Henryk M. Broder / 22.11.2008 / 20:31 / 0 / Seite ausdrucken

Humboldts Alptraum

Dass es in Deutschland ein Problem mit Bildung und Erziehung gibt, ist spätestens seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt, als der Pädagoge Georg Picht sein Buch „Die deutsche Bildungs-katastrophe“ veröffentlichte: Zu wenige Lehrer, zu große Klassen, verstaubte Lehrpläne,  große Unterschiede in den Anforderungen von Bundesland zu Bundesland.  Wer heute z.B. das Abitur in Bayern oder Baden-Württemberg nicht schafft, weicht nach Berlin oder Bremen aus. Besonders dramatisch ist die Situation an den Hauptschulen: Etwa 2o% der Schüler können bei Schulabschluss weder richtig lesen noch schreiben. Dennoch hat Bundeskanzlerin Merkel vor kurzem die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen.

Das war sehr mutig, wenn auch so realitätsbezogen wie eine Fahrt zum Mond in einem Heißluftballon. Und so kann man es den Schülern nicht übel nehmen,  dass sie ab und zu auf die Straße gehen, um gegen die Zustände an den Schülern zu demonstrieren. Vorletzten Mittwoch nahmen fast 100.000 Schüler in der ganzen Republik an Demos teil, zu denen die bundesweite Schülerinitiative „Bildungsblockaden abreißen!“ aufgerufen hatte. Es war der größte Auflauf seit dem Beginn des Irakkrieges, als etwa ebenso viele Schüler gegen den Einmarsch der Alliierten in Bagdad zu Felde zogen und „Gewalt ist keine Lösung!“ riefen.

Aber das ist erstens schon eine Weile her und zweitens muss man zwischen reaktionärer und progressiver Gewalt unterscheiden. Deswegen haben in Berlin einige hundert Schüler die Eingangshalle der Humboldt-Universität gestürmt und verwüstet, wobei sie bei der Gelegenheit eine Ausstellung über die von den Nazis vertriebenen und ermordeten jüdischen Unternehmer in kleine Teile zerlegten. Das Ganze fand nur drei Tage nach den Gedenkfeiern zum 9. November 1938 („Kristallnacht“) und in unmittelbarer Nähe des Platzes statt, auf dem am 10. Mai 1933 Tausende von Büchern jüdischer, bürgerlicher und linker Autoren im „reinigenden Feuer“ der nationalen Revolution verbrannt wurden.

Deutschland war geschockt. Wieder einmal war von einem „sinnlosen Ausbruch der Gewalt“ die Rede, als ob es auch einen sinnvollen geben könnte, wieder einmal fragten sich Pädagogen, Politiker und Pisa-Experten, wie es zu einem solchen Exzess kommen konnte. Während die einen sich damit trösteten, dass es nur „eine kleine radikale Minderheit“ war, die sich daneben benommen hatte, ohne zugleich zu fragen, warum die große friedliche Mehrheit der kleinen radikalen Minderheit nicht in den Arm gefallen war, wunderten sich die anderen, dass Schüler, die gegen den Bildungsnotstand demonstrierten, ihrer Wut in einer Universität an einer Ausstellung freien Lauf ließen. Bis schließlich jemand die Frage stellte, ob es sich um einen einfachen Akt des Vandalismus oder eine antisemitisch motivierten Gewalt gehandelt hatte.

Worauf die Organisatoren der Demo eine Erklärung abgaben, in der es u.a. hiess, die „Beschädigungen“ der Ausstellung seien keine „gezielten Taten“ gewesen, sondern „die Folge einer über lange Zeit aufgestaute Wut bei SchülerInnen, von denen einige – ohne über die Form oder das Ziel ihrer Aggression nachzudenken – ihre Wut an den Plakaten ausgelassen haben“.  Zudem gehöre es zu den „selbstverständlichen Grundsätzen der SchülerInnen-Initiative ‚Bildungs-blockaden einreißen!’, dass wir Toleranz gegenüber Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen, anderer oder ohne Religionszugehörigkeit, anderen Meinungen, anderen ethnischen Zugehörigkeiten und anderen Herkunftsländern für einen der wichtigsten Werte menschlichen Zusammenlebens halten. Homophobie, Xenophobie, Rassismus oder Antisemitismus sind damit absolut unvereinbar“.

Mit dieser im besten Gutmenschendeutsch abgehaltenen Erklärung war der Fall für die SchülerInnen erledigt.

Wie zum Beweis des Bildunsnotstands, gegen den sie eben Amok gelaufen waren, verschwendeten die SchülerInnen der Initiative „Bildungsblockaden abreißen!“ keinen Gedanken darauf, warum ihre MitschülerInnen ihre aufgestaute Wut an „Plakaten“ ausgelassen hatten, auf denen es um das Schicksal von Juden ging. So viel Unschuld kommt nicht von ungefähr. Wird in Deutschland irgendwo ein jüdischer Friedhof geschändet, erklärt die Polizei umgehend, für einen antisemitischen Hintergrund gebe es keine Anhaltspunkte.

Ja, der Bildungsnotstand ist für alle da.

Weltwoche, 20.11.08

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