Wo gibt es eigentlich eine rote Linie für das Zurückweichen einst freier westlicher Gesellschaften vor den Zumutungen eines Despoten, wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan? Das Theater um das Schmähgedicht von Jan Böhmermann konnte, wer es wollte, ja noch als überdrehte Realsatire ansehen und darüber lachen. Wenn sich die deutsche Justiz nun mit allerhöchstem Segen um Majestätsbeleidigung kümmern muss, so ist das sicherlich skurril, aber man kann auch im Umgang mit verstaubten Paragraphen wahrscheinlich noch auf den Rechtsstaat vertrauen.
Die Bilder von Berliner Polizeibeamten, die einen Mann nur deshalb abführen, weil er auf einer kleinen Demonstration vor der türkischen Botschaft eine Zeile aus ebenjenem Böhmermann-Textchen rezitierte, können sensiblere Gemüter vielleicht etwas verstören, aber mit genug gutem Willen kann man sie auch noch in das Fach Realsatire packen. Rote Linien auf dem Weg zu Selbstaufgabe und Unterwerfung muss hier noch nicht zwingend erkennen, wer sich vorgenommen hat, das alles nicht so ernst zu nehmen.
Schlechter schönreden lässt sich das Einreiseverbot für den ARD-Korrespondenten Volker Schwenck, der stundenlang auf dem Istanbuler Flughafen festgehalten wurde. Und bei der Leugnung eines Völkermordes sollte einem das Lachen vollends vergehen. Aber es ist ja zum Glück diesmal nicht die Kanzlerin, sondern die EU-Kommission, die die Unterwerfung unter den Möchtegern-Sultan so weit treibt, dass sie aktive Beihilfe zur Leugnung eines Völkermordes zu leisten bereit ist.
Beihilfe zur Völkermord-Leugnung
Genau diesen Tatbestand erfüllt der Umgang der EU mit dem von ihr bisher geförderten Konzertprojekt „Aghet“. Die Dresdner Sinfoniker wollen damit, zusammen mit anderen Musikern, an den Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren erinnern. Grund genug für die türkische Regierung, ihren Botschafter bei der EU mit der Forderung in Marsch zu setzen, die EU möge ihre Förderung für das Konzertprojekt sofort einstellen, wenn hier von einem Genozid die Rede ist. Mit 200.000 Euro unterstützt die EU-Kommission bislang die eigens erarbeitete Gedenkkonzertreihe der Dresdner Sinfoniker.
Dass die Türkei fordert, diesen Völkermord des Osmanischen Reiches nicht so zu nennen und am besten völlig unerwähnt zu lassen, ist nicht neu. In den vergangenen Jahren sind türkische Botschafter immer wieder in dieser Frage vorstellig geworden. So versuchte die Türkei seinerzeit schon vehement aber erfolglos, die Eröffnung des Lepsiushauses in Potsdam zu verhindern, in dem an das Wirken des Theologen Johannes Lepsius erinnert wird, der als Zeuge vor Ort den Völkermord an den Armeniern dokumentiert hatte und bei Entscheidungsträgern wie auch in der Öffentlichkeit immer wieder für die Sache der Armenier eintrat. Im Streit um das Lepsiushaus argumentierte der türkische Botschafter übrigens, die vielen in Deutschland lebenden Türken könnten sich provoziert fühlen. Ähnlich klang es, als vor etlichen Jahren der Völkermord an den Armeniern in den Schullehrplänen des Landes Brandenburg mehr Raum bekommen sollte als zuvor. Auch hier kümmerte sich der Botschafter und versuchte den Lehrplan entschärfen zu lassen.
Seit Jahrzehnten engagieren sich Regierungsvertreter der Türkei überall in der Welt, um das Gedenken an den Völkermord möglichst zu unterbinden. Jeder Staat, der den Genozid als solchen offiziell anerkannte, erlebte von türkischer Seite massive Proteste, Drohungen und Boykottaufrufe. Der Deutsche Bundestag hat sich daher bislang zu keinem entsprechenden Beschluss durchringen können.
Erpressbarkeit wird schamlos ausgenutzt
Jetzt fühlt sich Erdogans Türkei natürlich noch viel mächtiger gegenüber einer EU, die sich bereitwillig erpressbar gemacht hat, in der Hoffnung, der Despot aus Ankara und seine islamistische Regierung würden diese Erpressbarkeit schon nicht allzu schamlos ausnutzen. Eine naive Hoffnung, wie sich nun beinahe täglich zeigt, aber statt vom Irrweg abzuweichen, zeigen sich Institutionen, die einmal „europäische Werte“ hochzuhalten vorgaben, stattdessen zu immer stärkerer Unterwerfung bereit.
Das hat nun auch der Intendant der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt, erfahren müssen, denn die türkische Forderung wurde in Brüssel nicht etwa empört als Versuch ungehöriger Einmischung in die EU-Kulturförderung abgewiesen, sondern im Gegenteil: Man versucht dem türkischen Ansinnen nachzukommen.
Intendant Rindt erklärte in Dresden, dass zwar die finanzielle Unterstützung für das Musikprojekt bislang nicht in Frage gestellt wurde, doch habe die EU-Kommission das Orchester gebeten, einige Textstellen abzumildern und das Wort „Genozid“ zu streichen. Die EU selbst nahm einen Werbehinweis für das Projekt von ihren Websites. Eine Sprecherin der EU-Kommission bestätigte die Entfernung des Projekthinweises. Dies sei „vorübergehend“ erfolgt, um in der Zwischenzeit mit den Projekt-Veranstaltern über eine „neue Formulierung“ zu diskutieren. Markus Rindt sieht keinen Grund dazu: „Man muss beim Namen nennen, was es war“, sagt der Intendant, „Wir können nicht drum herumreden, dass es um Völkermord geht.“ Doch genau das möchte die EU-Kommission aus Rücksicht auf die Türkei jetzt tun und das ist Beihilfe zur Völkermord-Leugnung.
Nun ist das zwar keine Straftat, doch eine rote Linie ist damit nun wohl überschritten, oder? Das Signal, wer öffentlich gefördert werden will, sollte von diesem heiklen Thema lieber die Finger lassen, dürfte überall im Kulturbetrieb angekommen sein. Gibt es deshalb gerade einen allgemeinen Aufschrei? Im Vergleich zur Diskussion um das Erdowahn-Liedchen von extra3 und der Aufregung um Böhmermann ist das Echo schon sehr verhalten. Setzt jetzt langsam die Gewöhnung an die beinahe alltäglichen Zumutungen der Erdogan-Führung und das ständige Nachgeben ein?
Gewöhnen wir uns schon an die Zensur?
Das sollte niemanden verwundern, denn die kleinen Machtdemonstrationen, die dem Westen zeigen sollen, dass Kritik am Erdogan-Regime nicht länger straflos geduldet wird, gibt es mittlerweile jeden Tag. Jüngste Beispiele: Der Fotojournalist Giorgos Moutafis, der für Bild arbeitet, erhielt Einreiseverbot in die Türkei und gegen die zeitweise festgenommene türkischstämmige niederländische Journalistin Ebru Umar wird ermittelt. Sie darf die Türkei nicht verlassen, obwohl sie nur als Urlauberin ins Land kam. Umar wohnt in den Niederlanden. Den Unmut der türkischen Herrscher hat sie mit einem Bericht auf sich gezogen, in dem sie zeigte, wie das türkische Konsulat in Rotterdam Auslandstürken systematisch dazu aufforderte, Erdogan-Gegner bei der diplomatischen Vertretung zu denunzieren.
Den Bereich der Satire haben wir nun leider endgültig verlassen. Doch wie beendet man diese Zeilen trotzdem ohne in Niedergeschlagenheit zu verfallen? Vielleicht mit einer Konzertempfehlung: Die nächste Aufführung von „Aghet“ ist für den 30. April um 20 Uhr im Festspielhaus Hellerau in Dresden angekündigt. Weitere Informationen dazu hier.
Zuerst erschienen auf: http://sichtplatz.de/?p=5848