Burkhard Müller-Ullrich / 30.12.2018 / 10:42 / Foto: Doenertier82 / 8 / Seite ausdrucken

Zwischen den Jahren

Das Jahr ist ein recht kurzes Wort für eine verdammt lange und komplizierte Sache. Denn ein Jahr ist der größte für uns Menschen fassbare, fühlbare, unmittelbar evidente Zeitraum; alles, was darüber hinausgeht, Fünfjahrespläne, Dezennien, Epochen, ist ausgedacht und künstlich zurechtgemacht, aber das Jahr ist kein Gehirnkonstrukt, sondern sozusagen bio: die Kreisbahn der Erde um die Sonne bestimmt unser Leben und Erleben mit Sommer und Winter, mit Saat und Ernte, so wie auch der Tag etwas Vorgegebenes ist – im Gegensatz etwa zur Woche, die genausogut aus fünf oder neun Tagen bestehen könnte.

Doch während jeder Tag unser Dasein auf direkte Weise rahmt, können wir ein Jahr nicht mit einem einzigen Blick erfassen. Ein Jahr ist etwas Geschichtliches, etwas, das in den Dimensionen von Erinnern und Vergessen stattfindet. Ein Jahr erscheint nur auf dem historischen Bildschirm der Menschen – und obendrein nur sehr verschwommen, weil kein Gehirn sämtliche Details eines Jahres speichern kann.

Eine Ahnung dessen, was das Jahr ist, entsteht allenfalls durch Innehalten. Dazu eignet sich die kalendarische Schnittstelle zwischen zwei Jahren. Wie dieser Schnitt gelegt wird, ist eigentlich egal: Die Juden und Muslime feiern ein anderes Neujahr als wir, aber die Empfindungen beim Jahreswechsel sind gleich: Man tritt für einen Augenblick aus dem Kontinuum der Zeit heraus und hat einen Riesen-Respekt vor der nächsten Runde.

Dieser Raum zwischen den Jahren hat sich unter dem Einfluss von Angestelltenmentalität und Konsumgesellschaft immer mehr ausgedehnt; er füllt mittlerweile eine knappe Woche, beginnend mit dem Weihnachtstag. Zwischen den Jahren erstreckt sich eine Art Niemandsland wie zwischen zwei Grenzposten; da findet nichts statt und nichts ist vorhanden. Man gleitet durch ein etwas unwirkliches Gelände, ein Zwischenreich der Unentschiedenheit.

In einer Welt, wo ansonsten alles geregelt, eingeteilt und zugeordnet ist, wirkt so ein Schwebezustand geradezu erholsam. Zwischen den Zeilen, zwischen den Stühlen, zwischen den Jahren: man entzieht sich dem Bekenntniszwang, der Pflicht zur Zugehörigkeit. Man trödelt oder transchelt oder macht Inventur. Im Grunde liegt zwischen den Jahren eine Komfortzone, die man gar nicht verlassen möchte. Warum eigentlich kann man da nicht verharren? Sein ganzes Leben zwischen den Jahren zu führen – das wäre ein Akt ultimativer Weisheit: unmöglich, aber erstrebenswert.

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Dieter Franke / 30.12.2018

@ Horst Hauptmann Wenn Sie das Gefühl einer sinnlosen Leere -so lese ich den Text-, verspüren, so kann ich Ihnen nur raten sich für ein Hobby zu interessieren und es auch engagiert zu verfolgen. Erst seit meinem Ruhestand habe ich dafür Zeit., noch kein Tag war langweilig.

Werner Arning / 30.12.2018

„Zwischen den Jahren“ ist ein herrlicher Ausdruck. Eine Zeit, in der man zu nichts verpflichtet zu sein scheint, innehalten darf. Viele Südländer machen das jeden Tag, während der Siesta. Nichtstun. Entspannen. Nichts erledigen. Keine Sorgen. Nicht an die Zukunft denken, für einen Moment. Wir sollten und diese Auszeit öfter gönnen. Sie verlängert unser Leben.

Gabriele Kremmel / 30.12.2018

Eine wirklich schöne Beschreibung für den Zeitbegriff des Jahres und die Atmosphäre gegen Ende desselben herum. Das Schöne sind für mich die vielen Feiertage, Betriebsferien und Schulferien in einem, die für ein deutlich vermindertes Verkehrsaufkommen und mehr Ruhe sorgen, aber auch für unbelastete Stunden zu Hause, wo einen niemand mit Geschäftlichem belästigt und selbst die aufgeschobenen unangenehmen Pflichten gedanklich in den Hintergrund treten können. Ruhe im Inneren benötigt Ruhe von außen. Dazu kommt, und das ist für mich das Beste: Das Tal der langen Nächte ist durchschritten und die Tage werden täglich länger hell. Bei dieser Gelegenheit wünsche ich allen Autoren und Lesern der Achse einen guten Rutsch und ein gutes und perspektivenreiches Neues Jahr.

Andreas Roller / 30.12.2018

Ein schöner Artikel zum Jahresende. Danke Herr Müller-Ullrich. Nur eines sei hier kurz angemerkt. Der Raum “zwischen den Jahren” , also außerhalb der normalen Zeit sind traditionell die Rauhnächte, die durchaus 12 Nächte umfassen können (25.12. - 6.1,) und diese haben sich nicht erst “durch den Einfluss von Angestelltenmentaliät und Konsumgesellschaft” auf (mehr als) eine knappe Woche ausgedehnt. Einen schönen Jahresbeginn für uns alle wünsche ich.

Horst Hauptmann / 30.12.2018

Gehen Sie mal als engagierter workaholic in Rente. Dann haben Sie das Gefühl jeden Tag. Und kein Entrinnen. Das ist alles andere als erstrebenswert. Der ideele Wert von Arbeit im Leben wird einem dann erst richtig bewusst. Und weiter, dass das Geschwätz von der unschätzbaren Erfahrung der Älteren “voll hohl” ist, wie die Jüngeren sagen. Sie stehen mit 63, spätestens 65 auf dem Abstellgleis, direkt vorm Prellbock und haben das ganze Jahr “zwischen den Jahren”.

Hjalmar Kreutzer / 30.12.2018

Vielen Dank für den schönen Text, der mir aus dem Herzen spricht. Dieses Jahr ist ideal: Ein ganzes Wochenende jeweils vor Heiligabend und Silvester, dann Feier- und Brückentage, herrlich! Die Vorfreude hält meist bis zum 24.12. an, danach flaut die Euphorie schon ab,  und schon am 01. Januar beschleicht mich meist die Wehmut, dass die schöne Zeit des Innehaltens vorbei ist und die alte Tretmühle wieder weitergedreht werden muss. Das schönste an einem Wochenende ist der Freitagabend.

P.Steigert / 30.12.2018

Dieses Land befindet sich doch eigentlich seit Jahren in einem Schwebezustand der Realitätsverweigerung, spätestens seit Lehman und dem Eintritt der Eurokrise. Das “Niemandsland zwischen den Grenzposten” verlassen wir bei Eintreffen der nächsten Wirtschaftkrise (gut möglich im nächsten jahr) mit neuer Massenarbeitlosigkeit und einem zu erwartenden Aggressionausbruch bei den chancenlosen Zugezogenen aus den Konfliktgebieten dieser Welt. Dann beginnt die Auseinandersetzung mit der Realität.

Frank Holdergrün / 30.12.2018

Wunderschön geschrieben. Herzlichen Dank, Herr Müller-Ullrich. Ich wundere mich auch immer wieder, dass ich in dieser Zeit das Gefühl für den jeweiligen Wochentag völlig verliere.

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