In den 70er und 80er Jahren bereitete ich Sonntag für Sonntag in Ostberlin das Mittagessen meiner Familie zu. Im Hintergrund lief der RIAS. Für einige Minuten schälten meine Hände die Kartoffeln langsamer und zogen die Pfanne mit dem halb garen Fleisch vom Herd. Friedrich Luft erschien. Ich kannte alle Westberliner Theateraufführungen, ohne jemals auch nur eine einzige gesehen zu haben. Dieser Typ war es wert, das Mittagessen um fünfzehn Minuten zu verzögern. Seit 1989 las ich fast wöchentlich die Theaterkritiken von Gerhard Stadelmaier in der FAZ. Sicherlich nur ein Zufall, dass ich das Abonnement der FAZ mit seinem Ausscheiden 2015 beendete.
Über einhundert Jahre hat Deutschland einflussreiche und rhetorisch herausragende Theaterkritiker hervorgebracht. Gerhard Stadelmaier war ihr letzter. Es gibt kein deutsches Theater mehr.
Es muss Stadelmaier gewaltig gestunken haben, dass er sich für sein Buch "Deutschlandglotzen – Ganze Tage vor dem Fernsehen" wochenlang ARD/ZDF angetan hat, um sich endlich wieder einmal mit – „sprachgewaltig“ wäre eine Untertreibung – Theaterdonner seine Wut von der Seele zu schreiben. Er seziere das Angebot "kreuzkomisch und provozierend garstig", heißt es in der NZZ, während Deutschlandradio Kultur die "bravouröse Schlechtgelauntheit" lobt. Der Theater-Kritiker kommt auch beim Fernsehglotzen nicht vom Theater los. Selbst bei den übelst verhunzten Inszenierungen muss er seinen Shakespeare geliebt haben, so dass er ihn beständig als Parallele benutzt, wie auch Molière, Tschechow, Ibsen und so weiter.
Die Gouvernantentanten fragen, als „führen sie ein Zeugnisheft“
Stadelmaiers interessanteste Frage ist: „Wen lädt man sich da ins Haus ein, wenn man fernsieht?“ In Corona-Zeiten stets die Adepten eines „pandämonischen Königsdramas“: Merkel und ihre drei Kanzlerwelpen sowie einen Virologen als deren Einflüsterer. Ihren Auftritt im „großen deutschen Staatstheater“ komprimiert er in fiktiven Zitaten. Die Fürsorge-Leitwölfin: „ein Volk!, eine Republik!, eine Disziplin!.“ Söder: „Er ahmt den Tiger nach in seinem Tun.“ Laschet: „Er lieh dem Auge einen Schreckensblick.“ Spahn: „Nach der Corona-Krise werden wir uns gegenseitig vieles zu verzeihen haben.“ Der wuschelköpfige Weltvirologe, dem mit großer Wahrscheinlichkeit zugetraut wird, in ferner Zukunft internationales Gewicht erlangen zu können, immerhin ist schon mal der Bundespräsident mit seinem Verdienstkreuz in Vorlage getreten: „Wenn, dann – wenn nicht, dann …“ Von der Dame und ihren Kanzlerwelpen gewinnt Stadelmaier die Erkenntnis, dass sie von wissenschaftlichen Beratern „das einzufordern, was diese als Wissenschaftler gar nicht liefern können: erstens Wahrheit, zweitens Gewissheit, drittens noch mehr Wahrheit.“ Aber das zusätzlich befeuert von „krawallgebürsteten Boulevard-Medien“. Fazit zu den Experten: „Nichts Genaues wissen wir nicht, dies aber sehr genau.“
Stadelmaier nimmt sich die Talkshows vor. Wie hat er das nur ausgehalten? Mit Milchshakes oder einer Wagenladung „Augustiner“? Wurde er dabei Diabetiker oder Alkoholiker? Wir können es nicht wissen, allerdings wissen wir, dass er dafür kein Bundesverdienstkreuz erhalten wird. In Talkshows wird weder getalkt, es werden ausschließlich Eigensämereien ins Publikum verpustet, noch sind sie eine Show, dafür sind sie nicht ernsthaft genug.
Für den Einstieg hat er ein geradezu welthistorisches Bild gefunden. Das berühmteste Gefängnis Kubas ist das „presidio modelo“, ein kreisrunder Bau, mit einem Beobachtungsturm in der Mitte, die Zellen sind nur nach Innen zu öffnen und nur mit Gitter versehen. Die Wächter können die Insassen beobachten, ohne von diesen gesehen zu werden. Der bekannteste Insasse war Fidel Castro, wenngleich nur kurzfristig und zudem in einem Luxuszellenappartement, heute noch zu besichtigen in einem ansonsten verfallenen Bau, jedoch nicht, weil das sozialistische Kuba keine Gefängnisse mehr benötigte, sondern weil es permanent zu klamm ist für den Unterhalt dieses modernen Baus. Für Stadelmaier die perfekte Analogie zu den typischen Talkshow-Runden.
Die wichtigsten Gouvernantentanten Will, Maischberger, Illner und Plasberg gibt er einer demaskierenden Lächerlichkeit preis. Seine Kommentierung der Anbiederung an Politiker: „Wie geht es Ihnen Herr Scholz?“ oder „Wohin gehen Sie dieses Jahr in Urlaub, Herr Maas.“ und deren Untertänigkeit gegenüber Journalisten stellt ihre gegenseitige Abhängigkeit infrage, infolge der „Unterwerfung der exekutiven unter die publizistische Gewalt“. Die Gouvernantentanten fragen, als „führen sie ein Zeugnisheft, in das sie Haltungs- und Wissensnoten des von ihnen Befragten eintrügen.“
„Es ist alles ganz schrecklich, aber völlig unernst“
Werbung muss nicht kommentiert werden, sie ist bereits an sich gequirlter Schwachsinn. Wer nach Werbung einkauft, hat es nicht besser verdient. Das schreibt sich so leicht hin! Stadelmaier blickt tiefer. Fernseh-Werbung ist so inszeniert „als ob es keiner Distanz, ja keiner Nachfrage, keines Innehaltens oder Abwägens zwischen Reiz und Reaktion bedürfe.“ Der beständig hergebetete Satz „Zu Risiken und Nebenwirkungen …“ gehört zu einer Gesellschaft, die im Großen und Ganzen sich einem unaufhörlichen Versicherungs- beziehungsweise Rückversicherungsverlangen hingibt.“
Das Kapitel über die Krimiserien besteht aus einer unentwegten Aufzählung von schier unzähligen Schwachsinnigkeiten. Bedächtig gelesen, macht das müde, hingegen ihr „Herunterreißen“ sich als einzigartiger Witz einprägt. Es ist auch das einzige Kapitel, in dem sich Stadelmaier gnädig zeigt, er lässt jegliche Komik beiseite, schreibt nur auf, wie die Typen wirklich sind, also wie sie sein sollen, nicht sein wollen. Das endet mit: „Es ist alles ganz schrecklich, aber völlig unernst.“
Für Komiker oder gar Satiriker brechen mit Corona düstere Zeiten an, weil, so konzediert Stadelmaier, die große Mehrheit der Gesellschaft zutiefst einverstanden mit Zwang und Restriktionen ist, aber „dann verliert der Satiriker seine Verbündeten“.
Aber er zeigt den Schimmer am fernen Horizont, und der heißt Dieter Nuhr. Stadelmaier erinnert an dessen Wortspiel, mit dem er die tragikomische Annegret Kramp-Karrenbauer „zuerst zu Annegret Kramp-Panzerbauer, dann zu Annegret Kramp-Knarrenbauer, und am Ende zu Annemarie Krass-Käsekuchen“ verhohnepipelte. Am Ende folgte eine Verbeugung vor Nuhr. Er ist auch der einzige, der uns Erlösung bietet: „Ich weiß es doch nicht!“
Subventionen töten
Stadelmaier ist Theaterkritiker, das schien ihm die Welt zu sein, der „Otto-Normalverbraucher“ gehörte nicht dazu. Theater war Bildungsbürgertum, das ist inzwischen ebenfalls in den Sozialstaat abgewandert. Insofern ist Stadelmaiers „Verriss“ der Ärzte-, Krimi und nachmittäglichen Hausfrauenserien billig. Dieses Publikum braucht derartige Serien. So wie sich einst das Theater erst ein Theaterpublikum schuf, schuf sich das deutsche Staatsfernsehen sein alltäglich 221-minütiges Glotzenpublikum. „Tatort“ und Kochshows zu sehen, sind zuerst eine harmlose Sucht, dann eine veritable Krankheit.
Der Deutsche hat zwei große Freiheitsreservate, Mallorca und ARD/ZDF. Für beide muss er bezahlen. Das eine hat ihm der Konsumkapitalismus verschafft, das andere der staatliche Zwang. Aus beiden kann entfliehen, immer in dieselbe Richtung, und die heißt Internet. Ein Gedankenexperiment sei gewagt: Würden sämtliche Sendungen in ARD/ZDF ausschließlich hinter eine Bezahlschranke betrachtet werden können, sich also diese Sender selber finanzieren müssten, welche Programme würden davon überleben? Wahrscheinlich eher die Nachmittags- und Abendserien als das Erziehungsfernsehen von Herrn Kleber und Frau Reschke. Allein, dies ist eine reine Spekulation, würde das Kartell von Union, Grünen und SPD sich doch damit ihr wichtigstes Agitpropinstrument (heute feiner „Framing“ genannt) aus der Hand nehmen lassen. Und: Wo sollen denn die tausende von politisch eingenordeten Journalisten bleiben?
Die berüchtigten Rundfunkräte sollen für Programmvielfalt Sorge tragen. In ihnen sollen alle gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten sein, darunter nicht allein Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, auch der BUND (wird vom Staat finanziert), der Bund der Vertriebenen (nach 75 Jahren), Frauenverbände (niemand wählt diese), der Journalistenverband (mit seinem Eigeninteresse), das DRK und die Freie Wohlfahrtspflege (beide spendenfinanziert), ebenso wie der Olympische Sportbund (wird vom Fernsehen finanziert). Dazu fällt mir die modernistische Theorie der Stakeholder ein, die als Korrektiv zu den Aktionären vorgebracht wird. Wer von jenen Gruppen finanziert ein Unternehmen, wer trägt ein unternehmerisches Risiko? Wer von den angeführten Gruppen in den Rundfunkräten trägt ein Risiko für die Akzeptanz der Programme? Wer von ihnen finanziert ARD/ ZDF? Dem Konsumenten wird Demokratie vorgegaukelt, tatsächlich ist es, weil ohne Verantwortung, eine Willkürherrschaft; die jüngere Generation hat das zwangsfinanzierte Staatsfernsehen schon längst verlassen; „der Rest ist ein gut sortiertes Älterenheim“.
Stadelmaier richtet sein Buch nicht an ein Publikum
Wer noch nie etwas von Molière gehört hat, Shakespeare für eine Pop-Gruppe hält und hinter Tschechow einen verkappten Bolschewiken vermutet, der erlebt in Stadelmaiers „Deutschlandglotzen“ abgrundtiefes Theater, als Komödie und als Tragödie, sowieso ist das eine ohne das andere nicht zu haben.
Ein Theaterkritiker beobachtet, er ist kein politischer Analyst. Stadelmaier ist ein Feuilletonist, das kann auch eine Kunstform sein, wenn sie denn den Konflikt wagt, nicht für die Mächtigen schreibt, nicht den Intendanten und den Kulturpolitikern nach dem Munde redet, sondern auf deren „Produkte“ schaut. Stadelmaier wurde schon von Schauspielern körperlich bedrängt und von Premieren ausgeschlossen. Offenbar hatte er nicht nur gestichelt und gereizt, er hatte entlarvt, so wie einst auch die besten Stückeschreiber, Brecht, Hochhuth, Botho Strauß und früher in der DDR auch Heiner Müller und Christoph Hein. Heute ist diese Spezies ausgestorben, ihre Kreativität ist zu Tode subventioniert.
Stadelmaier entlarvt schonungslos, warum auch sollte er Kitsch schonen! Intellektuelles Vergnügen bieten ARD/ZDF heute nicht mehr, wohl aber Stadelmaiers Kritik daran.
Stadelmaier richtet sein Buch nicht an ein Publikum. Wie jeder Künstler hat er es für sich allein geschaffen, nur der Verlag will damit zuerst Geld verdienen, wofür er ein aufnahmebereites Publikum benötigt. Es wäre ihm zu wünschen, allein schon aus Egoismus, weil ich dann meine Besprechung nicht umsonst geschrieben hätte.
Gerhard Stadelmaier, Deutschlandglotzen – Ganze Tage vor dem Fernsehen; zu Klampen 2020, 200 Seiten, 20 Euro