ursprünglich ging diese Form von Stillhalteabkommen zwischen Presse und Politik auf den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zurück, der während der Weltwirtschaftskrise zum Präsidenten gewählt worden war. Er bat um eine Schonfrist von 100 Tagen, nach denen die Wirkung seines Reformprogramms, des "New Deals", erkennbar werden sollte.

Die 100 Tage soll der neue Entscheider nutzen, um sich mit den Abläufen seines Amtes vertraut zu machen, wesentliche Personalentscheidungen zu treffen und erste Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Da der Regierungsalltag komplex ist und Entscheidungen meist einen gewissen Vorlauf benötigen, lässt sich die Leistung der handelnden Personen nicht sofort nach ihrer Amtseinführung abschätzen. Traditionell wird das erste Resümee von Medien und Opposition darum erst nach Ende dieser Schonfrist gezogen. Die 100-Tage-Frist war ursprünglich eine Faustregel aus dem Redaktionsleben der Presseorgane. Inzwischen ist sie zum Allgemeingut geworden und im politischen Tagesgeschehen verankert. Die allgemeine Anwendbarkeit dieser willkürlichen Frist ist jedoch umstritten und verliert in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung."

Und für einen Pussy-Grabscher wie Trump gilt sie gleich gar nicht.

Wie viel Trump steckt in mir?

Obwohl ich aus meiner Abneigung gegen den Unsympath Donald J. Trump nie einen Hehl gemacht habe, was ihm natürlich herzlich gleichgültig sein dürfte, habe ich mir die Frage gestellt, wie viel Trump eigentlich in mir steckt. Und, ach du Schreck, „ziemlich viel“, wie mir das Trump-O-Meter von ZEIT ONLINE nach der Beantwortung von 19 Fragen bescheinigte. Um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen: Frage 4 habe ich verneint („Ist Folter ein probates Mittel, um Terroristen Informationen zu entlocken?“ Richtig formuliert hätte sie ohnehin lauten müssen: „Sollte Folter zulässig sein, um Terror-Verdächtigen Informationen zu entlocken?“ oder wenigstens „Sollten Terror-Verdächtige gefoltert werden, um ihnen Informationen zu entlocken?“)

Was allerdings ärgerlich ist an Trumps Wahlerfolg: Jetzt werden wir nie erfahren, wie Hillary den Job bewältigt hätte. Und ob der Stadtneurotiker Woody Allen mit dem ihm zugeschriebenen Satz als “final word on the 2016 presidential election“ richtig gelegen hätte: “We stand today at a crossroads: One path leads to despair and utter hopelessness. The other leads to total extinction. Let us hope we have the wisdom to make the right choice.” (Das Zitat ist auch hier zu finden.)

Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Demokratie ist natürlich keine Schönwetter-Veranstaltung. Gerade wenn es blitzt und kracht und der Wind von vorn kommt, ist sie besonders wichtig. Und: Die Mehrheit hat keineswegs immer Recht, ihre Entscheidungen sind mitnichten immer die besten. Aber, und hier muss ich mich ausnahmsweise mal des Merkel‘schen Wortschatzes bedienen: Sie ist alternativlos. Das schließt Fortentwicklungen und Verbesserungen natürlich nicht aus. Im Gegenteil.

In Osteuropa fehlt noch die Übung

So, und nur so, verstehe ich die Aussagen im Datenreport 2016: Sozialbericht für Deutschland des Statistischen Bundesamtes, wo in Kapitel 13 „Demokratie und politische Partizipation“ Abbildung 2 Auskunft gibt über die "Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie im eigenen Land" (Seite 21/409). Diese Zufriedenheit reicht in Westeuropa in Prozent von 91 in Dänemark (einer parlamentarischen Monarchie) über 77 in West- und 47 in Ostdeutschland (Deutschland insgesamt 71) bis zu 29 in Portugal und 24 in Zypern, wobei der Durchschnittswert bei 61 liegt; im Mutterland der Demokratie (ich meine damit keineswegs Griechenland, sondern Großbritannien bzw. England, eine parlamentarische Monarchie) sind 66 Prozent mit der Demokratie zufrieden. In Osteuropa fehlt es offenbar, ähnlich wie in Ostdeutschland, noch an der nötigen Übung. Hier beträgt der Höchstwert 59 in Polen, der Tiefstwert in Slowenien 26, der Durchschnitt 39.

Sollte ich die Aussagen allerdings falsch verstehen und richtete sich die Unzufriedenheit gegen die Demokratie als solche, dann müssten sich die Nörgler fragen lassen, wie sie’s denn gerne hätten. Vielleicht a la Putin oder Erdoğan? Manch einer mag vielleicht an Brechts „Lob des Kommunismus“ denken:

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.
Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig.
Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen.
Aber wir wissen:
Er ist das Ende der Verbrechen.
Er ist keine Tollheit,
sondern das Ende der Tollheit.
Er ist nicht das Chaos,
sondern die Ordnung.
Er ist das Einfache
das schwer zu machen ist.

So schwer, dass es bisher noch kein Staat geschafft hat, ihn zur Zufriedenheit seiner Bürger zu verwirklichen. Offenbar ist er eher etwas fürs Jenseits. Dazu die gute Nachricht von "Achse"-Leser Georg Dobler: "Die Rückkehr ins Paradies ist vorgesehen." 

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Andreas Rochow / 29.01.2017

Großartiger Essay, den man gern weiterdenken möchte. Mich haben beispielsweise demokratiekritische Äußerungen von Helmut Schmidt immer wieder nachhaltig beeindruckt. Nicht so sehr der Hinweis auf möglicherweise irrende Mehrheiten, vielmehr seine Einschätzung, dass es Völker gäbe, zu denen Demokratie nicht passt. Der Kommunismus hat der Menschheit in 100 Jahren Hunger, Elend, Armut, Isolation, Unfreiheit und Millionen von Toten beschert. Aus der “lichten Zukunft” ist eine düstere Vergangenheit geworden. Eine für den “demokratische Sozialismus”  (PDS/LINKE) stehende Partei nutzt die vorhandene, ihr trickreich zugewachsene Demokratie nur aus, um ihrer linken Dystopie näher zu kommen. Auch das muss die Demokratie ertragen.

Frank Holdergrün / 28.01.2017

Nichts am Kommunismus entspricht der Natur des Menschen. Er zerstört das Individuum, zersetzt Leistung und Fortschritt, in dem er die Schuld beim Anderen sucht und nicht seine Potentiale. Heute ist sozialistisch-kommunistisches Gerede deswegen so mächtig, weil es unsere zugrunde liegende darwinistische Gesellschaft, die noch nie so brutal wettbewerbsorientiert war, mit einem Nebel des Erträglichen umhüllt. Es ist dies eine Art von medial duftender Gesprächstherapie, die leider davon ablenkt, Übertreibungen des egoistischen Verhaltens zu erkennen und auszuräumen, die jeder freien und demokratische Gesellschaft leider auch innewohnen.

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