Thilo Sarrazin / 15.01.2019 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 76 / Seite ausdrucken

Zwei Parteiausschluss-Verfahren und drei Fälle von gezielter Täuschung

Es gehört zu den beliebten Legenden des menschlichen Selbstverständnisses, dass der Mensch, von Vernunft geleitet, seine Meinungen an der genauen Betrachtung und Analyse der Wirklichkeit ausbildet. Tatsächlich verhält es sich eher umgekehrt: Moral treibt die Gefühle. Diese bestimmen unsere Meinungen und Handlungen und machen dabei die Vernunft zu ihrem Diener (so der schottische Philosoph David Hume im Jahr 1739).

Als Folge der gefühlsbetonten Steuerung wendet sich die individuelle Wahrnehmung gezielt jenen Fakten zu, die zum jeweiligen Weltbild passen und unterdrückt tendenziell jene Fakten, die ihm widersprechen.  

Unsere emotional verankerten Weltbilder ergeben sich teilweise aus der menschlichen Natur. Teilweise sind sie ein Produkt von Sozialisation und Erziehung und so ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben, sowie der Einflüsse, denen wir unterliegen oder denen wir uns freiwillig aussetzen.

Fakten, die unserem Weltbild widersprechen, setzen wir einen großen inneren Widerstand entgegen. Fakten dagegen, die es zu bestätigen scheinen, übernehmen wir auch gerne ungeprüft.

Wer Fakten präsentiert, die einem herrschenden Konsens widersprechen, wird gern selbst in Zweifel gezogen. Das kann skurrile Formen annehmen, wie ich selbst einige Male erlebt habe: 

Lieber keine Fakten

Nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab leitete der SPD-Parteivorstand 2010 ein Ausschlussverfahren gegen mich ein, weil ich dort den Zusammenhang von Bildungsleistung, Demographie und Einwanderung analysiert hatte. Das Verfahren scheiterte, weil die von mir genannten Fakten Bestand hatten und ihre Interpretation zulässig war.

Im Dezember 2018 hat der SPD-Parteivorstand wegen meines Buches Feindliche Übernahme erneut ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet, weil ich mich dort kritisch mit den Gefahren des politischen Islam auseinandersetze. Auch dieses Verfahren wird erneut scheitern, denn an den Fakten ist nicht zu rütteln, und die Analyse ist sachlich und frei von Feindseligkeit.

Da ich oft nicht auf der Linie des politischen und publizistischen Mainstreams liege, erlebe ich immer wieder, dass die von mir genannten Fakten abgestritten oder aber ignoriert werden. Exemplarisch war Angela Merkels Bemerkung im September 2010, sie habe Deutschland schafft sich ab nicht gelesen und habe dies auch künftig nicht vor. Immerhin ist mir die überwiegend kritische Haltung in Politik und Medien ein Ansporn, bei der Wiedergabe und Analyse von Fakten möglichst sorgfältig vorzugehen.

Anders geht es jenen Autoren und Teilnehmern an öffentlichen Debatten, die auf der Woge des politisch korrekten politischen und publizistischen Mainstreams schwimmen. Wenn die „richtige" Geschichte erzählt wird, schwindet offenbar der Impuls, die Faktenbasis kritisch zu prüfen. Im Gegenteil, die Chance auf öffentliche Auszeichnungen scheint sogar zu steigen, wenn gezielte Erfindungen die Schlüssigkeit und den lehrhaften Charakter der Erzählung, Reportage oder politischen Einlassung verstärken. Dazu drei Beispiele aus jüngster Zeit:

Die Auschwitz-Rede von Walter Hallstein

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bekam 2017 für seinen Brüsselroman Die Hauptstadt den deutschen Buchpreis. Menasse ist ein begeisterter Europäer und möchte, dass sich die Nationalstaaten im Prozess der europäischen Integration auflösen. Das integrierte Europa ist für ihn ein moralisches Projekt, um die Wiederholung eines Ereignisses wie den Holocaust zu vermeiden. In seinem Buch spielt eine Rede eine Rolle, die der erste Kommissionspräsident der EWG Walter Hallstein 1958 als Antrittsrede in Auschwitz hielt. In vielen öffentlichen Auftritten wiederholte Menasse diese Behauptung als feststehende Tatsache. Diese Rede hat es aber nie gegeben. Wie erst jetzt herauskam, war sie eine freie Erfindung des Autors. Menasse sah offenbar seine Geschichtsfälschung durch den höheren moralischen Zweck gerechtfertigt.

Die erfundenen Reportagen des Claas Relotius

Am 19. Dezember 2018 wurde bekannt, dass der mehrfach preisgekrönte Spiegel-Redakteur Claas Relotius seit vielen Jahren in großem Umfang Reportagen gefälscht und mit teilweise frei erfundenen Fakten angereichert hat. Die Erfindungen waren so angelegt, dass sie die Tendenz der Geschichten unterstrichen und ihnen jenen eindringlichen, poetischen Charakter gaben, der zu den wiederholten Auszeichnungen führte. Alle diese Geschichten schwammen im politischen Mainstream, wenn sie z.B. die charakterlichen Defizite von Trump-Wählern herausarbeiteten oder das berührende Schicksal eines syrischen Flüchtlingsjungen schilderten.

Der Zahlensalat des Arbeitgeberpräsidenten

Am 14. Dezember 2018 zitierte der Spiegel den Arbeitgeberpräsidenten Ingo Kramer mit der Aussage, die Integration der Flüchtlinge laufe besser als erwartet, Angela Merkel habe mit ihrem Satz „Wir schaffen das" recht behalten. „Von mehr als einer Million Menschen, die vor allem seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, haben heute bald 400.000 einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Ich bin selbst überrascht, dass das so schnell geht."

Diese Aussagen wurden von den deutschen Medien in den Tagen vor Weihnachten vielfältig zitiert und niemals kritisch hinterfragt. Tatsächlich zeigt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit folgendes Bild:

Ende 2018 gab es lt. Ausländerzentralregister 1,9 Mio. Schutzsuchende in Deutschland.

Aus den Hauptherkunftsländern waren im Oktober 2018 298.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 95.000 mehr als ein Jahr zuvor. Das sind rd. 15 Prozent der Schutzsuchenden.

Unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gab es 28.000 Auszubildende., das sind 1,5 % der Geflüchteten

71.000 gingen einer geringfügigen Beschäftigung nach.

Die große Masse der Geflüchteten verharrt also in Sozialtransfers, und die Zahl der jährlich neu hinzukommenden Asylbewerber ist höher als der Beschäftigungszuwachs. Der deutsche Arbeitgeberpräsident hat Fake-News verbreitet, und niemand in Medien oder Politik rechnet ihm das vor, weil er eine politisch gewünschte Erzählung bedient.

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HaJo Wolf / 15.01.2019

@Anders Dairie: Ihrem Dank möchte ich mich anschließen! Ohne die Achse wüssten wir vieles nicht und würden vermutlich sogar auf die “Meldungen” des MSM hereinfallen. Ich gebe zu, dass erst die Achse mich dazu bewegt hat, jede MSM-Meldung skeptisch zu prüfen, bestimmte Medien gar nicht mehr zu lesen (Spiegel, Süddeutsche) und Informationen aus vielen Quellen zusammen zu tragen. Das ist mühsamer als 15 Min Tagesschau, verursacht aber nicht 15 Min lang Brechreiz und hat als Ergebnis eine andere, reale Sicht der Dinge.

HaJo Wolf / 15.01.2019

@S.Salochin: Sie schreiben u.a. “...sind nicht aber die restlose Abschaffung der Kernkraft, die Errettung von Millionen Syrern, die foranschreitende Entmilitarisierung Deutschlands auch Wunder, an die kein “vernünftiger Mensch” geglaubt hätte?” - Sorry, aber wer die totale Abschaffung der Kernkraft und die Entmilitarisierung Deutschlands gutheißt (und das ist Ihren Ausführungen zu entnehmen), der ist wahrlich kein “vernünftiger” Mensch. Beides hat katastrophale Folgen und um dies abzusehen, muss ich nicht erst ein paar Generationen warten - dazu reicht gesunder Menschenverstand. Und woher Sie die “Millionen Syrer” nehmen, die wir “gerettet” haben sollen, das bleibt auch Ihr Geheimnis. Die meisten der Migranten sind schlicht und einfach Wirtschaftsflüchtlinge, von denen der größte Teil sich wohlig in die von unseren Steuergeldern finanzierte soziale Hängematte fallen lässt, weder willens noch in der Lage, durch Arbeit für das Auskommen zu sorgen. Wozu auch, es gibt Hartz, Wohngeld, Kindergeld, kostenfreie Heilfürsorge… Ich hoffe für Sie und die Kinder, dass Sie keinen Nachwuchs haben, denn die werden Ihnen, so Sie alt genug werden,  eines Tages Ihre Meinung kräftig um die Ohren hauen. Träumen Sie weiter. Noch dürfen Sie das in (noch) unserem Land…

H.Schmidt / 15.01.2019

Ich sage nur eins zu dem Fall Sarrazin: Bitte, treten Sie endlich aus diesem Kommunisten-Sozen-Verein aus! Sie haben es nicht verdient sich mit diesen Idioten täglich auseinander zu setzen und rechtfertigen zu müssen. Treten Sie endlich aus Herr Sarrazin! Zeigen Sie diesen Hohlköpfen endlich den Mittelfinger.

Marion Sönnichsen / 15.01.2019

Danke Herr Sarrazin. Habe gerade auch ihren hervorragenden Beitrag „Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“, gelesen. Die SPD kann froh sein, noch so einen Sozialdemokraten wie Sie in ihren Reihen zu haben. Wie viele hat sie denn noch? Sie und vielleicht noch vier, fünf, sechs (Frau Däubler-Gmelin kann ich nicht einschätzen)? Mit Helmut Schmidt starb irgendwie die Deutsche Sozialdemokratie. Sie Handvoll Übriggebliebenen halten noch die Stellung. Die anderen, die sich fälschlicherweise Sozialdemokraten nennen, wirken da nur noch wie Sargnägel. Der Letzte macht dann bitte das Licht aus.

Klaus Peter / 15.01.2019

Tja verehrter Herr Sarrazin, vielleicht sollten Sie anfangen, so zu schreiben, wie ein gewisser C. Relotius. Dann wären diese lästigen Parteiausschlussverfahren endgültig passe und ein neues Wandregal für die zahlreichen Auszeichnungen müsste her. Alternative Fakten und Haltungs-Journalismus sind heute gefragt - nicht die weniger hilfreiche Wahrheit.

R. Nicolaisen / 15.01.2019

Warum haben eigentlich so manche nicht verstanden, daß S.Salochin satirisch verstanden werden will? Er war wohl nicht drastisch genug?

Karsten Dörre / 15.01.2019

Sehr geehrter Herr Sarrazin, eine Anmerkung zum “Zahlensalat des Arbeitgeberpräsidenten”. Beim zitierten “heute bald” kann ich nachvollziehen, dass der Zahlen- und Zeitrastelli Kramer von sich überrascht war, solch semantisches Kunststück erfunden zu haben.

Michael Schmitz / 15.01.2019

Da ich das Buch “Die Hauptstadt” nicht kenne, bin ich erst durch den obigen Artikel auf die angebliche Hallstein-Rede gestoßen. Mein erster, spontaner Gedanke war: Weshalb sollte ein Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Westeuropa!) im Jahre 1958 - also zu frostigen Zeiten des Kalten Krieges - in Polen (Osteuropa! Nein, besser: Ostblock!) eine “Antrittsrede” halten? Ein Repräsentant des kapitalistischen Westens im kommunistischen Osten? Wie? Wieso?! Da ich das Buch nicht gelesen habe, sollte ich nicht den “Klugscheißer” rauskehren…. aber wie gestaltet man diese Geschichte, welchen Kontext erzeugt man, damit das überhaupt jemand für historische Realität hält? Könnte es wohl so sein, dass wir Menschen heute bereitwillig intellektuell Unverdauliches einfach viel zu schnell zu schlucken bereit sind? Oder ist es einfach ein Zeichen für eine in weiten Teilen abhanden gekommene Allgemeinbildung? Oder entgeht MIR hier gerade etwas?

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