Rainer Bonhorst / 21.03.2017 / 12:00 / Foto: Andreas Praefcke / 6 / Seite ausdrucken

Das Hundert-Prozent-Problem

Ich weiß nicht warum, aber wenn ich extrem hohe Prozentzahlen sehe, muss ich immer gleich an die DDR denken. 99,94 Prozent – das waren die Ja-Stimmen, die Erich Honeckers Blockflöten bei der letzten traditionellen Volkskammerwahl holten. Hundert Prozent wären sogar denen peinlich gewesen. Ich bin sicher, dass Honi seine Stasi-Leute losgeschickt hat, mit dem Auftrag, ein paar Stimmzettel ungültig zu machen. Damit das Wahlergebnis nicht gar so blöd aussah.

Nun ist ein SPD-Parteitag keine Volkskammer. Da dürfen es schon mal hundert Prozent sein. Oder genauer: 605 von 605 Stimmen. Aber selbst bei den Genossen ist so ein Hundert-Pro-Ergebnis ein Novum. Kurt Schumacher wurde seinerzeit nur mit 244 von 245 Stimmen gewählt. Und Matthias Platzeck brachte es als Träger der Bronze-Medaille nur auf 512 von 515 Stimmen. Andere mussten sich von den SPD-Delegierten regelrecht triezen lassen. Gerhard Schröder musste sich mit miesen 75,98 Prozent zufrieden geben, und Oskar Lafontaine brachte es nur auf erschütternde 62,5 Prozent.

Aber jetzt ist die Hundert-Prozent-Latte übersprungen. Das absolute Maximum, das eigentlich Unerreichbare ist erreicht. Es ist, als hätte die Asymptote, die eigentlich erst im Unendlichen ihr Ziel berührt, die mathematische Gesetzmäßigkeit überwunden und die angestrebte Funktion schon in diesem Leben berührt. Und wer hat es geschafft? Martin Schulz Superman.

Ritter Schulz hat das Reich der Prosa hinter sich gelassen

Also gut, man kann die Sache auch etwas nüchterner ausdrücken. Zum Beispiel so: Ja, hundert Prozent sind 'ne Menge. Aber würde man damit dem Ereignis gerecht werden? Kann es genügen, die Erhebung von Martin Schulz zum politischen Gralsritter in der üblichen Prosa zu beschreiben? Ich meine: nein. Ritter Schulz hat das Reich der Prosa weit hinter sich zurück gelassen.

Aber wie wird es ihm ergehen, dort oben in den lichten Höhen? Und vor allem: Wie konnte es zu dem perfekten Hunderter kommen, der ihn so hoch hinauf katapultiert hat?

Denkbar ist, dass die Sozialdemokratie quasi über Nacht von einer großen, alles umschlingenden Liebe zu ihrem neuen Ritter erfasst wurde. Von einer Liebe, die alle altmodischen Schranken von Age und Gender hinter sich gelassen hat. Von einem Seelenglück, wie man es sonst allenfalls bei Utta Danella oder Rosamunde Pilcher findet.

Oder aber die Ja-Sager trieb eine gewaltige Angst in die starken Arme eines Retters in höchster Not. Eine Angst vor sang- und klanglosem Untergang.

Ja, eines von beidem muss es gewesen sein. Entweder dem Hundertprozentigen flogen alle Herzen zu, weil er so unwiderstehlich ist. Oder alle Hände griffen nach ihm, weil er der einzige Rettungsring in stürmischer See ist.

Oder war es vielleicht beides zugleich? Haben wir es hier mit einer Art Verzweiflungsliebe zu tun? Auch das ist möglich.

Foto: Andreas Praefcke via Wikimedia

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Leserpost

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Marina Blach / 21.03.2017

Das Gluecksgeschrei kennen wir ja schon aus den Auftritten von Helmut Schmidt auf Parteitagen, der letzten Jahre. Die Homogenitaet dieser Partei mit viel Melancholie bedacht, entspricht wohl eher ihrer Sehnsucht nach Neu-Macht und dem Traum nach mehr Sozialismus.

Barnd Gellhaar / 21.03.2017

Oder er hat sich selbst gewählt. Galt bei der Wahl zum Klassensprecher als selbstverliebte Unart…

Alexander Hinzpeter / 21.03.2017

Bloß 100 % ? Für den Messias der Spezialdemokraten ein geradezu beschämendes Ergebnis! Ein Wahlergebnis, dass schon nicht mehr von dieser Welt gewesen wäre, von sagen wir mal 120 % , nein 150 % oder noch besser 200 % =  gleich doppelte Zustimmung wäre doch für einen Erlöser, der es auch sonst gern doppelt nimmt, von seinen Jüngern nicht zu viel verlangt gewesen, eben 100 % Liebe und 100 % Verzweiflung. Schade finde ich auch, das nur das Wahlergebnis überliefert wurde und nix darüber zu lesen war ob der Himmel sich geöffnet und/oder das Meer sich geteilet habe oder wie lang die roten Klatschhäschen durchgehalten haben.

Sebastian Laubinger / 21.03.2017

Das ist das Tolle an solchen Ernennungen: Eine Alternative steht ja gar nicht zur Verfügung, das macht es natürlich einfacher. Ich weigere mich, so einen Stuss als “Wahl” zu bezeichnen, da der Begriff bereits impliziert, das man selbige hat. War hier ja nicht der Fall. Wie in einem Restaurant, in dem man entweder Wasser oder gar nichts trinken “darf”.

Thomas Schlosser / 21.03.2017

Auch die Sozis sind nicht davor gefeit, einen Leader, einen Erlöser, eine Lichtgestalt, anzubeten. Nach so vielen Jahren im wohlverdienten Jammertal der 20% plus x Zustimmung im Wahlvolk, wird sogar ein mausgrauer Apparatschik wie der langjährige EU-Oberbonze Schulz als Messias wahrgenommen. Zumal in den weit überwiegend linksgrün dominierten Medien alles dafür getan wird, aus diesem schamlosen Spesenritter (Stichwort: Tagegeld) einen Robin Hood der Neuzeit zu fabrizieren, damit der feuchte Traum aller Deutschland-Hasser endlich Realität werden kann: Eine Koalition aus Sozis, Kommunisten und Grünen. Und wie man an den aktuellen Umfragen sehen kann: Das deutsche Wahl- und Schlafschaf apportiert die gewünschte Zustimmung zu diesem Trauerspiel, das in der deutschen Nachkriegsgeschichte seinesgleichen sucht…..

Uwe Schäfer / 21.03.2017

Oh Gott, wenn doch Ihr Artikel nur dem Wahlvolk, insbesondere dem (sehr) schlicht denkenden Teil, die Augen öffnen würde, welch erbärmlichen Notnagel das ZK der SPD da gekürt hat, zukünftig unser Land zu führen. Nach allem was in den letzten Jahren war, verabscheue ich den Gedanken, dass es Merkel wieder schaffen könnte. Aber Schulz, der absolute Prototyp des politischen Nichtsnutzes, damit geht Deutschland unter. Am Ende wird wieder eine Figur wie in der Weimarer Republik auf den Plan treten und wir sind wieder da wo wir vor 100 Jahren waren. Heine: Denk ich an Deutschland…

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