Von Ansgar Kruhn.
Ein Geist schwebt über der zeitgenössischen deutschen Diskurslandschaft, es ist der Geist von Jean-Jacques Rousseau. Lernt der Historiker nichts aus der Geschichte, was meist der Fall ist, dann doch zumindest von der Überzeitlichkeit einiger großer Denker und Ideen. Anders als es der Historismus meinte, lassen sich Gedanken nicht in epochenförmige Schubladen pressen, sondern sie nehmen ein Eigenleben an, das von niemand berechnet werden kann. Der Historiker hat sich damit zu begnügen, diese Gedanken in ihren Ableitungen und Modifikationen im besten Fall wiedererkennen zu können.
Man muss sich Rousseau als einen tief religiösen Denker vorstellen, dem die Aufklärung und vielleicht seine Lebensführung aber den Weg hin zu einer konventionellen Religionspraxis verstellt hatten. Einen Gott im Himmel konnte Rousseau nicht mehr für sich annehmen. Sein religiöser Impetus konnte folglich nur nach innen gerichtet werden. Damit wurde die Frage der Moral auf eine neue Basis gestellt. Die alten, religiösen Normen galten nicht mehr, der Mensch wurde nun selbst für die Frage nach dem Guten und Bösen verantwortlich gemacht. Während die pragmatischen Inselbewohner Hobbes und Locke aus der Vernunft und Lebenspraxis heraus einen moralischen Minimalkonsens entwickelt hatten, schlug bei Rousseau sein religiöses und bedingungsloses Wesen voll durch: Er proklamierte die Existenz eines quasi-göttlichen Gewissens in jedem Menschen, das Verhalten als objektiv gut oder böse erfahrbar machen würde, ganz ohne lästige Abwägungen, Gedankenkonstrukte und intellektuelle Mühen.
Was auf den ersten Blick vielleicht freiheitlich anmuten mag – immerhin liegt der Sitz der Moral nun im Individuum – erweist sich in praxi als Baustein des Totalitarismus. Da jeder Mensch im Kern weiß, was also gut und was böse ist, kann sich der Einzelne, überzeugt davon das Gute zu tun, den Umstand, dass andere Menschen andere Ansichten haben, nur mehr dadurch erklären, dass diese anderen Menschen ganz bewusst böse handeln. Aus Menschen mit anderen Meinungen werden so dämonische Feinde.
Wer den Ansichten der Mehrheit entgegensteht, kann eo ipso nur ein dämonischer Feind sein
Man muss dies in Verbindung mit Rousseaus Konzept des „Gemeinwillens“ sehen. Er war der Meinung, dass es diesen auf das Wohl der Gemeinschaft ausgerichteten „Gemeinwillen“ gäbe, dem sich die Bürger, die immerhin bei der Entstehung des „Gemeinwillens“ beteiligt waren, unterzuordnen haben. Dies trifft ganz besonders auf diejenigen zu, die bei der fiktiven Abstimmung über den Gemeinwillen gegen die Mehrheit gestimmt haben. Halten sie sich nun nicht an den Gemeinwillen, so sind sie aus der Gemeinschaft zu tilgen. Hier bricht erneut Rousseaus Religiosität hervor, die aus dem politischen Prozess einen moralischen Vorgang macht: Wer den Ansichten der Mehrheit entgegensteht, kann eo ipso nur ein dämonischer Feind sein.
Rousseau, der nicht umsonst der Lieblingsphilosoph Robespierres war, hat mit seinen Gedanken also auf gleich zwei Ebenen – der gesellschaftlich-individuellen und der politischen – für eine Polarisierung in absolute Wahrheit und bösartige Falschheit geführt. Aus der Logik dieser Gedanken heraus muss der „Böse“ auch nicht argumentativ überzeugt werden, schließlich ist er mit voller Absicht bösartig und könnte jederzeit zu den Guten wechseln, wenn er das nur wollte.
Die Parallelen zum aktuellen politischen Diskurs sind für den geeigneten Achse-Leser nicht zu übersehen. Spannend wird es, ob der politische Diskurs wieder in liberalere Fahrwasser finden wird. Aktuell sieht es eher so aus, als ob wir den letztlich fundamentalistischen Weg Rousseaus weiterverfolgen werden. Dass sich dieser eine Gesellschaft ohne relevanten Privatbesitz, ohne Industrie und Wissenschaft, kurz: ohne Fortschritt, gewünscht hat, macht ihn heute nur umso attraktiver für eine gewisse Gruppe von Menschen, denen das eigene moralische Empfinden alles ist. Secundam non datur.
Der große Aufklärer und Humanist Denis Diderot sagte über Rousseau: „Dieser Mensch erfüllt mich mit Unruhe; in seiner Gegenwart ist es mir, als stünde eine verdammte Seele neben mir. Ich will ihn nie wiedersehen; er könnte mich an Hölle und Teufel glauben machen.“
Autor Ansgar Kruhn ist Historiker und nebenbei Reisender in Sachen Weltanschauungstourismus