Chaim Noll / 10.06.2021 / 06:20 / Foto: US Department of State / 32 / Seite ausdrucken

Zwölf Jahre sind genug, sechzehn wären zuviel

In Israel wird das Ende der Ära Netanyahu eingeläutet, durch Bildung einer Regierung ohne ihn. Es hat drei Wahlen gebraucht, bis der alles dominierende Likud-Block beiseite gelassen werden konnte. Benjamin Netanyahu war seit zwölf Jahren an der Macht (ein lange zurückliegender erster Anlauf 1996 nicht mitgezählt). Doch Demokratie lebt von Wechsel und Innovation, nicht von Verfestigung und Erstarrung. Selbst ein erfolgreicher Regierungschef, wenn er zu lange an der Macht ist, wird zur Bürde für sein Land.

Benjamin Netanyahu war einst ein Mann der Veränderung und Bewegung. Er hat 2003 als Finanzminister die bürokratischen Hürden beseitigt und die junge Startup-Szene ermutigt, um Israel auf den Weg zu bringen zu einem weltweit führenden Hightech-Land. In seiner Amtszeit hat Israel den wissenschaftlichen und technologischen Hochstand erreicht, der das trockene, energiearme Land von ausländischen Quellen unabhängig macht. Noch Ende der neunziger Jahre wurde hier ernsthaft diskutiert, ob man Wasser aus der Türkei importieren müsse, heute versorgt Israel mit seiner Meerwasser-Entsalzung und einem in der Welt einzigartigen Recycling-System nicht nur seine eigene stark wachsende Bevölkerung, sondern auch Jordanien und die Palästinensergebiete.

Damals musste Erdgas aus Ägypten importiert werden, heute nutzt Israel eigene Erdgas-Lager an der Mittelmeerküste und exportiert Energie an seine Nachbarn. Der Lebensstandard in Israel ist ungleich höher als vor zwanzig Jahren. Das Land hat ein exzellentes Gesundheitssystem, selbst die Familien der Hamas-Führer lassen sich hier heimlich behandeln.

Die Arbeit seiner Geheimdienste und der Luftwaffe macht es möglich, ein bösartiges, expansives Regime wie das iranische an der Verwirklichung seiner aggressiven Außenpolitik zu hindern, die nicht nur Israel bedroht, sondern auch die arabischen Nachbarn am Persischen Golf. Die sich deswegen Israel zuwenden wie einem Beschützer. Die Liste der Erfolge des vergangenen Jahrzehnts ist lang. Trotzdem finden viele Israelis, nach zwölf Jahren brauche das Land dringend einen Wechsel.

Die Verschiedenartigkeit dieser Koalition ist verblüffend

Dazu haben sich, mit Billigung einer knappen Mehrheit der Wähler, acht denkbar verschiedene Parteien zusammengefunden. Darunter die Yamina-Partei von Naftali Bennett, Sohn amerikanischer Einwanderer, die sich, wie ihr Name schon sagt, als „rechts“ versteht, die Mitte-Links-Partei des früheren Journalisten Yair Lapid, die aus dem Kibbuz-Sozialismus hervorgegangene Avodah, die strikt linke Meretz-Partei, das von den Militärs und ihren Sicherheitsinteressen dominierte Bündnis Blau-Weiß, gegründet von ehemaligen Generalstabschefs, die rechte, anti-religiös akzentuierte, überwiegend von Einwanderern aus der früheren Sowjetunion gewählte Israel-Bejtejnu-Partei, deren Vorsitzender Liberman gelegentlich durch anti-arabische Äußerungen Schockwellen auslöst, und – als wäre all dies nicht genug – eine vom arabischen Parteienbündnis abgesplitterte, bisher kaum bekannte, dem islamischen Traditionalismus verpflichtete Partei, deren Vorsitzender Mansour Abbas auch noch ein Namensvetter jenes zunehmend obsoleten Palästinenser-Chefs in der Westbank ist, der sich seit mehreren Jahrzehnten, vom Ausland dafür bezahlt, nicht mit Israel einigen kann oder will.

Die Verschiedenartigkeit dieser Koalition ist verblüffend. Doch Diversität ist eins der Überlebensgeheimnisse des jüdischen Volkes durch die Fährnisse einer einzigartig wechselhaften Geschichte. Divers ist auch die Bevölkerung Israels: jüdische Einwanderer aus über 140 Ländern, von Texas bis Äthiopien, von Sibirien bis Australien. Dazu mehrere, wiederum extrem verschiedene Minderheiten, städtische Araber, nomadische Beduinen, Drusen, christliche Gruppen und andere. Wandelbarkeit, Flexibilität, Fähigkeit zum Wechsel sind in diesem Land hochgeschätzte, überlebensnotwendige Eigenschaften. Israelis lieben das Unberechenbare: neue, nie begangene Wege einzuschlagen, Risiken einzugehen, das scheinbar Unmögliche zu wagen. Ich habe in den letzten Tagen mit Nachbarn, Familie und zufälligen Gesprächspartnern immer wieder über diese Regierung gesprochen, die Meinungen gingen weit auseinander, doch die meisten fanden, man müsse es probieren.

Diese Regierung, disharmonisch, wie sie auf den ersten Blick wirkt, löst dennoch bereits durch ihre Gründung zwei drängende Probleme. Erstens: die Überwindung der Ära Netanyahu. Zwölf Jahre unter demselben Premier sind genug, finden die meisten, sechzehn wären zuviel. Demokratie braucht die ständige Bewegung, sie stirbt in der Stagnation. Man sieht am Beispiel anderer Länder, zum Beispiel Deutschlands, wie schädlich die Entstehung eines starren, mehr und mehr autoritären Hofes um ein und dieselbe Person werden kann, wie sie das Land in seiner Entwicklung blockiert und in vordemokratische Strukturen zurückwirft. Zudem steht Netanyahu in mehreren Fällen wegen Korruption vor Gericht, und ein unter gerichtlicher Anklage stehender Regierungschef, wie wir uns vom Fall Olmert erinnern, ermangelt auf Dauer der nötigen Konzentration für sein Amt.

Ein Befreiungseffekt, der den Versuch wert ist

Zweitens: Die neue Regierung wäre die erste im letzten Vierteljahrhundert, an der – mit einer kurzlebigen Ausnahme 2013-14 – keine ultra-orthodoxen Parteien beteiligt sind. Auch das war ein starker Wunsch vieler Israelis. Das „Vereinigte Torah-Judentum“, der bizarre Zusammenschluss den Staat Israel nur unter Vorbehalt oder gar nicht akzeptierender, mit der israelischen Gesellschaft weitgehend inkompatibler rabbinischer Höfe vom Zuschnitt osteuropäischer Shtetl-Gemeinden des achtzehnten Jahrhunderts, saß wie selbstverständlich in fast sämtlichen Koalitionen, ganz gleich ob links oder rechts orientiert, und sorgte für die Beibehaltung seiner unberechtigten Privilegien.

Ähnlich fordernd agierte die Schas-Partei, shomrej torah sfaradi, die „sephardischen Torah-Wächter“. Einziger Beitrag der Ultra-Orthodoxen zur Entwicklung Israels war ihre hohe Kinderzahl. Diese Kinder wurden allerdings nach dem Willen der rabbinischen Kleindespoten durch gezielte Fernhaltung von allgemeiner Schulbildung, Armeedienst, Universitätsstudium und anderen „Abirrungen“ zu strikten Gefolgsleuten erzogen. Was immer weniger funktionierte. Gott sei Dank ist die Zahl der abtrünnigen jungen Leute aus diesem Milieu im letzten Jahrzehnt immens gewachsen. Man schätzt, dass pro Familie zwei oder drei der im Durchschnitt sechs bis sieben Kinder ultra-orthodoxer Familien durch Armeedienst, Studium oder andere Begegnungen mit der modernen israelischen Gesellschaft aus ihrem geschlossenen Biotop ausbrechen.

Aus der ultra-orthodoxen Parallelgesellschaft wird der mögliche neue Premier Naftali Bennett, selbst ein orthodoxer Jude, schon jetzt aufs Übelste attackiert. Der Abgeordnete Gafni verglich Bennett mit dem biblischen Korach, einem Verräter, den die Erde verschlang. „Der Name des Bösen soll verrotten“, rief der um seine Macht bangende Torah-Lehrer während einer Sitzung und verlangte, „solche Leute aus unserer Mitte zu entfernen“. Es sind beschämende Szenen, die er und seinesgleichen dem Land zumuten. Sie zeigen zugleich den tiefen Bruch zwischen den „modern Orthodoxen“ vom Schlage Bennetts, eines früheren Elite-Soldaten und Hightech-Unternehmers, und der erstarrten Ultra-Orthodoxie, die sich darin gefällt, die reaktionärste Kraft in einem sonst extrem beweglichen, von einer zunehmend jungen Bevölkerung bewohnten Land zu sein.

Kein Sterblicher kann voraussagen, ob die neue Regierung angesichts der massiven Störversuche und „spontanen“ Demos vor den Häusern der entscheidenden Abgeordneten am kommenden Sonntag im Parlament die erhoffte knappe Mehrheit erhält. Und noch weniger, wie lange sie halten wird. Nicht jeder in Israel wünscht ihr Erfolg. Doch der Befreiungseffekt, den sie Israel bieten könnte, ist lohnend genug, es wenigstens zu versuchen.  

Foto: US Department of State via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Christa Born / 10.06.2021

Masseltov! Es lebe Israel!

Wieland Schmied / 10.06.2021

Sehr geehrter Chaim Noll, nach dem lesen Ihres - wie immer - aufschlußreichen Artikels, kam mir eine Aussage meines großen Landsmannes in den Sinn: “Der Deutsche entfaltet in der Stunde der Not höchste Tugenden. Die Frage bleibt, ob er im gleichen Maße den Stunden des Glücks gewachsen ist.” (Ludwig Erhard (1897-1977), dt. Politiker (CDU), 1949-63 Bundeswirtschaftsminister, 1963-66 Bundeskanzler). Oder stark vereinfacht ausgedrückt - wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er auf’s Eis tanzen. Man tausche ‘der Deutsche’ gegen ‘der Israeli’ aus. Ist das vermessen?

giesemann gerhard / 10.06.2021

“Doch Diversität ist eins der Überlebensgeheimnisse des jüdischen Volkes durch die Fährnisse einer einzigartig wechselhaften Geschichte. Divers ist auch die Bevölkerung Israels: jüdische Einwanderer aus über 140 Ländern, von Texas bis Äthiopien, von Sibirien bis Australien. Dazu mehrere, wiederum extrem verschiedene Minderheiten, städtische Araber, nomadische Beduinen, Drusen, christliche Gruppen und andere. Wandelbarkeit, Flexibilität, Fähigkeit zum Wechsel sind in diesem Land hochgesc ...”. Gilt das nicht auch für Deutschland, das Land mit den meisten Nachbarn weltweit mit einer wahrlich besonderen Geschichte - womöglich genau aus diesem Grunde, wegen seiner exponierten Mittellage? Diversität ja, aber Bedrohung und Beraubung durch eine Minderheit natürlich nein. Das ist das Kriterium in Israel genauso wie in Deutschland, auch gerne Mitteleuropa genannt. In Israel kommt noch die große Bandbreite des Judentums selbst hinzu, von weltoffen liberal bis hin zu ultraorthodox. So etwas kennen wir in DE nicht. Beide Länder können sich mit ihren Erfahrungen gegenseitig unterstützen. Wenn sie wollen.

Robert Fischer / 10.06.2021

Ich wünsche den Israelis viel Glück mit ihrer neuen Regierung, auch wenn ich so einem Allparteienbündnis von ganz links bis ganz rechts inklusive einer Partei des islamischen Traditionalismus kritisch gegenüberstehe, deren einziger Zweck darin besteht, einen Premierminister loszuwerden. Was wollen die Parteien denn machen, wenn Netanjahu weg ist? Worauf wollen sie sich dann einigen? Was ist der bindende Kitt, der diese Koalition am Leben hält? Was ich auch nicht verstehe: Warum probieren die Israelis keine Minderheitsregierung aus? Sind sie so arrogant wie wir Deutschen, die sich zu wichtig für eine Minderheitsregierung halten?

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