Thilo Schneider / 28.05.2022 / 12:00 / Foto: Timo Raab / 28 / Seite ausdrucken

Zum Tode von Andy Fletcher

Andy „Fletch“ Fletcher, der Keyboarder von Depeche Mode, ist überraschend mit 60 gestorben. Er war das Herz der Band – und einer der Heroen meiner Jugend. 

Im Jahre 1980 gründeten vier junge Leute aus Basildon (Essex) eine Band. Das macht man so, als junger Leut, der sich für Musik begeistert und berühmt werden will. Diese vier jungen Leute gehören zu denen, die den Musik-Olymp erklommen und den Soundtrack der 80er und 90er Jahre schrieben. Vince Clarke, Martin Gore, Andrew Fletcher und Dave Gahan gründeten Depeche Mode. 

Zeichnete Vince Clarke noch verantwortlich für die erste LP „Speak and Spell“ mit dem bis heute hymnischen „Just can´t get enough“, so übernahm Martin Gore die künstlerische Leitung, als Vince Clarke sich von der Gruppe löste und mit den Projekten Yazoo und Erasure (und einigen anderen) lieber auf Solo- und Duett-Pfaden wanderte. Beide – sowohl Depeche Mode als auch Vince Clarke – profitierten vom Ausscheiden Clarkes. Gore löste mit dem romantischen zweiten Album „A broken frame“ ein, was Clarke mit „Speak an Spell“ versprochen hatte. 

Dave Gahan war fortan der Frontmann von Depeche Mode, Gore war der Kopf, aber Andrew Fletcher war das Herz. Er war der Unscheinbare, der Vernünftige, der „der eben auch dabei war“. In Konzerten war Fletcher eingemauert von seinen Synthesizern und war derjenige, der organisatorisch und sozial die „Firma“ Depeche Mode zusammenhielt. In meinen jungen Jahren nannten wir Leute wie Fletcher „den, dem der Proberaum gehört“, den man eben auch mitnahm. Musikalisch konnte Fletcher zum Style von Depeche Mode wenig beitragen – aber er war die Klammer zwischen den Diven Gore und Gahan, die im Jahresrhythmus „alles hinschmeißen“ wollten. Fletcher war der Langweilige, der Grundsolide, der weder die Drogenexzesse eines Gahan noch die Multisexualität eines Gore mitmachte. Fletcher war seit 1991 verheiratet und Vater zweier Kinder. Biedere, heterosexuelle Mittelschicht, und während Gore neue Sounds und Stile oder Instrumente und Gahan neue Drogen ausprobierte, war Fletcher mehr der Typ „Excel-Tabelle über Ein- und Ausgaben“. 

„Fletch“ hielt die Band zusammen

Das Verdienst von Fletcher an Depeche Mode dürfte also in seiner Stärke liegen, die Band überhaupt so lange durch ihre erfolgreichen, aber auch weniger erfolgreichen Zeiten zusammengehalten zu haben. Aber ohne den klassischen Buchhalter überstehen eben große Bands keine stürmischen Gezeiten- und Modewechsel. Fletcher reiht sich damit in die unterschätzte Riege der Organisatoren wie beispielsweise Ron Wood bei den Rolling Stones ein. 

Depeche Mode hat bis zum heutigen Tag 14 Alben und mehrere Hits veröffentlicht. Von gloriosen Alben wie „Music for the Masses“ bis hin zum unterirdisch schlechten „Delta Machine“. Man muss die Musik von Depeche Mode nicht mögen, diesen klinischen, fast pathologischen Sound, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Depeche Mode neben anderen Bands wie The Cure, OMD, den Pet Shop Boys oder Utravox und Kraftwerk maßgeblich die Musik der 80er Jahre geprägt haben. Und Andrew Fletcher hatte tatsächlich einen nicht unerheblichen Anteil daran, mag er bei Depeche Mode auch nur die 23. Synthi-Geige im Hintergrund programmiert haben. 

Andrew Fletcher starb am 26. Mai 2022 in seinem Haus in England eines natürlichen Todes. Er wurde 60 Jahre alt. Mit ihm verliert Depeche Mode laut Pressemitteilung „ein wahres Herz aus Gold“ und „war immer da, wenn man Unterstützung, eine lebhafte Unterhaltung, ein Lachen oder ein kaltes Bier brauchte“. Für mich geht damit einer der Heroen meiner Jugend. Enjoy the silence. 

(Weitere depeche-modische Artikel des Autors gibt´s unter www.politticker.de

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

 

Foto: Timo Raab

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Tina Kaps / 28.05.2022

Um es mit dem letzten DELTA-MACHINE-Song zu sagen: Goodbye.

Sabine Heinrich / 28.05.2022

So viel Ironie, @ Franz Klar - also wirklich! Aber Hannes Wader und Joan Baez haben viele schöne Lieder geschrieben; der nölende, klagende, koksende Kommunist m.E. eher nicht. Eine LP von ihm sucht man in meiner Plattensammlung vergeblich. Ich habe ihn im Jahr der Fußball- WM (2006) live beim TFF in Rudolstadt erlebt. Ganz D war euphorisch, es herrschte eine glückliche, fröhliche, ausgelassene Stimmung - fantastisch - da läuft mir noch immer eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich daran denke! Und was tat der gute Herr Wecker? Er beklagte sich darüber, dass allüberall Deutschlandfahnen und -fähnchen zu sehen waren. Er bekam dafür nicht viel Beifall - immerhin!  - Andy Fletcher “ist überraschend mit 60 gestorben.” Da drängte sich mir sofort eine Frage/ein Gedanke auf ...und sicher nicht nur mir…

Benedikt Diller / 28.05.2022

Ein schöner Nachruf auf den “Keeper” von Depeche Mode. Dass man von ihren 14 Alben die letzten 4 getrost vergessen kann: Geschenkt! Sie haben davor 10 gute bis großartige Alben veröffentlicht. Wie viele Bands können das schon von sich sagen?

Ralf Pöhling / 28.05.2022

Depeche Mode war nie meine Hausnummer. Ich komme weniger aus der Synthiecke, als vielmehr aus der Ecke der vier- und sechssaitigen Eierschneider und der “alle-Knöppe-auf-zehn-Fraktion”. Aber es ist schon überaus bedauerlich zu sehen, dass da eine ganze Generation an Musikern langsam wegbricht, die die musikalische Welt entscheidend geprägt hat. Viele junge Musiker von heute wissen ja nicht einmal mehr, wessen Vorreiterrolle sie da folgen, weil dessen Werk längst ins allgemeine musikalische Kulturgut übergegangen ist. Aber zumindest lebt es dort weiter.

R.Camper / 28.05.2022

Mal ne “blöde” Frage, war er Corona geimpft? Es fällt auf wieviel Menschen jetzt plötzlich sterben, in einem Alter, wo man eigentlich den Sensenmann noch nicht erwartet.

Kutscher, A. Werner / 28.05.2022

Und in China ist ein Sack Reis umgefallen, Bumm! Habe nie verstanden wie man diese Synthiepoptruppe mit ihrer “Tuckenmusik” und ihrem ebensolchen Gebahren so hoch jubeln konnte, aber die Geschmäcker sind ja zum Glück verschieden. Und ja, ein, zwei Songs von denen waren vielleicht auch ganz passabel. Bon Scott, den ich noch live erleben durfte, ist nur 33 Jahre alt geworden, das war mal tragisch. Und der große Garry Moore wurde nicht mal 60, das war ein Verlust. Und Willy de Ville ist auch viel zu früh von uns gegangen.

Dirk Weidner / 28.05.2022

Wenn Sie die Geschichte von Depeche Mode Revue passieren lassen, sollten Sie die Bedeutung von Alan Wilder, der 1982 dszu kam, nicht unerwähnt lassen. Sein Ausstieg 1995 war nicht unbedingt gut für die Band. Wobei man als Fan gleichwohl froh sein durfte, dass sie damals als Trio die Kurve bekommen und die Band überlebt hatte. Ohne “Fletch” wiederum wäre das wohl nicht so gekommen. Er war wahrscheinlich einer der unmusikalischsten Berufsmusiker (eben eher der bodenständige mit den Excel Tabelle). Und doch hätte es ohne ihn diese Band so lange sicher nicht gegeben. Mit 60 ein zu früher Tod. Erst Vangelis, dann Klaus Schulze und jetzt the one and only Mr Andrew Fletch Fletcher.

Bernd Ackermann / 28.05.2022

“...dass Depeche Mode neben anderen Bands wie The Cure, OMD, den Pet Shop Boys oder Ultravox und Kraftwerk maßgeblich die Musik der 80er Jahre geprägt haben” - damit haben Sie das Problem der 80er Jahre gut beschrieben. In der Aufzählung fehlen noch Wham!, Culture Club, Kajagoogoo und der unvermeidliche Bono mit U2. Als die britische Automobilindustrie abnippelte haben viele junge Leute auf der Insel beschlossen, dass sie - statt einen lausigen Morris Marina bei British Elend zusammenzuschrauben - auch Musik machen könnten. Das Ergebnis war dann das musikalische Äquivalent eines Morris Marina. Das lässt einen doch aus den Ohren bluten. Das Gedudel dieser Bands ging komplett an mir vorbei, irgendwie haben wir wohl in verschiedenen Zeiten gelebt.

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