Der kleine Kaukasus-Staat ist traditionell Verbündeter Russlands, seine Landeskinder kämpfen jedoch in den Armeen beider Kriegsparteien.
Mit mehr als einer Million Armeniern beheimatet Russland die zahlenmäßig größte armenische Diaspora-Bevölkerung der Welt. Auch das Staatsgebiet der heutigen Ukraine nennen gut eine halbe Million Armenier ihre Heimat. Sie blicken dort auf eine Einwanderungshistorie zurück, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht und nahmen im Lauf der Geschichte immer wieder die Rolle von kulturellen und wirtschaftlichen Vermittlern zwischen Orient und Okzident ein. Grund genug, ihre Sicht auf den dieser Tage tobenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die bitteren und traumatischen Erfahrungen von Bombenangriffen, Flucht, Verlust von Angehörigen und Nächten in Bunkern und U-Bahnstationen, welche die Einwohner ukrainischer Städte wie Kiew dieser Tage machen müssen, teilen sie nun mit den Armeniern Bergkarabachs. Vor gerade einmal eineinhalb Jahren entfesselte Aserbaidschan dort mit Hilfe der Türkei und dschihadistischer Söldner aus Syrien eine – bis dato nie dagewesene – Drohnen- und Kriegshölle.
Just zu Beginn dieser Angriffe auf Arzach, wie die Armenier Bergkarabach nennen, gab die ukrainische Regierung unter dem immer noch amtierenden Präsidenten Wolodymyr Selenski den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit mit der Türkei bekannt und lobte Ankaras Engagement im Kaukasus, Nordafrika und dem Nahen Osten als „friedensstiftend“. Eine Äußerung, die Hard-Rock-Poet Serj Tankian bereits damals verurteilte.
Und in der Tat war Selenskis Schritt, verbunden mit seinen Äußerungen, ein Tiefschlag, und zwar – wenn man die Gemengelage in den genannten Regionen berücksichtigt – nicht nur gegen die Bevölkerung Bergkarabachs, sondern gegen de facto alle betroffenen ethnischen und religiösen Minderheiten sowie säkularen Kräfte.
So verwundert es auch nicht, dass Arayik Harutyunyan, Präsident der Armenier Bergkarabachs, die Anerkennung der abtrünnigen Volksrepubliken Lugansk und Donezk durch den Kreml als historischen Erfolg für das Prinzip der staatlichen Selbstbestimmung der Völker lobte.
Die armenische Regierung gibt sich derweil, anders als Harutyunyan, sehr zurückhaltend. Jerewan betont seine Neutralität und ließ verlauten, dass man sowohl auf die „diplomatische Beilegung existierender Probleme zwischen zwei befreundeten Staaten“ hofft, wie auch bereit ist, Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet aufzunehmen.
„Durch Russlands Angriffe sterben friedliche Menschen“
Artur Artman ist Armenier, lebt in der Ukraine und kämpft in der ukrainischen Armee. Am Samstag, dem 26. Februar, wandte er sich in dieser Botschaft an seine Landsleute und die Regierung in Jerewan:
„Liebe armenische Brüder, friedliebende und freundliche Menschen!
Wir appellieren an Sie, die Menschen in der Ukraine zu unterstützen, die von Russland angegriffen werden. Unsere Verteidiger sterben. Friedliche Menschen, Frauen, Alte und Kinder sterben!
Brüder, glaubt keine falschen Gerüchte. Wir haben keine Militäroperationen begonnen, wir verteidigen unser Heimatland. Wir sind keine Bewunderer oder Nachfolger Stepan Banderas, keine Faschisten, keine Nazis. In den 30 Jahren, in denen ich in der Ukraine lebe, habe ich weder Beleidigungen, Angriffe oder negatives Verhalten von Ukrainern gesehen noch gespürt. Ich fordere die Regierung Armeniens auf, die Regierung der Ukraine, unseren Präsidenten und unsere Regierung unverzüglich zu unterstützen!
Unterstützen Sie die Menschen in der Ukraine, reichen Sie uns die Hand.
Gott ist mit uns, die Wahrheit ist mit uns.“
„Russland war zu Militäroperation gezwungen“
Norair Rezyan sieht die Sache anders als sein Landsmann. Er stammt aus Armeniens drittgrößter Stadt Wanadsor, lebt und arbeitet aber seit Jahren in Ulan-Ude in der russischen Teilrepublik Burjatien im südöstlichen Sibirien, unweit der Grenze zur Mongolei, und fühlt sich Russland gleichermaßen verbunden wie Armenien. Auf seinem Facebook-Profil veröffentlichte er dieses Statement:
„Ich bin davon überzeugt, dass Russland gezwungen war, eine Sonderoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine durchzuführen. Russland befindet sich nicht im Krieg mit den Menschen in der Ukraine. Wir haben gemeinsame Wurzeln und eine gemeinsame historische Vergangenheit mit dem ukrainischen Volk. Unsere Großväter und Urgroßväter standen Schulter an Schulter, um unser Heimatland gegen faschistische Invasoren zu verteidigen. Wir sind alle für den Frieden, aber wir wissen, dass Denkmäler für unsere Krieger, die die Welt vom Faschismus befreit haben, in der Ukraine zerstört wurden, wir wissen, dass Bandera und Shukhevich dort verherrlicht wurden. Leider gibt es eine Reihe von Menschen, die eine antirussische Stimmung unterstützen, die Sabotage betreiben und es sich zur Aufgabe gemacht haben, Panik und Mutlosigkeit zu säen.
Natürlich warten schwierige Zeiten auf uns, die nicht ohne Nachwirkungen bleiben, aber ich glaube, dass die Kräfte des Guten und der Gerechtigkeit die Oberhand gewinnen werden, und dass wir alle gemeinsam die Schwierigkeiten meistern. In dieser Situation müssen wir zu unserem Land, zu unserer Armee und zu unserem Präsidenten stehen. Und dann werden die brüderlichen Völker Russlands und der Ukraine so leben, wie es vor vielen, vielen Jahren war.“
Armenier in der Ukraine wollen das Land gegen russische Truppen verteidigen
Ein Artikel von Nelly Babayan aus der Zeitung „Aravot“ trägt den Titel „Die in der Ukraine lebenden Armenier, die ich kenne, zeigen sich als echte Ukrainer“ und datiert vom 25. Februar. Darin wird der, in Kiew lebende, armenischstämmige ukrainische Staatsbürger Marat Hakobyan wie folgt zitiert:
„Überall in Kiew sind Raketensalven zu hören. Wir sind jetzt in einer Wohnung und hören den Kampflärm und den Luftangriffsalarm, der morgens losgeht. Im ganzen Land herrscht Krieg. Die Stadt wird regelmäßig beschossen, man hört die Geräusche von Granaten oder Flugzeugen, Luftangriffsalarm. Es gibt Strom, Internet, Heizung und Warmwasser. Der Krieg in Kiew hat keine Auswirkungen auf das tägliche Leben. Die Grenztruppen sind im Einsatz, die lokale Verteidigung funktioniert, die Männer verteidigen ihre Gebiete mit der Waffe in der Hand. Die Menschen passen sich an diese neue Realität an.“
Wie Marat Hakobyan ist auch Alek Karapetyan armenischstämmiger Ukrainer und lebt in Kiew. Nelly Babayan zitiert ihn mit den Worten:
„Es gibt lange Schlangen von Menschen, die bereit sind, sich den Selbstverteidigungseinheiten anzuschließen. Sie melden sich freiwillig und bekommen Waffen für Patrouillengänge und zur Verteidigung. Die Menschen organisieren sich selbst, um Lebensmittel und andere Dinge sowie Arbeitskräfte zu mobilisieren. Unsere Bürgerinnen und Bürger sind bereit, auf jede Entwicklung der Situation zu reagieren. Die in der Ukraine lebenden Armenier, die ich kenne, zeigen sich als echte Ukrainer. Wir stehen unter der gleichen Flagge. Sie verlassen das Land nicht, sie bleiben hier.“
Eine weitere Armenierin in der Ukraine, von der Nelly Babayan berichtet, ist die Bloggerin Arpi, die mit ihren Kindern in einem Luftschutzbunker ausharren müsse, da alle Flughäfen sowie sämtliche Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen seien.
Armenier Russlands leisten seit Jahren humanitäre Hilfe für den Donbass
Ebenfalls berichtet „Aravot“ unter Berufung auf „Yerkramas“, eine armenische Zeitung mit Sitz im südrussischen Krasnodar, von einer Videokonferenz aller Vorstandsvorsitzenden armenischer Gemeinschaften Russlands, die am Sonntag, dem 27. Februar 2022, stattfand.
Ara Abramyan, Präsident der Union der Armenier in Russland, fasste die Ergebnisse der Konferenz zusammen und betonte gegenüber „Yerkramas“ die seit Jahren prekäre humanitäre Situation der Bevölkerung in den Donbass-Regionen Donezk und Lugansk, die sich, wie auch Russland selbst, durch die Regierung der Ukraine in einer Bedrohungslage befänden, die Russland keine Alternative zu einer, eigentlich ungeliebten, militärischen Intervention gelassen hätte, die hoffentlich nur von kurzer Dauer sei.
Dabei berief er sich auf den engen Austausch mit den 27.000 bis 28.000 Mitglieder zählenden armenischen Gemeinschaften im Donbass. Laut Abramyan leistet die „Union der Armenier in Russland“ seit Jahren humanitäre Hilfe im Donbass, zum Beispiel durch die Unterstützung von Waisenhäusern oder aktuell durch die Organisation und Instandhaltung von Flüchtlingsunterkünften, insbesondere in den Regionen um die Städte Rostow, Woronesch und Kursk.
In „Aravot“ wird Abramyan wie folgt zitiert:
„Wir Armenier wissen aus erster Hand, was Krieg und Leid sind, denn unsere Wunden sind nach der aserbaidschanischen Aggression und dem 44-tägigen Krieg von 2020 noch nicht verheilt.“
In dieser Äußerung steckt ebenso eine offensichtliche Mitgefühlsbekundung gegenüber der Bevölkerung des Donbass und der ganzen Ukraine wie auch ein zwischen den Zeilen herauslesbarer Hinweis auf die militärische Zusammenarbeit zwischen Kiew und Ankara, die zeitgleich mit dem Beginn der Angriffe auf die Armenier Bergkarabachs besiegelt wurde.
Die wiedergegebenen Ansichten könnten teils unterschiedlicher kaum sein und doch haben sie alle eine Gemeinsamkeit: die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende.
Außerdem lassen sie eine eindeutige Schlussfolgerung zu: Wenn der Krieg zwischen Moskau und Kiew eines nicht ist, dann der Kampf zwischen Monstern und Helden, zu dem viele ihn stilisieren!
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Julian T. Baranyan.