Es war nur ein kurzes, harmloses Wort. Trotzdem irritierte es mich. Über mein Porträt eines Schauspielers, vor Jahren in einem Hamburger Magazin erschienen, hatte der zuständige Redakteur diesen Vorspann gesetzt: „Er kann alles: Spießer, Gangster, ‚Tatort’-Kommissar, Landarzt, Triebtäter. Axel Milberg ist einer der besten und vielseitigsten Schauspieler, die wir haben.“
Inhaltlich war das korrekt; es spiegelte den Tenor des Stückes. Wer aber waren „wir“? Der Redakteur und ich? Alle Mitglieder der Redaktion, in der ich damals arbeitete? Oder gar die gesamte Theater-, Film- und Fernsehgemeinde, gesetzt den Fall, dass es so eine Gemeinde überhaupt gibt? Denkbar immerhin, dass der Schauspieler bei manchen Leuten nicht besonders gut ankam. Möglicherweise besaß er sogar regelrechte Verächter, wie alle prononcierten Mimen. Jedenfalls fand ich „wir“ in einem redaktionellen Vorspann unangebracht. Irgendwie anfiezerisch, zudem manipulativ. Journalisten sollten nicht den Schulterschluss mit Lesern üben. Vielleicht ist das Old School, doch so habe ich den Job nun mal gelernt.
„Gerade wir als Deutsche...“
Das W-Wort war früher omnipräsent im Juste Milieu. „Gerade wir als Deutsche...“, so ging ein „Zeit“-typisches Mantra, hätten die Aufgabe, jetzt endlich richtig zu machen, was wir einst falsch gemacht hatten. Aus diesem Regal konnte sich jeder was rauspicken, nach eigener Interessenlage. Natürlich griffen auch die „kritischen Freunde Israels“ freudig zu. Gerade wir als Deutsche seien besonders verpflichtet zu verhindern, dass die Juden mit den Palästinensern das machen, was wir mit den Juden... Erinnern Sie sich? Die Nummer „Wir Deutsche als Israels Bewährungshelfer“ ist übrigens weiterhin freigeschaltet.
Im „Wörterbuch des Gutmenschen“ von 1994, herausgegeben von Klaus Bittermann und Gerhard Henschel, gab es für derlei Megastuss die adäquate Kopfnuss: „Gerade wir als Deutsche sind verpflichtet, die Klappe zu halten.“
Mittlerweile stolpert man in der Medientrümmerlandschaft auf Schritt und Tritt über das offenbar zwecks Identitätsstiftung vielbenutzte Pronomen. Nicht bloß im Deppensegment, dessen Verkäufer von jeher per „wir“ und „uns“ Volksnähe simulieren („Bild“ auf dem vorerst letzten Höhepunkt des Griechenlandfiaskos: „Ihr griecht nix von uns!“). Jetzt kommen auch Blätter wie die „Neue Osnabrücker Zeitung“ mit dem Wir-Gefühl um die Ecke („Was wir an den Briten lieben und was uns nervt“). Und die Nachrichtensenderattrappe „n-tv“ postuliert auf ihrer Website allen Ernstes: „Wir brauchen die Briten“.
„Ich“ brauche „die“ Briten ungefähr so sehr wie diese mich
Wirklich? Wofür genau? „Ich“ brauche „die“ Briten ungefähr so sehr wie diese mich. Möglichweise würden die Briten und ich, wenn wir mal gemeinsam nachdächten, zu dem Schluss gelangen, dass wir einander doch nicht so dringend benötigen, dass dafür der Verbleib Großbritanniens in der EU unabdingbar ist?
Nahezu inflationär hat sich das Wir in den Digitalangeboten der Medien vermehrt. Nach jedem Terroranschlag, jedem Absturz oder Abschuss eines Flugzeugs, jedem sonstigen Großereignis der schaurigen Art bringen „SZ“, „Spiegel“, „Welt“ oder „Hannoversche Allgemeine“ alsbald eine Checkliste unter dem Rubrum „Was wir über XY wissen – und was nicht“. Schleierhaft, wer hier was weiß beziehungsweise nicht weiß. Bezieht sich das Wir auf den aktuellen Kenntnisstand der Redaktionen? Auf die Nachrichtenagenturen und die ausländischen Blätter, von denen sie abschreiben? Auf klandestine Quellen, die nicht genannt werden wollen?
Fest steht bloß dies: so viel WIR war nie.
Warum? Da keimt der Verdacht, der rapide Glaubwürdigkeitsverlust vieler Medien habe ihre Erzeuger dazu angestiftet, die Leser semantisch unterzuhaken. Um sie „mitzunehmen“ respektive „abzuholen“, wie es im rotgrünen Quarksprech heißt. Das angestrebte Wir-Gefühl wird in der Sozialpsychologie „Gruppenkohäsion“ genannt. Es diene unter anderem, glauben Forscher, der Erhöhung des Selbstwertgefühls der eigenen Kohorte.
„Wir schaffen das!“ ist ein Remake alter Durchhalteparolen
Dieses Gefühl hat in der Tat inzwischen reichlich Luft nach oben. Wer regelmäßig Mediendienste liest und gelegentlich an brancheninternen Diskussionen teilnimmt, ahnt: die Zunft der Medienschaffenden ist vom Vorwurf, „Lügenpresse“ zu betreiben, innerlich viel härter angefasst, als sie es in manchmal trotzigen Kommentaren nach außen darstellt. Zumal das Pegida-Geschrei nur der Anfang war. Von ganz links kommen längst ähnliche Töne. Da existiert wohl tatsächlich eine Art Querfront.
Daran wird auch das W-Wort nichts ändern, so oft man es auch bemüht. Es gehört sowieso auf den Müll. Der dreiste Versuch, eine in Grundfragen durchaus (und zum Glück) nicht immer einige Gesellschaft durch mediale Meinungströten gleichrichten zu wollen, funktioniert allenfalls eine Zeit lang. Erinnerung: Als Merkel, Queen of Missions Impossible, ihr berüchtigtes „Wir schaffen das!“ sprach, handelte es sich nur um ein Remake jener anderen Durchhalteparole, die sich ebenfalls Merkelscher Politik verdankt. Diese Parole wird seit etlichen Jahren vom fettsubventionierten ökologisch-industriellen Komplex ausgegeben: „Wir schaffen die Energiewende – wir müssen nur wollen.“
Die Welt als Wille und Wir-Vorstellung. Kein Wunder, dass ein Juxbuch über alltägliche Zumutungen, erschienen im vergangenen Herbst, sich unerwartet zum Bestseller gemausert hat. Titel: „Einen Scheiß muss ich“.