Es gehört zu den beliebten Legenden des menschlichen Selbstverständnisses, dass der Mensch, von Vernunft geleitet, seine Meinungen an der genauen Betrachtung und Analyse der Wirklichkeit ausbildet. Tatsächlich verhält es sich eher umgekehrt: Moral treibt die Gefühle. Diese bestimmen unsere Meinungen und Handlungen und machen dabei die Vernunft zu ihrem Diener (so der schottische Philosoph David Hume im Jahr 1739).
Als Folge der gefühlsbetonten Steuerung wendet sich die individuelle Wahrnehmung gezielt jenen Fakten zu, die zum jeweiligen Weltbild passen und unterdrückt tendenziell jene Fakten, die ihm widersprechen.
Unsere emotional verankerten Weltbilder ergeben sich teilweise aus der menschlichen Natur. Teilweise sind sie ein Produkt von Sozialisation und Erziehung und so ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben, sowie der Einflüsse, denen wir unterliegen oder denen wir uns freiwillig aussetzen.
Fakten, die unserem Weltbild widersprechen, setzen wir einen großen inneren Widerstand entgegen. Fakten dagegen, die es zu bestätigen scheinen, übernehmen wir auch gerne ungeprüft.
Wer Fakten präsentiert, die einem herrschenden Konsens widersprechen, wird gern selbst in Zweifel gezogen. Das kann skurrile Formen annehmen, wie ich selbst einige Male erlebt habe:
Lieber keine Fakten
Nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab leitete der SPD-Parteivorstand 2010 ein Ausschlussverfahren gegen mich ein, weil ich dort den Zusammenhang von Bildungsleistung, Demographie und Einwanderung analysiert hatte. Das Verfahren scheiterte, weil die von mir genannten Fakten Bestand hatten und ihre Interpretation zulässig war.
Im Dezember 2018 hat der SPD-Parteivorstand wegen meines Buches Feindliche Übernahme erneut ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet, weil ich mich dort kritisch mit den Gefahren des politischen Islam auseinandersetze. Auch dieses Verfahren wird erneut scheitern, denn an den Fakten ist nicht zu rütteln, und die Analyse ist sachlich und frei von Feindseligkeit.
Da ich oft nicht auf der Linie des politischen und publizistischen Mainstreams liege, erlebe ich immer wieder, dass die von mir genannten Fakten abgestritten oder aber ignoriert werden. Exemplarisch war Angela Merkels Bemerkung im September 2010, sie habe Deutschland schafft sich ab nicht gelesen und habe dies auch künftig nicht vor. Immerhin ist mir die überwiegend kritische Haltung in Politik und Medien ein Ansporn, bei der Wiedergabe und Analyse von Fakten möglichst sorgfältig vorzugehen.
Anders geht es jenen Autoren und Teilnehmern an öffentlichen Debatten, die auf der Woge des politisch korrekten politischen und publizistischen Mainstreams schwimmen. Wenn die „richtige" Geschichte erzählt wird, schwindet offenbar der Impuls, die Faktenbasis kritisch zu prüfen. Im Gegenteil, die Chance auf öffentliche Auszeichnungen scheint sogar zu steigen, wenn gezielte Erfindungen die Schlüssigkeit und den lehrhaften Charakter der Erzählung, Reportage oder politischen Einlassung verstärken. Dazu drei Beispiele aus jüngster Zeit:
Die Auschwitz-Rede von Walter Hallstein
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bekam 2017 für seinen Brüsselroman Die Hauptstadt den deutschen Buchpreis. Menasse ist ein begeisterter Europäer und möchte, dass sich die Nationalstaaten im Prozess der europäischen Integration auflösen. Das integrierte Europa ist für ihn ein moralisches Projekt, um die Wiederholung eines Ereignisses wie den Holocaust zu vermeiden. In seinem Buch spielt eine Rede eine Rolle, die der erste Kommissionspräsident der EWG Walter Hallstein 1958 als Antrittsrede in Auschwitz hielt. In vielen öffentlichen Auftritten wiederholte Menasse diese Behauptung als feststehende Tatsache. Diese Rede hat es aber nie gegeben. Wie erst jetzt herauskam, war sie eine freie Erfindung des Autors. Menasse sah offenbar seine Geschichtsfälschung durch den höheren moralischen Zweck gerechtfertigt.
Die erfundenen Reportagen des Claas Relotius
Am 19. Dezember 2018 wurde bekannt, dass der mehrfach preisgekrönte Spiegel-Redakteur Claas Relotius seit vielen Jahren in großem Umfang Reportagen gefälscht und mit teilweise frei erfundenen Fakten angereichert hat. Die Erfindungen waren so angelegt, dass sie die Tendenz der Geschichten unterstrichen und ihnen jenen eindringlichen, poetischen Charakter gaben, der zu den wiederholten Auszeichnungen führte. Alle diese Geschichten schwammen im politischen Mainstream, wenn sie z.B. die charakterlichen Defizite von Trump-Wählern herausarbeiteten oder das berührende Schicksal eines syrischen Flüchtlingsjungen schilderten.
Der Zahlensalat des Arbeitgeberpräsidenten
Am 14. Dezember 2018 zitierte der Spiegel den Arbeitgeberpräsidenten Ingo Kramer mit der Aussage, die Integration der Flüchtlinge laufe besser als erwartet, Angela Merkel habe mit ihrem Satz „Wir schaffen das" recht behalten. „Von mehr als einer Million Menschen, die vor allem seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, haben heute bald 400.000 einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Ich bin selbst überrascht, dass das so schnell geht."
Diese Aussagen wurden von den deutschen Medien in den Tagen vor Weihnachten vielfältig zitiert und niemals kritisch hinterfragt. Tatsächlich zeigt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit folgendes Bild:
Ende 2018 gab es lt. Ausländerzentralregister 1,9 Mio. Schutzsuchende in Deutschland.
Aus den Hauptherkunftsländern waren im Oktober 2018 298.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 95.000 mehr als ein Jahr zuvor. Das sind rd. 15 Prozent der Schutzsuchenden.
Unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gab es 28.000 Auszubildende., das sind 1,5 % der Geflüchteten
71.000 gingen einer geringfügigen Beschäftigung nach.
Die große Masse der Geflüchteten verharrt also in Sozialtransfers, und die Zahl der jährlich neu hinzukommenden Asylbewerber ist höher als der Beschäftigungszuwachs. Der deutsche Arbeitgeberpräsident hat Fake-News verbreitet, und niemand in Medien oder Politik rechnet ihm das vor, weil er eine politisch gewünschte Erzählung bedient.