Tobias Kaufmann / 27.11.2006 / 10:28 / 0 / Seite ausdrucken

Auszeit in Nahost

Die Stunde des Gerichts wird nicht kommen, bevor Muslime nicht die Juden bekämpfen und töten, so dass sich die Juden hinter Bäumen und Steinen verstecken, und jeder Baum und Stein wird sagen: O Muslim, o Diener Allahs, ein Jude ist hinter mir, komm und töte ihn!“ Es ist nicht erbaulich, in der Charta der Hamas-Bewegung zu lesen. Und doch hilft es manchmal, wenn man die Chancen für Frieden zwischen Israel und den Palästinensern realistisch bewerten will. Auch die am Sonntag verkündete Waffenruhe ist kein Grund zur Euphorie. Zu oft waren vorübergehende Gewaltpausen nur eine Ruhe vor dem Sturm. Sie wurden von palästinensischen Terrorgruppen gerne dazu genutzt, ihre Arsenale aufzufüllen.

Dennoch ist die Waffenruhe eine Chance, und zwar für beide Seiten. In der israelischen Gesellschaft wachsen die Zweifel an der Militärstrategie der vergangenen Monate, die dem Staat international viel Kritik eingebracht hat. Bisher hat Israel kein Mittel gefunden, den Beschuss des Landes mit Kleinraketen zu stoppen. Auch den im Juli entführten Soldaten Gilad Schalit hat die Armee nicht befreien können. Es ist konsequent, die Verantwortung für beides nun denen zu übergeben, die zuständig sind: den palästinensischen Behörden.

Es geht bei der neuen Waffenruhe nicht um schnellen, ewigen Frieden in Nahost. Es würde schon reichen, eine beherrschbare Situation zu schaffen. Dafür müssen die Waffen schweigen - Provokationen wie den Raketenbeschuss am Sonntag sollte Israel vorerst aussitzen. Vor allem müssen die palästinensischen Behörden die Auszeit nutzen, Politik für ihre Bürger zu machen. Die Hamas hatte die palästinensischen Wahlen gewonnen, weil sie ein Ende der Korruption und ein besseres Leben für die Menschen versprach. Beides ist nicht eingetreten. Der Versuch, dafür das Ausland verantwortlich zu machen, das der Regierung den Geldhahn abgedreht hat, geht fehl. Für Munition, Raketen und Bombengürtel ist genug Geld da. Warum nicht für die Müllabfuhr?

Es gibt in der Hamas durchaus Realpolitiker, die solche Fragen stellen. Aber ob sie den Einfluss haben, aus einer begrenzten Waffenruhe eine politische Neuorientierung werden zu lassen?

Zeitgleich hat der Exil-Chef der Hamas-Bewegung, Khaled Meschal, mit dem totalen Zusammenbruch der Ordnung und einer dritten Intifada gedroht. Dass sich Steine und Bäume gegen „die Juden“ stellen werden, ist unwahrscheinlich. Fest steht aber, wer den Preis zahlt, wenn solche Fantasien weiter die Realität bestimmen: die Palästinenser.

Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger, 27.11.06

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Tobias Kaufmann / 17.12.2012 / 10:21 / 0

Das Waffenrecht ist schuld. Und was noch?

Waffenlobby wie Waffengegner versuchen das Massaker von Newtown für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Doch weder zusätzliche Waffen zum Schutz noch ein verschärftes Waffenrecht allein lösen…/ mehr

Tobias Kaufmann / 30.11.2012 / 11:16 / 0

Abbas, die Uno und der Frieden

Juhu! Die Palästinenser sind beobachtendes Mitglied der Vereinten Nationen! Mahmud Abbas schließt Frieden mit Israel und endlich kriegen die Palästinenser ihren Staat! Oder doch nicht. / mehr

Tobias Kaufmann / 13.11.2012 / 14:28 / 0

Die Palästinenser, das vergessene Volk

Was ist eigentlich aus den Palästinensern geworden? Ein Kommentar. / mehr

Tobias Kaufmann / 18.09.2012 / 10:35 / 0

Das Recht auf Provokation

Nach knapp einer Woche Terror und Gewalt wegen eines miesen Films ist es Zeit, die Mulsime in Schutz zu nehmen und ein paar Dinge klarzustellen.…/ mehr

Tobias Kaufmann / 31.05.2012 / 10:09 / 0

Zur Solidarität mit Israel: Warum Gauck sich irrt

Merkel hat in der Knesset gesagt, die von allen bundesdeutschen Regierungen vertretenen Bekenntnisse zu Israels Sicherheit dürften “in der Stunde der Bewährung keine hohlen Worte…/ mehr

Tobias Kaufmann / 12.10.2011 / 10:34 / 0

Schalit kommt frei – Sieg oder Niederlage?

Netanjahu war bis gestern derjenige, in dessen Regierungsperiode Israel von den größten sozialen Protesten seiner Geschichte und dem Umbruch im Nahen Osten gebeutelt wurde. Nun…/ mehr

Tobias Kaufmann / 26.07.2011 / 14:05 / 0

Der Mord ist kein Symptom

Hat ein wahnsinniger Einzeltäter in Norwegen mehr als siebzig Menschen getötet, oder ist Anders Breivik nur der bewaffnete Arm von Wilders, Sarrazin und PI-News? Meine…/ mehr

Tobias Kaufmann / 27.06.2011 / 13:44 / 0

Gilad Schalit, Geisel zwischen den Fronten

Ich hätte eine Wette abschließen sollen, wie lange es wohl dauert, bis der erste antisemitische Kommentar unter meiner sachlichen Zusammenfassung zum Fall Gilad Schalit erscheinen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com