Günter Ederer / 11.05.2013 / 09:41 / 0 / Seite ausdrucken

Zuwanderung: Stehlen wir Europas Süden die Zukunft?

Da standen sie in ihren schlabbrigen Unterhosen und ziemlich ausgemergelten Körpern, jeweils fünf in einer Reihe. Vor ihnen deutsche Ärzte mit einem Formular das die Kriterien auflistete, nach denen sie die Männer zu beurteilen hatten: Fettpolster, Muskulatur, Kaufähigkeit. Sie prüften den Bizeps am Oberarm oder zogen die Oberlippe hoch, damit sie besser das Gebiss sehen konnten. Fiel die Selektion zur Zufriedenheit der Ärzte aus, wurde nach einer weiteren Urin- und Blutprobe das Okay für den Transport erteilt. Szenen aus der Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes in Istanbul 1970, die ich in einem Beitrag für das ZDF über die Anwerbung von Gastarbeitern erlebte. So hießen sie damals noch.

Kein moralischer Aufschrei folgte der Sendung. Im Gegenteil: Die deutsche Wirtschaft gierte nach Arbeitskräften. Da störten solche Berichte. Der Export brummte. Die Gewerkschaften schafften es, die „Neuen“ fast zu 100 Prozent als Mitglieder zu übernehmen. Das erhöhte den Organisationsgrad. Der Stolz der Nation auf ihre Stärke ließ alle Zweifel an diesem Menschenhandel verstummen. Niemand wollte hören, dass dieser Boom nicht zuletzt auf einer völlig unterbewerteten Deutschen Mark beruhte. Die „Wirtschaft“ und die ihr nahe stehenden Parteien wehrten sich mit allen Mitteln gegen die längst marktgerechte Aufwertung der Mark.

Mit dem Ölpreisschock 1973 platzte das aufgeblasene Wunder und seither haben wir es mit einer wachsenden Zahl arbeitsloser Migranten zu tun, wie sie heute korrekt benannt werden. Von den anderen Integrationsproblemen – wie den Konflikten Verfassung und Islam, Staatsangehörigkeit, Familienzusammenführung und Ghettobildung – ganz zu schweigen.

Irgendwie aber kommen mir die Zeitungsmeldungen von dieser Woche bekannt vor. Sie erinnern mich an dieselbe Ignoranz und Euphorie mit der damals der Menschenhandel in Gang gesetzt wurde, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Da wird stolz verkündet, dass wir 2012 soviel Einwanderer hatten wie seit 1995 nicht mehr. Über eine Million Menschen sind nach Deutschland gekommen, und damit 369 09000 mehr als wieder fortgezogen sind. Dies, so wird uns erzählt, sei unserem robusten Arbeitsmarkt zu verdanken, der den Jugendlichen in Südeuropa eine Chance gebe. Je mehr kämen, desto besser für Deutschland. Deshalb müssten wir eine Willkommenskultur entwickeln.

Da wird schon wieder nicht nachgedacht, schon wieder werden die kurzfristigen Bedürfnisse der Wirtschaft und die langfristigen Träumereien der Gutmenschen befriedigt. Die Realität ist viel brutaler und hat nichts mit Fakten zu tun, die den deutschen Hochmut rechtfertigen.
Wie zu Zeiten der Massenanwerbung der Gastarbeiter müsste Deutschland seine Währung aufwerten, die krisengeschüttelten Südeuropäer und Frankreich hingegen die ihrigen abwerten. Nur:_Innerhalb des Euro geht das nicht. Also sind die Südeuropäer zu teuer, und unsere Exporte sind zu billig. Die Wirtschaft warnt vor einem Zerfall des Euro, weil dann eine Aufwertung in Deutschland sofort die Folge wäre. In der Euro-Debatte geht es nicht um die Zukunft Europas, es geht um einen Wettbewerbsvorteil für Deutschland, der nicht mehr der Marktsituation entspricht. Den Preis dafür zahlen die deutschen Sparer, die schleichend enteignet, und die Südeuropäer, die auf mindestens ein Jahrzehnt von Schulden erdrückt werden.
Aber noch schlimmer sind die Folgen für die zukünftige Gesellschaft dieser Staaten. Wir brüsten uns damit, dass eine gut ausgebildete Jugend von Süden nach Norden wandert. Aber stehlen wir damit diesen Ländern nicht die Zukunft?

Wir sagen: Unsere Rohstoffe sind zwischen den beiden Ohren, ist unsere Bildung. Andere haben wir nicht. Aber trifft dies nicht auch für Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und alle anderen Ost- und Südeuropäer zu. Zwingen wir sie nicht gerade, uns ihre Rohstoffe, die Jugend, zu Dumpingpreisen zu überlassen?

Nein, der Euro ist kein Friedensprojekt, er treibt Europa auseinander und seine Verteidiger sind unehrliche Egoisten.

Zuerst erschienen in der Fuldaer Zeitung.

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