Rainer Bonhorst / 15.12.2016 / 10:55 / 1 / Seite ausdrucken

Als England nach deutscher Musik süchtig war

Politik ist nicht das ganze Leben. Nicht mal das halbe. Wie erholt man sich von der Politik? Mit Musik zum Beispiel. Darum hier mal ein paar Zeilen über ein Sinfoniekonzert, das ich gerade in Augsburg besucht habe. Es trug den Titel: Britain's got Talent. Ein etwas merkwürdiger Titel in einer Zeit der Beatles, Rolling Stones und ihrer Nachfolger. Wieso muss man angesichts der weltweit erfolgreichen Musik aus England überhaupt darauf hinweisen, dass die Briten musikalisches Talent haben? Weiß doch jeder.

Im etwas erhabeneren Zirkel der E-Musiker sieht, oder besser: sah die Sache ein bisschen anders aus. Das zeigte bereits das erste Stück des Konzerts. Dieses Stück englischer Musik war nämlich nicht von einem Briten sondern von dem Österreicher Joseph Haydn. Es war die Sinfonie 102, eine seiner zwölf Londoner Sinfonien. Haydn war in England ein Superstar und er fühlte sich in London pudelwohl. Er schrieb: „Meine Ankunft verursachte großes Aufsehen durch die ganze Stadt. Jedermann ist begierig, mich zu kennen.“ Und über ein Konzert im Haymarket Theater schrieb er: „Ich machte an diesem Abend 4000 Gulden. Sowas kann man nur in England machen.“

Haydn ging 1791 nach England und kam in den folgenden Jahren noch zweimal zu längeren Aufenthalten nach London. Er schwärmte für die Musikstadt und die Londoner schwärmten für ihn. George III wollte ihn überreden, in England zu bleiben, und bot ihm einen Platz im Windsor Castle an. Wien erwies sich dann aber doch als anziehender.

Friedrich Händel wurde zum adoptierten Engländer

Einen wie Haydn haben die Briten selber nicht hervorgebracht. Vor seiner Zeit brachten es Männer wie William Byrd und Henry Purcell zu meisterlichen Werken. Aber dann machten die Briten in der großen Musik eine große Pause.

Auch in der Barockzeit lebte die englische Musik vor allem von einem aus Deutschland importierten Meister. Friedrich Händel wurde nach langer musikalischer Wanderschaft schließlich zum adoptierten Engländer. Die Briten waren geradezu süchtig nach ihrem „Handel“ und seiner Wassermusik, seinen Oratorien und vor allem seinen Opern. Er blieb in London bis zu seinem Tod.

Die Briten waren begeisterte Opern-Genießer, aber das Opern komponieren war wohl nicht ihre Sache. George Bernard Shaw schrieb, die Engländer hätten nun mal für Opern „kein bisschen Begabung“. Und diesen Mangel an Opernbegabung nannte er „ein großartiges Verdienst ihres Nationalcharakters“. Offenbar hielt Shaw von Opern genauso wenig wie Helmut Schmidt.

In dem Konzert, das ich besuchte, wurde es dann aber doch genuin englisch. Es gab Edward Elgars phantasievolle Enigma-Variationen. Der Mann ist sonst eher für „Pomp and Circumstance“ bekannt, dessen „Land of Hope and Glory“ die „Last Night of the Proms“ jedes Jahr zu höchstem musikalischen Patriotismus anfeuert. Elgar steht zusammen mit Frederick Delius für eine Renaissance der englischen Orchestermusik, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stattfand. Es folgte, um einen weiteren Großen zu nennen, Benjamin Britten. Auf einmal war man musikalisch wieder wer.

"Wir brauchen nicht immer nur ganz Großes"

Trotzdem ist es seltsam, dass das Land, das Shakespeare hervorbrachte, musikalisch so unstet war. Mir sagte mal ein Engländer über das zeitweilige Schwächeln der englischen Musik: „Wir Briten lieben die Musik so sehr, dass wir uns auch an der einfacheren Musik erfreuen. Wir brauchen nicht immer nur ganz Großes.“ Diese Freude an der einfacheren Musik ist zumindest heute keine britische Spezialität mehr sondern weltumspannend. Längst beliefert das Königreich die ganze Welt mit seinen lockeren und cleveren Rock- und Pop-Genussmitteln.

Soweit dieser zweifellos laienhafte Blick auf England und seine Musik. Und wer nicht ohne Politik leben kann, der kann diesen Text auch als einen außenkulturpolitischen Beitrag betrachten. Er hat, wenn man so will, sogar eine hochaktuelle Note: Denn diese britische Begabung, in der Musik zugleich gut und easy zu sein, wird auch nach dem Brexit ein Exportschlager bleiben.

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Arnauld de Turdupil / 15.12.2016

Ein weiterer deutscher Export-Musikus und Zeitgenosse Haydns war Friedrich Wilhelm Herschel (geb. 1738 in Hannover, gest. 1822 in Slough). Berühmt wurde Herschel allerdings nicht durch seine Musikwerke/Interpretationen, sondern durch die Entdeckung des ersten Planeten, der nicht schon im Altertum bekannt war: Im Jahre 1781 erblickte er durch sein Teleskop den (später) Uranus genannten Planeten und auch noch zwei Monde dieser neuen Welt. Wie sich die Zeiten ändern; damals exportierten die deutschen Lande vielseitig begabte Fachkräfte, heute werden sie importiert…

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