Das Bundesverfassungsgericht lässt die Entwertung der Erststimme zugunsten der Zweitstimme bei der Bundestagswahl zu. Sollten die Wähler nun aus Protest die Zweitstimme verweigern und nur die Erststimme abgeben?
Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen. Die Grundmandatsklausel bleibt, die Erststimme – die direkte Stimme des Bürgers – taugt dennoch nicht viel und hat ihre Deklassierung voll verdient. Die Stimme des großen Lümmels, also die des transformationsresistenten Volkes möge sich dauerhaft der Parteiräson – der Zweitstimme – unterordnen.
Nur Kandidaten, die zur jeweiligen Parteilinie passen und auf der Parteiliste entsprechend eingenordet sind, dürfen je nach Parteiabschneiden am Wahlabend auf eine Bundestagszugehörigkeit hoffen. Reichen die Prozente nicht, werden die Parteilisten nach hinten kürzer, die besonders strammen Parteisoldaten konzentrieren sich ja ohnehin vorn hinter dem jeweiligen Listenführer. Die richtigen Parteimeinungen kommen immer rein. Dann halt auf weniger Schultern konzentriert.
Abweichler unterliegen der natürlichen Auslese. Die gewinnen zwar ab und an ihre Wahlkreise, doch auf den Listen gehören ihnen die hinteren wertlos gewordenen Plätze. Eine feine Sache für Parteistrategen, der Demokratie zum Schaden.
Kann sich der große Lümmel, dieses transformationsundankbare Volk, dagegen wehren? Mit großer Münze eher nicht. Das Ding ist gegessen.
Die kleine Münze ist interessant. Es gibt in Deutschland das Wahlrecht, keine Wahlpflicht. Demzufolge gibt es auch keine Pflicht, das Kreuz bei Erst- und Zweitstimme zu machen.
Was wäre, wenn der große Lümmel sein Kreuz im Wahllokal nur bei den Erststimmen, bei den Direktkandidaten macht und die Zweitstimme Zweitstimme sein und diese unbeachtet linksmitterechtsliegen lässt? Nahe Null Prozent in Zweitstimmen für alle Parteien würden die Parteilisten auf nahe Null schrumpfen lassen. Einfach so. (Smiley). Der 21. Deutsche Bundestag wäre leer, weil die Zweitstimmen definieren, wieviel Leutchen ins Parlament einziehen dürfen.
Andererseits wären in allen 299 Wahlkreisen 299 Kandidaten direkt gewählt, dürften aber nicht rein, in den Bundestag. Siehe keine Zweitstimmengrundlage.
Zurück zum Wahlrecht von vor 30 Jahren
Was nun? Keine Zweitstimmen-MdBs im nächsten Bundestag, dafür eine 299-fach direktgewählte demokratische Parlamentsreserve, die ähnlich dem Verbot der Nutzung eigener Öl- und Gasvorkommen in Deutschland nicht zur Praktizierung eigener Politik im Parlament zugelassen ist.
Wäre das nicht eine Gaudi besonderer Art? Ja, aber das funktioniert leider nicht. Denn es müssten ausnahmslos alle mitmachen. Sobald auch nur ein Wähler eine Zweitstimme abgibt, gilt dessen Wahl. Es würde die meisten Abgeordneten deshalb auch gar nicht stören, wenn die meisten Wahlberechtigten gar nicht zur Wahl gingen, solange sie von denen, die im Wahllokal erscheinen, den für sie selbst und ihre Partei nötigen Stimmenanteil bekommen.
Soweit meine Glosse. Christian Müller, MdB 1990–2005, eine Stimme der Vernunft, sagt zum Thema:
„Das Selbstlob der „Reformer“ besteht ja darin, auf die überfällige Verkleinerung des BT hinzuweisen, und zwar durch Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten.
Wer das gewollt hätte, und zwar ohne große Verwerfungen, hätte nur das Wahlrecht von vor 30 Jahren wieder herstellen müssen. Damals gab es weder Überhang noch Ausgleich, und es war demokratisch akzeptiert, dass ein im Wahlkreis gewonnenes Mandat, also ein Direktmandat, eine wesentliche Grundlage jedes Bundestages war.
Damit wird heute die Absicht der Verbieger noch einmal deutlich, dass es ihnen ausschließlich darum ging, den Vorrang des Listenwahlrechts voranzubringen, um gewünschte, von den Parteigremien gesetzte Kandidaten in den BT zu bringen. Man braucht schließlich willige Mitspieler für die Große Transformation.“
Eine letzte Bemerkung in eigener Sache. 2005 verzichtete ich auf einen Landeslistenplatz, gewann den Wahlkreis mit bestem sächsischen SPD-Einzelergebnis und war wieder drin, im Bundestag. Siehe den Link: Eine Betrachtung in eigener Sache...
Auf der Grundlage des jetzt geltenden Wahlrechts, wäre ich 2005 wohl nicht wieder MdB geworden.
Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.