Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des hessischen Landtages zum Attentat von Hanau ist vom Bemühen gekennzeichnet, die Tat eines schuldunfähigen Schizophrenen mit dem politischen Narrativ vereinbar zu machen.
Ende vergangenen Jahres hat der Hessische Landtag den gut 700 Seiten starken Abschlussbericht seines Untersuchungsausschusses zum Attentat von Hanau (19. Februar 2020) veröffentlicht. Sehr umfangreich und detailliert, teils auch recht kleinteilig, und ohne dass wirklich wesentlich neue Erkenntnisse zutage gefördert wurden. Vielleicht blieb auch deshalb das mediale Interesse sehr überschaubar, zumal es im nie endenden Kampf gegen Rechts ja beständig neue Frontlinien gibt. Und eine wie auch immer geartete Beziehung des Attentäters Tobias Rathjen (T. R.) zu AfD oder gar Reichsbürger-Kreisen konnte auch der Ausschuss nicht nachweisen, obwohl so etwas natürlich ein echter Scoop gewesen wäre. Ansonsten mag es verwundern, dass der Generalbundesanwalt (GBA) und seine Fußtruppen, also die bereits wenige Stunden nach dem Attentat mit den Ermittlungen beauftragte Behörde, beim Ausschuss offenbar vollkommen außen vor blieben.
Das Themenspektrum des Berichts reicht – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – von der Evaluierung des Informations- und Kenntnisstandes der beteiligten hessischen Behörden über die Rolle von Staatsanwaltschaft, Waffenbehörde und Bundeskriminalamt bis hin zu den in der Tatnacht abgesetzten Notrufen und der Problematik eines nicht zugänglich gewesenen Notausgangs an einem der Tatorte. Die beiden letztgenannten Aspekte beanspruchen alleine etwa 150 Seiten des Berichts, Fragen zum Umgang der Polizei mit Überlebenden und Angehörigen weitere 90 Seiten. Ein Fehlverhalten der einschlägigen Behörden angesichts des im Vorfeld vom Täter veröffentlichten Videos und seines wirren Schreibens an den GBA wird verneint. Auch das Thema Prävention wird gewürdigt. Es steht unter dem kämpferischen, wenngleich doch etwas DDR-affin klingenden Motto: „Demokratieförderung stärken, Antirassismusarbeit ausbauen“.
Spätestens hier stellt sich allerdings messerscharf die Frage, wieso angesichts der furchtbaren Tat eines an paranoider Schizophrenie erkrankten Wahnsinnigen nun Demokratie und Antirassismus zu fördern seien. Die Antwort auf diese Frage versucht der Ausschuss in seiner abschließenden Bewertung zu geben, aber so ganz flüssig und überzeugend will ihm das nicht gelingen: „Beginnend seit dem Jahr 2002 litt T. R. an einer schizophrenen Wahnerkrankung, die im Laufe der Zeit durch ein selbstgebildetes und selbstverstärktes rassistisches Weltbild mit erheblichen Verschwörungsphantasien und rassistischen Umvolkungsnarrativen ergänzt wurde.“
Wenn Phänomene sich durchmischen
Im Klartext kann das doch wohl nur wie folgt gemeint sein: Auf geheimnisvolle, jedenfalls nicht näher beschriebene Weise hat sich T. R. irgendwann – völlig unabhängig von seiner Schizophrenie – ein unschönes, namentlich rassistisches Weltbild angeeignet, wobei sich dieses Weltbild dann, wie auch immer, noch selbstverstärkt hat. Hier haben die Autoren ganz offensichtlich versucht, etwas in Worte zu fassen, das sie geistig nicht wirklich durchdrungen haben.
Aber es bleibt nicht bei dieser strikten Trennung von kranker und gesunder Psyche, sondern der kurze politpsychiatrische Lehrgang geht weiter: „Die ausschlaggebende Motivation für die Tat bestand aus einer Durchmischung dieser verschiedenen Phänomenbereiche: Der psychischen Erkrankung auf der einen Seite und der rassistischen Ideologie auf der anderen Seite.“
Ganz unabhängig von der Frage, was eigentlich genau hier unter einem Phänomenbereich zu verstehen ist – im Übrigen ein Begriff, den auch der Duden nicht kennt –, hat diese kryptische Durchmischung sich im vorliegenden Fall offenbar besonders ungünstig auf die Tatmotivation ausgewirkt. Man hätte ja auch erwarten können, dass bei einer Durchmischung von krank und nicht krank etwas lediglich Halbkrankes oder vielleicht auch bloß nicht mehr ganz Gesundes resultiert, aber: weit gefehlt. Zu allem Überfluss kam es auch noch, wie wir oben erfahren haben, zu einer „Selbstverstärkung“, wobei auch hier offen bleibt, wer wen wie genau verstärkt haben soll.
Wie dem auch sei. Wir haben es hier eindeutig mit einer erheblichen argumentativen Herausforderung zu tun, was auch nicht verwundert, geht es doch fast um so etwas wie die Quadratur des Kreises, nämlich eine überzeugende Antwort auf die Frage: Wie kann es gelingen, trotz einer schweren episodischen paranoiden Schizophrenie des Täters, eine davon gänzlich unabhängige Entwicklung von frei gewählten rassistischen Überzeugungen plausibel zu begründen?
Die Rolle des psychiatrischen Sachverständigen
Der bereits im März 2020 vom GBA mit einem Gutachten über T. R. beauftragte psychiatrische Sachverständige Prof. Henning Saß machte mit seinem Auftritt vor dem Ausschuss es diesem nicht so richtig leicht, zu der politisch erwünschten Schlussfolgerung zu kommen. Des Psychiaters Argumentation ist vielleicht doch etwas zu gewunden für Politiker, vor allem, wenn sie bereits eine feste Meinung zu dem Thema haben. So stellt er unter Bezugnahme auf sein Gutachten zunächst völlig korrekt fest, dass das „motivationale Steuerungssystem“ des Täters durch die Schizophrenie „schwerst krankhaft verformt“ gewesen sei und deshalb die Schuldfähigkeit „aller Wahrscheinlichkeit nach“ – das bedeutet hier in der Gutachtersprache: frei von vernünftigen Zweifeln – aufgehoben gewesen sei.
Also, ein schwer erkrankter, schuldunfähiger Schizophrener, der gleichwohl sich auch wesentlich oder gar überwiegend von nicht-krankhaften, sondern rassistischen Motiven bei seiner Tat hat leiten lassen? Ist so etwas hier wirklich möglich? Man muss wahrscheinlich schon ein so altgedienter und versierter psychiatrischer Gutachter wie der knapp 80-jährige Prof. Henning Saß sein, um im Fall T. R. argumentativ halbwegs unfallfrei an der passenden Stelle noch in Richtung politischer Erwünschtheit abbiegen zu können.
Sehr frühe Festlegung von Seehofer und GBA
Bei Übernahme des Gutachtenauftrages war die Position des GBA in dieser Angelegenheit bereits klar. Er hatte sich schon am Tag nach der Tat ebenso eindeutig positioniert wie sein damaliger weisungsbefugter Vorgesetzter, Innenminister Seehofer – gefolgt von allen Mainstream-Medien: Das Attentat von Hanau ist rassistisch motiviert – Punkt. Dieser Linie ist der GBA bis heute treu geblieben.
In seiner abschließenden Erklärung zur Einstellung der Ermittlungen vom 16.12.2021 wird das Gutachten von Saß mit keinem Wort erwähnt, sondern nur lapidar festgestellt: „Als Ergebnis der Ermittlungen ist festzuhalten, dass Tobias R. (seine Taten) aus einer rassistischen Motivation heraus“ begangen habe. Das steht in dieser Ausschließlichkeit natürlich in einem deutlichen Gegensatz zu der Feststellung von Saß, dass beim Täter ein schwerst krankhaft verformtes motivationales Steuerungssystem vorgelegen habe. Aber Differenzierungen machen politische Botschaften eben nicht klarer, sondern verwässern sie nur.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass Saß inzwischen zumindest ein bisschen abgerückt ist von den in seinem schriftlichen Gutachten doch vollmundiger vorgetragenen Feststellungen, die seinerzeit bereits von mir ausführlich gewürdigt wurden. Es bleibt aber das grundlegende Problem seiner Argumentation, auf sehr luftigen Indizien zu basieren. Um tatsächlich unabhängig von der schweren psychischen Erkrankung – und darum geht es hier ja – rassistische und fremdenfeindliche Überzeugungen entwickeln zu können, wäre der überzeugende Nachweis einer vollständigen und anhaltenden Rückbildung der Schizophreniesymptomatik einschließlich weitgehend fehlender, krankheitsbedingter Persönlichkeitsveränderungen für die Jahre vor der Tat zwingend erforderlich gewesen. Also so etwas wie eine vollkommene Genesung.
Allerdings ist bei einer rezidivierenden, nie behandelten paranoiden Schizophrenie ein solcher Krankheitsverlauf ein seltenes Ereignis. Dass T. R. bis Ende 2018 über mehrere Jahre seinen Lebensunterhalt selbst verdiente, mag zwar ein gewisses Indiz für einen zwischenzeitlich eher günstigen Krankheitsverlauf sein. Eine solche Einschätzung wird aber sehr stark infrage gestellt durch mehrere Hinweise auf gravierende Auffälligkeiten von T. Rs. Persönlichkeit, die eindeutig auf für Schizophrenie typische Restsymptome und/oder Persönlichkeitsveränderungen hinweisen. Und die damit eine tatsächlich krankheitsunabhängige, sozusagen frei gewählte rassistische Weltanschauung in das Reich nicht überzeugend zu belegender Hypothesen verweisen.
Wenn Gesinnung die Urteilskraft vernebelt
In einem gewissen Gegensatz zu Saß’ o.g. Feststellungen einer „aller Wahrscheinlichkeit nach“ aufgehobenen Schuldfähigkeit ist in der Zusammenfassung des Abschlussberichts lediglich von einer „zumindest erheblich vermindert(en), wenn nicht gar aufgehoben(en) Schuldfähigkeit“ die Rede. Aber das ist nicht die einzige Relativierung. Die als Sachverständige geladene Juristin Prof. Dr. Bannenberg, Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Gießen mit dem Schwerpunkt Amoktatenprävention, liegt ebenfalls daneben, wenn sie feststellt, dass T. R. „relativ klar paranoid schizophren war“. Aha, relativ klar, also etwa: Es spricht einiges dafür, aber eben auch einiges dagegen. Tatsächlich verhält es sich so, und daran hat auch Saß letztlich keine Zweifel gelassen, dass aus fachlicher Sicht nichts, aber auch absolut nichts, gegen die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie spricht. Es gibt auch keine psychiatrische Diagnose, die hier alternativ auch nur im Entferntesten zu erwägen wäre.
Diese eher gefühlige Skepsis von Prof. Bannenberg wird deutlich getoppt von der Aussage der in der Tatnacht zuständigen, mittlerweile im Ruhestand befindlichen Oberstaatsanwältin. Mit der Sichtung des von T. R. online gestellten Videos habe sich für sie die rassistische Motivlage der Tat endgültig bestätigt: „Wie gesagt: Ein erster Verdacht hat sich relativ früh ergeben, als wir gesehen haben, wer die Opfer sind. Als wir dann die Videos angesehen haben, da bestand eigentlich kein Zweifel mehr, dass rassistische Motive und einfach auch ein völlig wirres Weltbild zugrunde gelegen haben. (…) Also, eindeutig rassistische Motive (…) Es war klar – also natürlich nicht restlos, aber weitestgehend klar –, dass das auch die Motivlage für den Anschlag selbst war, den er begangen hat.“
Wenn Rechtsextremismus skurril wirkt
Die Ex-Oberstaatsanwältin bezieht sich hier vor allem auf das sogenannte Begründungsvideo des T. R., das dieser bereits am 7. Dezember 2019 ins Netz gestellt hatte und das kurz nach der Tat vom Netz genommen wurde. Sie steht mit ihrer Bewertung keinesfalls allein. So schrieb z.B. die MOZ.de damals unter dem Titel „Ein Video von dem Attentäter in Hanau belegt sein rechtsextremes Weltbild“ unter anderem Folgendes: „Beinahe skurril wirkt das YouTube-Video, in dem er in flüssigem Englisch die ‘Bürger Amerikas‘ davor warnt, dass sie unter der Kontrolle einer unsichtbaren geheimen Gesellschaft stünden. In Untergrundbasen werde dem Teufel gehuldigt, dort würden kleine Kinder missbraucht, gefoltert und getötet. Er fordert seine Zuschauer auf, die Mainstream-Medien zu ignorieren und gegen diese Orte vorzugehen. ‘Es ist Ihre Pflicht, als amerikanischer Bürger, diesen Alptraum zu beenden. Kämpfen Sie jetzt’.“
Können nach diesem Video tatsächlich noch irgendwelche Zweifel daran bestehen, dass es sich bei T. R. um einen typischen Fall von Rassismus und Rechtsextremismus handelt? Auch der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages hatte da keine weiteren Fragen an die Oberstaatsanwältin.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im zivilrechtlichen Bereich.