Wer rettet die Deutschen vor sich selbst? 

Mehr als all die prekären Akademiker, die uns heute in Deutschland regieren, wären verantwortungsbewusste Bürger in der Lage, die längst ideologisierte Weltoffenheit um eine notwendige Realitätsoffenheit zu ergänzen. 

Deutschland will weder länger ein Nationalstaat, der für seine eigenen Interessen eintritt, noch ein verlässlicher Verbündeter in der EU und NATO sein. Die global denkenden Eliten Deutschlands fühlen sich weniger ihrem Land und ihren Bündnissen als der „Einen-Welt“ verpflichtet. Ihre nationale Identität liegt im gemeinsamen Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen. 

Bereitwillig opfern sie Partikularinteressen von Autoindustrie und Energieverbrauchern. Rechte der Staatsbürger werden „den Menschenrechten“ untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl gilt die Kardinaltugend der „Weltoffenheit“. Die Bejahung offener Grenzen war die Grundlage für das Bündnis von Global Playern der Wirtschaft mit dem global agierenden Humanitarismus der Nichtregierungsorganisationen. Das Outsourcing der einen ist die freie Zuwanderung der anderen. 

Dem Anspruch auf Zukunftsfähigkeit fiel die Gegenwartsfähigkeit zum Opfer: vom Niedergang der Infrastruktur und der öffentlichen Verwaltung bis zum fehlenden Hochwasserschutz im Ahrtal. Angesichts eines hochmütigen globalen Engagements – nur 0,8 Prozent der Menschheit sind Deutsche – blieb kein Geld mehr für die Sanierung von Brücken. Die Deutschen begleichen die Rechnungen weiter, aber die Spaltung nach Global und Local Playern, zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Globalität wird immer größer. Längst ist auch der ortsgebundene Mittelstand dem Global Player „Amazon“ schon deshalb nicht mehr gewachsen, weil sie ihre Steuer nicht europaweit optimieren können. Die sozial-kulturelle Spaltung verläuft nicht zwischen „Links und Rechts“, wie es die Altideologen gerne hätten, sondern zwischen mobilen Anywheres und den gebundenen Somewheres, 

Die ersten Rettungsversuche vor dem Globalismus reichen vom Wutbürgertum der Gelbwesten und Donald Trumps bis hin zur Flucht der Brexiter aus der europäischen Solidarität. Bei ihnen handelte es sich nur um Antithesen. Statt neuer Absprachen in westlichen Bündnissen zogen sie bloß die nationale Karte. Von der Utopie zur Regression – dazwischen sollte es mittlere internationale Wege geben. 

Kaum ein Land scheint Deutschland folgen zu wollen

Die gemeinsame Suche in demokratischen Diskursen bleibt aber aus, weil die Ängste vor der Weltoffenheit diskreditiert wurden. Über dieses Diskursversagen wird die „offene Gesellschaft“ – statt gegenüber ihren äußeren Feinden – nur gegenüber denjenigen verteidigt, die mehr Protektion einfordern. Die ausbleibende demokratische Willensbildung treibt die innergesellschaftliche Polarisierung voran.     

Sowohl mit dem Ausstieg aus der Kernenergie als auch mit immer neuen Maßnahmen gegen den Klimawandel gehen die deutschen Apokalyptiker „voran“. Doch kaum ein Land scheint ihnen folgen zu wollen. Wenn fast ein Drittel des weltweiten CO2-Ausstoßes auf das Konto Chinas geht, ist die Verbesserung der deutschen Energiebilanz vergeblich, schlimmer noch, sie verschlechtert nur die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Als selbsternannte Avantgarde bezahlen wir dafür mit den höchsten Energiepreisen der Welt – und mit weiteren Dekonstruktionen der Industriegesellschaft. Wenn endzeitliche Klimaaktivisten die Straßen mit sich verstopfen, hindern sie die arbeitenden Menschen an der Ausübung ihrer gegenwärtigen Pflichten.   

Die Paradoxie des National-Globalismus wird mit der Ernennung der Greenpeace-Chefin zur Staatsekretärin im deutschen Auswärtigen Amt auf den Punkt gebracht: Ihr Auftrag ist es, statt deutsche Interessen mit den internationalen Lasten des Klimaschutzes abzugleichen, nationale Interessen dem globalen Klimaschutz unterzuordnen. 

Die Europäische Union wurde auch über die freiwillig vorangetriebene Energie-Abhängigkeit zu Russland übergangen. Ein „Aus für Nord Stream 2“, wie es die Außenministerin Russland in der Ukraine-Krise meint androhen zu können, würde für Deutschland den Energie-Blackout bedeuten. Der Preis der Unabhängigkeit von Kern- und Kohlekraftwerken ist eine umso größere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Der deutsche Sonderweg hat uns in der Grenz-, Energie- und Außenpolitik zum Geisterfahrer des Westens gemacht. 

Traum von globalen herrschaftsfreien Diskursen 

Wem nützt der Globalismus? Die Globalisierung hat die Welt nicht freier gemacht. In ihrer naiven Form wurde sie vielmehr von autoritären Regimen dazu ausgenutzt, ihre Macht sowohl gegenüber den eigenen Bürgern als auch gegenüber dem Westen zu stärken. Auch die Ursachen der endlosen Misserfolge in der Entwicklungshilfe für Afrika – die korrupten Oligarchien in diesen Ländern – werden von Globalisten nicht thematisiert. dies würde nämlich sowohl die eigenen Illusionen von einer globalen Gleichheit als auch die Geldflüsse für eigene Projekte behindern. 

Für Differenzierungen ist das globale Denken wenig geeignet. Unterscheidungen nach Qualifikation und Herkunft von Zuwanderern sind bereits „Rassismus“, obwohl sie in Wirklichkeit den Unterschied für Arbeitsmarkt und Sozialstaat ausmachen. In der „Einen-Menschheit“ gelten alle Kulturen als gleich, und wenn und wo noch nicht, muss dies an unserer Unterdrückungspraxis liegen. Ein fast schon anthroposophisch geprägter Multilateralismus träumt von globalen herrschaftsfreien Diskursen. 

In einer nicht globalen, sondern multipolaren Welt wird hingegen mehr Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung gefordert sein. Statt globaler Gleichheit und Gemeinsamkeit bräuchte eine von Gegensätzen durchzogene Welt den Aufbau neuer realistischer Gegenseitigkeiten. 

Die sich in Folge der Corona-Pandemie beschleunigende Deglobalisierung hat schon einiges zurechtgerückt. In einer zuvor hemmungslos entgrenzten Staatenwelt mussten immer mehr innere Grenzen gezogen werden. Unterbrochene Lieferketten lehren uns mehr Vorsicht. An einem selektiven Protektionismus – vornehmlich im Rahmen des europäischen Binnenmarktes – führt zumindest bei lebenswichtigen Produkten kein Weg mehr vorbei.   

Die Neigung zu romantischen Überhöhungen der Realität

Der deutsche Globalismus hat sich in so tiefe Widersprüche verstrickt, dass uns nur noch gute Freunde daraus befreien können. Etwa die EU-Kommission, die die Kernenergie neuerdings als „grüne Technologie“ einstuft. Auch die spezifisch deutsche „Willkommenskultur“ wird von den europäischen Nachbarländern nicht geteilt. Die Ampelregierung will illegale Zuwanderung nicht bekämpfen, sondern legalisieren, die anderen europäischen Staaten fühlen sich hingegen auch ihren Nahinteressen verpflichtet.  

Auch hinsichtlich Migration- und Integration läge der mittlere Weg zwischen Nationalismus und Globalismus in kontrollfähigen europäischen Grenzen und in einem gemeinsamen Asylgesetz. Der europäische Binnenmarkt sollte dort Schutzräume bieten, wo sie zum Aufbau fairer Gegenseitigkeiten mit China notwendig sind. Die europäische Solarenergie wäre damit vielleicht zu retten gewesen. 

Die Europäische Union darf ihrerseits nicht mehr den Agenten der Globalisierung geben und die Aufhebung von nationalen Schutzsystemen fordern. „Ein Europa, das uns schützt“, müsste mehr Dezentralität nach innen gestatten und umgekehrt mehr Einheit und Stärke nach außen zeigen. Die Europäer müssen den Deutschen die Neigung zu romantischen Überhöhungen der Realität ausreden und sie – wie einen Betrunkenen – auf sicherere Wege zu lenken versuchen. 

Die uns in Aussicht gestellte „feministische Außenpolitik“ und ähnliche Narreteien sind angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine in ihrer Realitätsferne widerlegt. Zu einem unfreiwilligen Retter des romantisch-dekadenten Deutschlands und des Westens überhaupt könnte ausgerechnet der ruchlose Putin werden. Indem er die Fehler und Schwächen des Westens gnadenlos ausnutzt, deckt er sie auch auf. Die Kritik des Inspekteurs des Heeres der Bundeswehr an der jämmerlichen Ausstattung der Bundeswehr hätte noch vor einigen Wochen dessen sofortige Entlassung zur Folge gehabt.  

Der „Weltbürger“ ist ein Widerspruch in sich

Putins Krieg in der Ukraine wird die Zeit des Kalten Krieges wiederaufleben lassen, die gefährlich war, aber den Effekt hatte, dass sich die Staaten und Menschen noch am Riemen rissen. Mit einem ideologischen Todfeind – schon oft wenige Kilometer weiter im Osten – konnten wir es uns schlichtweg nicht leisten, uns in aberwitzigen Sprachspielereien zu verlieren und die Realität vorsätzlich auszublenden.  

Die Europäer können es sich nicht mehr lange leisten, die Gesetze der Evolution zu ignorieren. Der „Weltbürger“ ist ein Widerspruch in sich. Bürger kommt von Burg. Der heute allerdings geforderte glokale Bürger wäre zugleich Patriot, Europäer und Atlantiker. Er würde sich statt nur dem Weiten auch wieder dem Nahen – seiner Umwelt – widmen. 

Und auf die Straßenschläue der „kleinen Leute“, die sich im Gegensatz zu den meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes schon in ihrem Alltag zu behaupten haben, können Demokratien nicht länger verzichten. Mehr als all die prekären Akademiker, die uns heute in Deutschland regieren, wären verantwortungsbewusste Bürger in der Lage, die längst ideologisierte Weltoffenheit um eine notwendige Realitätsoffenheit zu ergänzen. 

Dieser Text erschien zuerst in der NZZ. 

 

Prof. Dr. Heinz Theisen ist Politikwissenschaftler. Ende März erscheint sein Buch „Selbstbehauptung. Warum der Westen und Europa sich begrenzen müssen“, Lau-Verlag 

Foto: Diverse via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Peter Bernhardt / 28.02.2022

Deutsche, verblendete und entwurzelte Mucker-Moralisten, sind miefige Nichtschwimmer, die Ertrinkende retten wollen.

Holger Kammel / 28.02.2022

“Die Klügeren verstanden “Weltbürger” immer nur als Kontrapunkt zu regionaler Beschränktheit, die Fanatiker wollten schon damals aus der Welt ein Dorf machen.” Arne, dieser Satz ist sehr richtig und sehr gut. Das Recht auf Eigenständigkeit kann umschlagen in stupide Fremdenfeindlichkeit. Das Gegenteil, der Multikulturismus kann noch üblere Folgen haben. Das erleben wir gerade.  Das Gedenken an Hanau, die Tat eines offensichtlich wahnsinnigen Amokläufers wird zum offenen antideutschen Rassismus mißbraucht. Die in Kriminalstatistiken ablesbare rassistische Gewalt gegen Deutsche ist nicht existent. In der “Zeit” wurde wieder ein derartiger rassistische Hetzartikel veröffentlicht. Von dem kleinen Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof, von den Opfern des Breitscheidtplatzes, von Würzburg, von dem Massaker in Marseille und im Bataclan keine Rede. Mich kotzt diese Sebstgerechtigkeit an. Raus mit diesen islamistischen U-Booten aus diesem Land.

sybille eden / 28.02.2022

Die verkommene und verkrustete Parteienoligarchie verhindert jede Veränderung. Diese Machtstruktur wird uns unweigerlich in einen neuen Faschismus führen. Es sei denn der “Bürger” schafft sie ab. Der Weg dahin wäre eine massive Wahlverweigerung, denn mit 90%  Nichtwählern hätte sich dieses System wohl erledigt.

Klaus Biskaborn / 28.02.2022

Hervorragender Text! Nur ist in Deutschland keinerlei Veränderung der aktuellen Ideologie, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrängt, zu erwarten, definitiv nicht! Warum, weil alle lieber beim Irrsinn dabei sein wollen, ihn als solchen nicht erkennen wollen. Deutschland ist ein hoffnungsloser Fall!

Dr. Günter Crecelius / 28.02.2022

Niemand, die sind nicht zu retten! Gestern Abend in einer vorgeblichen Satiresendung: einige 40% aller deutschen Krankenhäuser sind inzwischen privatisiert, d. h. Geschäftemachern zur maximalen Profitorientierung übertragen, mit all den bekannten Folgen: schlechte Personalausstattung mit unterbezahltem, ausgebeutetem Personal, unsinnige aber rentable Operationen, notwendige Grundversorgung nicht rentabel, unterbleibt, usw. Aber, und das wurde geflissentlich nicht berichtet: der führende Gesundheitsökonom, der maßgebliche Propagandist dieses Unsinns, dilettiert inzwischen als Virologe, Epidemiologe, Hauptbespaßer in allen Talkshows und schließlich unter allgemeinem Beifall als Gesundheitsminister. Einem solchen Land mit solchen Wählern ist nicht zu helfen, Doofland eben.

Helmut Steinig / 28.02.2022

Wenns man wenigstens Akademiker, wie prekär auch immer, wären, die uns regieren. Die meisten der Spitzenkräfte haben es gerademal bis zur Immatrikulation geschafft. Der Studienabschluß -lags am mangelnden Verstand- blieb auf der Strecke. (z.B. Ricarda Lang, Nouripour, Göring-Eckhardt, Roth, Künert, Ziemiak….....). Das beste Beispiel dafür, daß Ausbildung und politische Ziele für Politbonzen keine Bedeutung haben, ist die schwergewichtige Ricarda Lang von den “Grünen” : Studium nicht geschafft, keine Berufsausbildung, das Äußere, sichtbar für jeden, das Gegenteil dessen, was die “Grünen” propagieren. Oder glaubt jemand, die Ricarda denkt vor der Essensbestellung an VeggieDay, Rohkost und Vegetarisches wie von den Grünen zwecks Schutz der Umwelt, verkündet. Wenn man solche politischen Führungskräfte hat, darf sich niemand wundern , daß es einfach nur berab geht.

Arne Ausländer / 28.02.2022

Ja, Weltbürger ist ein Widerspruch in sich. Aber der Autor ignoriert doch hoffentlich nicht die Ursprünge dieses Begriffs in der sogenannten “Aufklärung” und im ideologischen Gewirr der Freimaurerei. Die Klügeren verstanden “Weltbürger” immer nur als Kontrapunkt zu regionaler Beschränktheit, die Fanatiker wollten schon damals aus der Welt ein Dorf machen - was auch bei intensivsten Einsatz der Guillotinen nicht gelingen konnte. Die Freimaurerei war und ist ein Sumpf mit vielen Blüten, sehr giftige darunter: Von l’Empereur Napoleon über die Bolschewiki, Mussolini, Hitler (über Thule!) bis doch wohl auch zum Zeremonienmeister Klaus Schwab mit seinen verrückten Plänen zu “4. industrieller Revolution” und “Great Reset” und dem unisono verkündeten “Build back better”. Was letzteres im Wortsinn ja nicht schlecht, geradezu notwendig ist. Nur daß hier Worte stets zur Irreführung, als Köder mißbraucht werden.—Viele der genannten Idiotien werden nicht vernünftig, aber in ihrer Intention verständlich, so man sich nur die Mühe macht, all die gar nicht geheimen Strategiepapiere dieser feinen Herren zur Kenntnis zu nehmen, die sie seit vielen Jahrzehnten eifrig verfassen. Vielleicht ist es eine Verschwörung - aber geheim ist sie (in wesentlichen Zügen) ganz und gar nicht.

Gabriele H. Schulze / 28.02.2022

Ja, das ist fast Ironie des Schicksals - W. Putins Aggression als Weckruf gegen deutsche Verbohrtheit und Verstiegenheit.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com