Roger Letsch / 03.12.2023 / 10:01 / Foto: Charles Bird King / 0 / Seite ausdrucken

„Da stehe ich ja nun als blödes Arschloch da“

Ist die Hoffnung berechtigt, dass das letzte Stündlein der woken Olympiade aus Opfergruppen, Mikroaggressionen, gefühlten Rassismen und kulturellen Tabu-Tabus bald geschlagen hat? Eine Episode aus dem woken Westen Amerikas.

Mancher Leser mag einwenden, dass es erst vorbei sein kann, wenn sich die Protagonisten und Tugendwächter einer Welt, der aller Schneid abgekauft und alle Stacheln gezogen sind, gegenseitig an die Kehlen gehen. Doch genau dort leuchtet Hoffnung, wie uns ein köstliches Beispiel aus den USA gerade zeigte.

Im woken Westen, wo Genderqueerness und Equity in Raum und Zeit gegen den imperialen Rassismus des weißen Mannes kämpfen, kann man den größten Zorn auf sich laden, wenn man sich – bewusst oder unbewusst – der kulturellen Aneignung schuldig macht. Ein schwarz bemaltes Gesicht, eine Rasta-Frisur oder „Redskins“ als Name eines Footballteams bringen einem heute mehr als nur eine hochgezogene Augenbraue ein. Da heißt es schnell: „Meine Identität ist nicht dein Kostüm“ – und der anschließenden gesellschaftlichen Ächtung und Vernichtung hat man still und ohne Widerstand beizuwohnen.

Die Sache ist natürlich etwas heikel, weil man nie so genau weiß, wo die Grenze zwischen Empowerment und Anmaßung verläuft. Wenn autogynophile Männer in Damenumkleiden auftauchen und im Frauensport Rekorde und Preise abräumen, gilt das beispielsweise nicht. Das hat man nicht nur zu tolerieren, sondern toll zu finden! Auch weiß man nie genau, ob man in hinreichend vielen hochstehenden Opfergruppen verankert ist, um mit jeder Unverschämtheit davon zu kommen – oder mit jeder Empörung.

Ein Zuschauer der sein Gesicht halb schwarz und halb rot bemalt hat

Die „Washington Redskins“ sind natürlich längst in „Washington Commander“ umbenannt, auch wenn sich nie ein native American (wehe, wenn Sie jetzt Indianer denken, liebe Leser) über den Namen beklagt hat und dieser als Hommage an Mut und Ausdauer jener „First Nations“ gedacht war, die längst von einer verfolgten und an den Rand gedrängten Minderheit zu einer doch recht privilegierten Gruppe aufgestiegen sind.

Es sind natürlich die Medien, die sich zur Lufthoheit über die gemeinte oder auch nur herbeisimulierte Beleidigung/Diskriminierung aufgeschwungen haben, und weil dort oft nicht die hellsten Kerzen arbeiten, jagt man auf der Suche nach der nächsten Empörung gern auf ausgetretenen Pfaden. Das „Blackfacing“, also die mehr oder weniger komplette Simulation eines Hauttons, der nicht der eigene ist, stellt natürlich den Klassiker schlechthin dar. Man muss schon der Premierminister Kanadas sein, um mit so etwas heute sogar mehrfach durchzukommen. Aber da dieser sich ohnehin alle nase lang bei allen möglichen Opfern für alles mögliche öffentlich entschuldigt, steht er auf der Narrenliste. Wenn jedoch der Sportjournalist Carron J. Phillips, der in seinem Berufsleben über American Football berichtet, im Stadion einen Zuschauer entdeckt, der sein Gesicht halb schwarz und halb rot bemalt hat und noch dazu einen Kopfputz aus Federn trägt, welcher Winnetou vor Neid erblassen lassen würde, dann hört der Spaß aber auf, und der Sportexperte holt das ganz große Besteck raus! Die NFL, also die Football-Liga, muss etwas unternehmen!

Was für eine Verächtlichmachung der amerikanischen Ureinwohner! Und weil der Zuschauer eine Hälfte seines Gesichts schwarz gefärbt hatte, beleidigte er die Afroamerikaner gleich mit! Dass schwarz und rot die Teamfarben der Kansas City Chiefs sind, kann ja nicht die Ursache sein, dass sich ein Kind von geschätzt acht bis zehn Jahren das Gesicht bemalt. Und überhaupt kommt Phillips jetzt erst richtig in Fahrt: Warum hat die Stadionkamera dorthin geschwenkt? (Kameramann: schuldig) Wer hat dem Kind das beigebracht? (Eltern: schuldig) Und ist der Name „Kansas City Chiefs“ – der Begriff „Indianerhäuptling“ liegt in der Luft – überhaupt noch zeitgemäß, wo sich die Redskins doch auch nicht gegen ihre Umbenennung gewehrt haben? (Liga: schuldig, Zuschauer: schuldig, Alle: schuldig, schuldig, schuldig).

Der Junge gehöt zum Stamm der Chumash

Die NFL, wo man aus dieser Richtung wohl keinen Schuss erwartet hatte, reagierte mit dem heute üblichen, pauschalen, proaktiven Kotau. „Die NFL steht an der Seite der schwarzen Gemeinschaft, der Spieler, Vereine und Fans. Es ist absolut notwendig, dem systemischen Rassismus mit konkreten und produktiven Schritten entgegenzutreten. Wir werden in unserer Arbeit nicht nachlassen und unsere Anstrengungen verdoppeln, um Katalysatoren für den dringenden und nachhaltigen Wandel zu sein, den unsere Gesellschaft und Gemeinschaften so dringend brauchen.“

Doch lange konnte sich Phillips nicht an seinem Sieg über Rassismus und kulturelle Aneignung freuen, die er und er allein mit seinem Wutausbruch zur Strecke gebracht hatte. Denn die Mutter des Jungen meldete sich via X zu Wort. Ihr Sohn Holden Armenta eigne sich keine Attribute der Native Americans an, er ist Native American. Er und seine Familie gehören zum Stamm der Chumash. Pech für Carron J. Phillips, aber der kleine Holden steht in der geltenden perversen Opfergruppenhierarchie weit über seiner Gehaltsklasse.

Ob Carron J. Phillips den Film „Eine Frage der Ehre“ gesehen hat? Die Stelle, an der Colonel Nathan R. Jessup zu Daniel Kaffee sagt: „Da stehe ich ja nun als blödes Arschloch da“, würde gut in ein Selbstgespräch mit dem eigenen Spiegelbild passen. Doch hatte er eine Wahl? Hätte er nichts über den Jungen und seinen Federschmuck geschrieben, wie könnte Phillips sicher sein, dass nicht jemand anderes im Stadion war, der beobachtete, wie er, Carron J. Phillips, den Jungen sah und nichts dazu sagte? In dieser woken Ideologie ist die Grenze zwischen Ankläger und Angeklagtem ein schmaler Grat.

Der woke Zeitgeist wird – und hier kommen wir zu meiner These vom Anfang zurück – an der eigenen Intoleranz und Freudlosigkeit und daran zugrunde gehen, dass seine Protagonisten nie wissen können, ob sie zu viel oder zu wenig getan haben bei der Bestätigung und Anbetung ihres Narrativs. Auf Dauer ist das nicht auszuhalten, aber zuweilen sehr unterhaltsam.

 

Roger Letsch, Baujahr 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de

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