Bei manchen Berichten über den Massenmord in Las Vegas mit 59 Toten meint man, bei aller Tragik, zwischen den Zeilen auch ein großes Aufatmen zu vernehmen. Dieser Anschlag ist schlimm und jeder deutsche Berichterstatter und Kommentator kann einfach angemessen ausführlich darüber berichten. Keine Information über den Täter muss kaschiert oder verschwiegen werden. Es ist ein Mann, dessen voller Name bekannt gegeben wird; ein älterer Weißer, wie ohne Umstände geschrieben werden kann, weil der „Generalverdacht“, der jede klare Erwähnung einer anderen Täterherkunft zu einer Gratwanderung werden lässt, bei weißen alten Männern offenbar nicht besteht.
Zumindest gab es auch am Tag danach keine Hinweise darauf, dass der Massenmörder von Las Vegas irgendein weltanschauliches Motiv gehabt hätte, auch wenn der Islamische Staat (IS) die Tat zunächst für sich reklamierte und behauptete, der Mann sei zuvor zum Islam konvertiert. Offenbar können sich die radikalen Kämpfer gegen die „Ungläubigen“ und für die Durchsetzung mohammedanischer Lebensregeln nicht mehr vorstellen, dass gelegentlich auch ein „Ungläubiger“ zum Massenmord fähig ist. In der Tat war dieses Fach in den letzten Jahren Mohammeds entschlossensten Gefolgsmännern vorbehalten.
Nun kann man darüber spekulieren, ob der IS inzwischen jede Mordtat für sich beansprucht, weil er um die Entschlossenheit vieler „einsamer Wölfe“ weiß und diese Taten aufs eigene Konto verbucht sehen möchte, bevor das beispielsweise die Konkurrenz von den Taliban für sich in Anspruch nimmt, oder ob er einfach zur gleichen Zeit mit einem ähnlichen Anschlag eines ihrer Brüder im Islam gerechnet hat. Der 64-jährige Stephen Paddock, ein Pensionär, der als Glücksspieler und Immobilieninvestor beschrieben wird, hat wahrscheinlich nicht für den Islam gekämpft, als er auf die Konzertbesucher schoss. Da scheinen die Informationen der US-Ermittlungsbehörden deutlich glaubwürdiger zu sein als die IS-Propaganda.
Leichter Waffen kaufen als Zigaretten
Für Berichterstattung und Kommentar ist diese Konstellation ein Segen: Kein Islam und kein Migrationshintergrund müssen verschwiegen oder wenigstens wolkig umschrieben werden. Keine relativierenden Absätze, sondern einfach handwerklich ordentliche journalistische Arbeit ist möglich, ohne irgendwo anzuecken. Sucht man nach Schuldigen, so findet man sofort die Waffenlobby, die schärfere Waffengesetze verhindert. Auch US-Präsident Trump ist da natürlich irgendwie mitschuldig, denn er verhindert ja ein schärferes Waffenrecht. Dass das Trump-Bashing irgendwie zum guten Ton gehört, ist zwar nervend, aber es bleibt ja richtig, dass es ein Irrsinn ist, wenn man in einem Land leichter Waffen als Zigaretten kaufen kann.
So liest, hört und sieht man sich in deutschen Medien – angemessen groß aufgemacht – gründlich und detailliert informiert über das Massaker von Las Vegas und den dazugehörigen Täter. Damit könnte man, bei aller Tragik, zufrieden sein, drängte sich da nicht immer die Wahrnehmung des eingangs beschriebenen Aufatmens zwischen den Zeilen auf. Liegt es vielleicht an einer gewissen Überempfindlichkeit oder gar daran, dass man es als älterer weißer Mann nicht gern zur Kenntnis nimmt, dass auch ein älterer weißer Mann aus unklaren Motiven ebenso brutal sein kann wie beispielsweise ein junger arabischer Mann, der von Mohammeds Lehren beseelt ist?
Der Doppelmord im Schatten
Das mag eine Rolle spielen, doch viel stärker fällt auf, wie zurückgenommen, ja beinahe alltäglich, die Berichterstattung über den mutmaßlich islamistischen Mörder von Marseille tags zuvor war. Der Mann hat unter „Allahu akbar“-Rufen zwar „nur“ zwei Frauen umgebracht – es wären mehr gewesen, wenn die Polizei den Täter nicht reaktionsschnell niedergeschossen hätte – die routiniert alltäglich beiläufige Berichterstattung war dennoch bemerkenswert. Es sieht jetzt nur keiner mehr, denn Las Vegas überdeckt dies alles allein mit seiner Dimension.
Dennoch lohnt ein Blick in die veröffentlichte Wahrnehmung des Marseiller Doppelmords im Namen Allahs. Sicher, zum Attentäter lässt sich noch nicht so viel Eindeutiges sagen wie über Stephen Paddock, denn die mindestens sieben Identitäten unter denen der junge Mann in Europa gelebt haben soll, müssen auch die Ermittler erst einmal sortieren. Das Problem ist natürlich, dass solche Anschläge mittlerweile wirklich in gewisser Weise alltäglich geworden sind. Europa erlebt gerade einen sozialen Klimawandel, den einerseits bitte niemand so benennen soll, aber an den sich andererseits alle bitteschön still gewöhnen sollen als wäre er ganz normal.
Inzwischen ändern sich auch die Sprechblasen der politischen Beileids-Rhetorik nicht mehr. Man trägt sie ja auch nicht als etwas Bedeutendes vor, sondern erledigt sie beiläufig in kurzen Schreiben oder in sozialen Netzwerken.
Bundeskanzlerin Angela Merkel schrieb kondolierend an Präsident Emmanuel Macron: „Erneut wurden unschuldige Menschen zum Opfer einer barbarischen Attacke eines Einzelnen.“ Sie bleibe fest davon überzeugt, „dass unsere Freiheit und unsere Art des friedlichen und respektvollen Zusammenlebens stärker sind als jeder Hass.“ Welch ein Hohn, wenn doch praktisch Messer- und andere Attacken auf „Ungläubige“ „unsere Art des friedlichen und respektvollen Zusammenlebens“ längst bestimmen und sich Angst und Misstrauen Bereiche des öffentlichen Raums erobert haben, in denen man sich vor wenigen Jahren in Deutschland noch weitgehend sicher fühlte. Aber all das darf man heute vergessen. Es ist Tag der deutschen Einheit, es ist „Tag der offenen Moschee“ und alle heimischen Bedrohungen dürfen zurücktreten in den Schatten des ungleich größeren Grauens in Las Vegas.
Dieser Beitrag erschien auch auf Peter Grimms Blog sichtplatz